Gerechte Barmherzigkeit
30. So C: Lk 18,9-14
I
Derzeit zieht sich ein veritabler Streit durch weite Kreise der Kirche. Angezettelt hat ihn kein Geringerer als Papst Franziskus. Der Streit hat vordergründig zu tun mit einer Frage der Ehemoral. Er hat schon die Doppelsynode über Ehe und Familie 2015/16 beherrscht und wurde durch das nachsynodale Schreiben des Papstes Amoris laetitia nicht beruhigt, geschweige denn gelöst, sondern erst recht befeuert: Es geht um die Frage der Wiederverheiratung nach einer Scheidung, konkret, ob Menschen in einer solchen Partnerschaft die Sakramente empfangen dürfen oder nicht.
II
Das bisherige Kirchenrecht der lateinischen Westkirche sagt dazu – mit einer Ausnahme, dem Zusammenleben der Ehepaare unter Verzicht auf Sexualität – „nein“. Aber Papst Franziskus gehört zu denen, die diesbezüglich schon länger eine Änderung der Praxis befürworten, und vor allem hat er die Frage viel tiefer als alle anderen in eine fundamentale Frage nach Gott eingebettet, nämlich wie denn in Gott Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammengehören. Genau das aber hat den Streit erst so richtig in Fahrt gebracht.
III
Gewundert wird es Franziskus kaum haben. Denn der Streit um diese Frage ist uralt. Zum ersten Mal begegnet er bereits mehrfach im Neuen Testament und so auch im heutigen Evangelium. Weil es in dieser Passage nicht um den Konkretfall von Ehe und Scheidung selbst geht, lässt sich das Grundsätzliche besser wahrnehmen, das da zur Debatte steht. Und nicht zufällig fasst Jesus seine Auseinandersetzung mit der Frage in ein Gleichnis. Gleichnisse wollen bekanntlich nicht informieren oder belehren, sondern sie wollen die Hörer- oder Leserschaft treffen, also emotional in die Sache verstricken und so zu einer Veränderung des Denkens und Handelns motivieren.
Da war Jesus an einige Leute geraten, die sich ihre Gerechtigkeit zugutehielten. „Gerechtigkeit“ heißt in unserer Sprache von heute: Gott und dem Leben gerecht werden. Gerechtigkeit ist absolut nichts Schlechtes. Auch Jesus fordert sie. Aber sie wird schlecht, wenn einer damit hausieren geht. Denn das heißt immer so viel wie: sich etwas darauf einbilden, ein anständiger Mensch zu sein und andere, die das scheinbar oder tatsächlich nicht sind, zu verachten. So manche und mancher von Ihnen wird aus schmerzlicher eigener Erfahrung wissen, wie sich das anfühlt, von anderen so behandelt zu werden. Und ob einer so mit seiner Gerechtigkeit umgeht, ist alles andere als nur eine Frage des Takts. Denn: Das Selbstvertrauen, das er damit demonstriert, hat immer und unausweichlich einen Preis: das Gottvertrauen. Nur um dessen Drangabe kann einer ernsthaft meinen, aus sich und kraft seines Tuns, auch seines frommen Tuns, ein Gerechter zu sein.
Um das klarzumachen, erzählt Jesus folgendes Gleichnis: Zwei Männer gehen in den Tempel, um zu beten. Ein Pharisäer und ein Zöllner. Den Pharisäern stand Jesus – anders als wir gern unterstellen – sehr nahe. Denn die Pharisäer waren im Judentum der Zeit Jesu diejenige Partei, die es ernst meinte mit Gottes Gebot; die gegen Laschheit kämpfte. Die Pharisäer waren Reformer. Und das tat Jesus auch. Aber eines tritt hinzu, was Jesu schärfste Kritik herausfordert: Der Pharisäer im Gleichnis bespiegelt sich in seinem Gebet. Offenkundig gefällt er sich selbst in seinem Anderssein als die Räuber, Betrüger, Ehebrecher, gefällt er sich in seinem religiösen Fasten und seiner Spenderbereitschaft. Das aber heißt: Er betet gar nicht. Denn Beten heißt doch: Reden mit Gott. Er redet – so steht es wörtlich im Evangelium – zu sich selbst. Sein Gebet ist nur scheinbar Gebet. In Wirklichkeit führt er ein Selbstgespräch. Und das heißt gegen den äußeren Anschein: Er ist sich selbst genug. Er braucht keinen Gott.
