Gebrochenes Leitbild
4. Ostersonntag A: Joh 10,1-10
I
Schon bei den Nomadenvölkern jener Vorzeit, zu denen auch das frühe Israel gehörte, tauchte fast von allein die Grundgestalt ihrer alltäglichen Lebensform zugleich als ein Inbild der eigenen sozialen Existenz auf: Herde und Hirt. Wie der Hirt für seine Schafe und Ziegen sorgt, wie er sie leitet, beschützt und nährt, so der Stammesälteste und später der König seine Sippe und sein Volk. Er weiß, wo es lang geht, wie man so sagt, wo die Gefahren lauern und was gut ist für alle. Ein durch und durch vormodernes Bild, möchte man meinen, Äonen entfernt von Ideen wie Selbstbestimmung oder Mitverantwortung, Freiheit und Gleichheit. In Wahrheit bestimmt dieses Bild – freilich bar aller bukolischen Romantik – das politische Geschehen in den Tiefenschichten mancher Gesellschaften und Staaten bis heute, gerade heute wieder. Es reicht, nur wenige Namen aufzurufen: Trump, Erdogan, Putin, Duterte auf den Philippinen. Einer erhebt den Anspruch, zu wissen, was gut ist für alle. Und wer dem nicht zustimmt, wird ausgegrenzt, mehr oder weniger mit Gewalt auf Linie gebracht, manchmal einfach beseitigt.
II
Welche Zwiespältigkeit hinter dem so trauten Bild von Hirt und Herde lauern kann, wenn es politisch ausgemünzt wird, haben schon die frühen Propheten Israels gespürt. Als das Volk darauf drängte, endlich auch einen König wie die umliegenden Nationen zu haben, da warnten sie vor den Folgen, vor dem Preis der Unterwerfung und des Tributs, den eine solche Führergestalt kosten würde. Und das zumal dann, wenn sich dieses Führen und Leiten mit ganz persönlichen Interessen oder auch Schwächen des Leitenden, dieses Hirten verquickt, wie Israel mehrfach schmerzhaft erfahren musste. Und kein Geringerer als Platon sah auch diese Gefahr, als er schrieb: Gerade das ist das harte an geistiger Blindheit, dass man, obwohl man weder edel noch gut, noch verständig ist, sich selbst so vorkommt, als hätte man diese Ziele erreicht.
Noch nie habe ein Präsident in den ersten drei Wochen seiner Amtszeit derart viel bewirkt und erfolgreich regiert wie er, behauptete Donald Trump – in Wahrheit herrschte das blanke Chaos in der Administration der größten Weltmacht und andere Nationen wurden derart brüskiert, beleidigt und vor den Kopf gestoßen, dass Angst um den Weltfrieden aufkam – und bis heute anhält. Ein unbeherrschter, launischer, ahnungsloser Despot als wüstes Zerrbild eines „guten Hirten“.
III
Auch im Evangelium begegnet uns das Bild von Hirt und Herde. Johannes legt es Jesus als Selbstbeschreibung in den Mund:
Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne,
heißt es dort wenige Zeilen nach dem heutigen Evangelium (Joh 10, 14).
Will sagen: Jesus ist damit vertraut, wie es ist, ein Mensch zu sein: Er kennt die Fragen, die Sorgen, die Versuchungen, auch die Freude, die Trauer, die Angst. Selbst das Geheimnis des Bösen ist ihm nicht fremd, gerade ihm nicht, weil er sein Leben lang nichts anders tat, als es zu entlarven und zu besiegen. Er kennt den Menschen bis zum Grund.
Aber genauso sehr ist er mit Gott vertraut. Mit Gott vertraut sein bedeutet nicht, über ein Geheimwissen zu verfügen, das andere nicht haben, sondern: Sich jeden Augenblick des Lebens Gott nahe wissen und so handeln, wie es solcher Nähe entspricht. Das war es ja, was Jesus seine durch nichts in Frage gestellte Sicherheit gab, wenn er von Gott sprach oder wenn er handelte – selbst dann, wenn er mit seinem Reden und Tun im Widerspruch stand zu dem, was Menschen sonst von Gott sagten oder wie sie sich verhielten.
Wenn er den Vater kennt, wie der Vater ihn kennt, und er zugleich uns kennt, wie wir ihn kennen, dann verwebt sich in ihm gleichsam dieses doppelte Vertrautsein. Und das bedeutet: In ihm und durch ihn können wir Menschen Gott selbst auf menschliche Weise kennen. Wie er war, so ist Gott. Was er tat, wie er lebte, was er sagte, verrät, wer Gott ist und was er will. So ist uns Jesus Bote von Gott und sein Übersetzer für uns und damit der, der Sorge trägt, dass es gut ausgeht mit uns – guter Hirt eben.
IV
Doch seltsam: Dieses Ich-Wort Jesu ist auf ganz eigenartige Weise – ja, fast möchte ich sagen: gebrochen. Gebrochen durch die Verse unmittelbar vorher, die wir vorhin gehört haben. Denn in ihnen bezeichnet sich Jesus nicht als Hirten, sondern als die Tür, durch die der Hirt zu den Schafen geht. Und wer kommt durch Jesus zu den Schafen? Klar: Gott. Gott selbst ist der Hirt seines Volkes, gerade so wie es in den Psalmen steht und beim Propheten Ezechiel zu lesen ist. Jesus, die Tür, schließt auf: Die Schafe – also die Menschen, die Gemeinde – für Gott. Und zugleich Gott, den Verborgenen, manchmal Unbegreiflichen für die Menschen. Sind durch Jesus Himmel und Erde füreinander aufgeschlossen, dann können die Schafe hören, wie der Hirt sie alle einzeln beim Namen ruft. Da wird nicht zusammengetrieben, nicht geknufft und gepufft. Da wird nicht gebellt und gebrüllt, sondern gerufen, jede und jeder in ihrer und seiner Einmaligkeit. Und die Schafe merken, dass sie die Stimme dieses Hirten, der durch Jesus, die Tür, zu ihnen kommt, schon längst kennen. Seit Anbeginn tragen sie ihren Laut, ihre Melodie gleichsam als Signatur ihrer Herkunft in der Seele. Deshalb folgen sie diesem Hirten, wenn er sie ins Weite führt, heraus aus den Grenzen der Stallung ins Freie. Und alles immer durch die Tür, durch Jesus: Durch ihn kommt der Hirte, durch ihn gehen die Schafe mit dem Hirten hinaus. Kein Zufall, dass all unsere Gebete in der