Ihm steht der Zöllner gegenüber. Zöllner waren damals die Widerlinge in Person. Verräter und Kollaborateure der verhassten römischen Besatzungsmacht in Israel. Blutsauger, die an den Zollschranken den Leuten abpressten, was immer nur ging. Einer von ihnen kommt auch, um zu beten. Er weiß, wie es um ihn steht. Darum schlägt er sich an die Brust. Das war nicht nur eine Buß-, es war eine Verzweiflungsgeste. Denn umzukehren hätte für ihn bedeutet: Allen Geschädigten zurückzuerstatten, was er ihnen an der Zollstation abgenommen hat – plus 20% Zins für die Nutznießung des zu Unrecht Erworbenen, so galt das damals. Und wie hätte er die dafür nötige Summe aufbringen sollen? Ganz abgesehen davon, dass er gar nicht mehr hätte wissen können, wen er geschädigt hat. Diese doppelte Aussichtslosigkeit hat ihn so illusionslos gemacht, dass er nur noch eines wagte: zu Gott zu flehen, dass er ihm Sünder gnädig sei.
IV
Und Jesus kommentiert, genau dieser Zöllner sei – anders als der Pharisäer – von seinem Gebet als Gerechter heimgegangen. Und warum? Weil er mit dem, was er aussprach, Gott und dem Leben, also auch sich selbst ganz gerecht geworden ist. Er hat absolut nicht mehr auf sich gesetzt – wie der Pharisäer es tat. Er liefert sich Gottes Barmherzigkeit aus. Selbstgerechtigkeit kann das nicht. Ihr fehlt es an der Demut, die dafür nötig ist. Und das ist gnadenlos. Nur, wer nicht auf sich setzt, muss auch nicht an sich verzweifeln. Das ist Gottes Logik. Sie steht quer zu dem, wie wir gewöhnlich über uns denken. Sie trägt. Doch dazu muss man sie anerkennen. Und das kann manchmal schwer sein.
V
Genau das erleben wir derzeit live in dem eingangs erwähnten Streit um die Geschiedenen, die wieder geheiratet haben. Papst Franziskus wirbt darum, beim Umgang mit dieser Frage nicht nur die kirchliche Tradition im Blick zu haben, sondern genauso die Autorität des persönlichen Gewissens hochzuschätzen und die Unterscheidung der Geister walten zu lassen – was eben dazu führen kann, dass im Konkretfall anders zu handeln ist als das allgemeine Gesetz vorderhand vorsieht. Konservative Stimmen wüten dagegen regelrecht und werfen Franziskus einen Bruch mit der kirchlichen Lehrtradition vor, weil er nicht ausschließt, dass es auch in solchen Partnerschaften christlich gesehen Wertvolles geben könne und deswegen unter genauer Abwägung der persönlichen Umstände und in Begleitung durch die zuständigen Seelsorger auch für solche Paare der Empfang der Eucharistie möglich sei. Überdies sehen diese Stimmen durch Amoris laetitia alle kirchlichen Autoritäten von Bischofskonferenzen „bis zum kleinen Pfarrer im Urwald“ verunsichert. Alle Priester, die sich an die bisher geltende Ordnung hielten, könnten gemobbt werden. Einer, der erzkonservative katholische Philosoph Robert Spaemann, sagte wörtlich:
„Das Chaos wurde mit einem Federstrich zum Prinzip erhoben. Das Papst hätte wissen müssen, dass er mit einem solchen Schritt die Kirche spaltet und in Richtung eines Schismas führt.“1
Und deshalb fordert Spaemann Kardinäle, Bischöfe und Priester auf, in ihrem Zuständigkeitsbereich gegen Papst Franziskus die bisherige Ordnung aufrechtzuerhalten – in der Hoffnung, dass ein späteres Pontifikat die ganze Sache wieder auf Linie bringt.
Weil ihm dann die heftige Zustimmung reaktionärer Kreise doch zu heiß wurde, hat Spaemann nachfolgend versucht, die Rede von einem „Bruch“ zu entschärfen. Davon dürfe nur die Rede sein, wenn ein Papst in förmlicher Berufung auf seine Amtsvollmacht etwas sage, was die bisherige Tradition widerrufe. Aber das sei schon dadurch ausgeschlossen, dass Franziskus entgegen einem scharfen „Entweder-Oder“ primär „Vorschläge“ mache, was aber gleichwohl nach Spaemanns Überzeugung der biblischen Tradition zuinnerst widerspreche. So versucht er weiterhin, Recht zu haben, der Sache gerecht zu werden und schlussendlich der Gerechte zu sein, der kein Jota vom Evangelium abweicht.
VI
Aber Spaemann, der doch die Bibel zu lesen weiß, müsste sich doch einmal nur fragen: Warum stößt sich niemand daran, dass Jesus gesagt hat, keiner seiner Jünger solle sich Meister oder Vater oder Lehrer nennen lassen – und doch wimmelt es in der Kirchengeschichte nur so von Meistern, Lehrern und Vätern, Patres, und heiligen Vätern sogar (vgl. Mt 23, 8-10). Oder dass jemand, wenn ihn seine Hand, sein Fuß oder sein Auge zum Bösen verführe, er oder sie diesen Körperteil ausreißen solle, weil es besser sei, verstümmelt ins Himmelreich zu kommen, als körperlich unversehrt in die Hölle geworfen zu werden (vgl. Mt 18, 8-9) – und trotzdem hat schon die frühe Kirche selbst den großen Origenes verdammt, weil er sich im Kampf gegen die Versuchungen seiner Sinnlichkeit entmannt haben soll. Oder nehmen wir das Jesus-Wort, dass keiner sein Jünger sein kann, der nicht auf seinen ganzen Besitz verzichte – und daneben dann prächtige bischöfliche Palazzi (nicht nur in Limburg), die Domschatzkammern und so manche elegante Professorenvilla auch. Da fällt dann allen immer schnell eine allegorische, sinnbildliche Deutung ein. Aber beim jesuanischen Scheidungsverbot hat auf einmal alles in einem strikten Buchstabensinn zu gelten – oft bis hin zum Versuch, auch noch die matthäische Unzuchtsklausel, eine frühkirchliche Ausnahmeregelung auszuhebeln.
VI
Ich kann mir nicht helfen: Irgendwie erinnert mich das alles an die buchstäbliche Selbst-Gerechtigkeit des Pharisäers aus dem heutigen Evangelium. Im Innersten steckt dahinter in der Tat das spannungsgeladene Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Das kommt übrigens nicht erst heute wieder durch die Gesten und Worte des gegenwärtigen Papstes zutage. Darüber wurde vor gut 900 Jahren auch schon einmal heftig gestritten. Im Werk des Vaters, der Scholastik, des Hl. Anselms von Canterbury hat dieser Streit tiefe Spuren hinterlassen. In seinem Verlauf schrieb Anselm an einer Stelle:
„Die Barmherzigkeit Gottes aber, die dir verloren zu gehen schien,
als wir die Gerechtigkeit Gottes und die Sünde des Menschen betrachteten, haben wir so groß und so übereinstimmend mit der Gerechtigkeit gefunden, dass sie größer und gerechter nicht gedacht werden kann.
Denn was könnte barmherziger gedacht werden,
als wenn zu dem Sünder, der zu ewigen Peinen verurteilt ist
und nicht[s] hat, wodurch er sich daraus befreien könnte, Gott der
Vater spricht:
Nimm meinen Einziggeborenen und gib ihn statt deiner;
Und der Sohn selbst: nimm mich und erlöse dich?“2
Doch warum erbarmt sich Gott des Sünders so sehr, dass der gerechtfertigter nach Hause geht als der sich gerecht dünkende Pharisäer? Weil er sich als Sünder bekannt hat und demütig vor Gott tritt. Dass Gottes Erbarmen gerecht ist, erwirkt das Schuldbekenntnis des Sünders.
Der Dichter Huub Osterhuis hat das Gleiche so gesagt:
Nicht um zu richten
bist du gekommen Gott,
sondern um zu suchen, was verloren ist,
und zu befreien,
was in Schuld und Angst gefangenliegt;
um uns zu retten,
wenn unser Herz uns anklagt.
Nimm uns,
so wie wir hier zugegen sind
mit der ganzen sündigen Vergangenheit der Welt.
Du bist doch größer als unser Herz,
größer als alle Schuld,
du bist der Schöpfer einer neuen Zukunft,
ein Gott der Liebe bis in Ewigkeit.
1 http://de.catholicnewsagency.com/story/exklusiv-ein-bruch-mit-der-lehrtradition-robert-spaemann-uber-amoris-laetitia-0730.
2 Anselm: Cur Deus homo? Liber II, cap. 20.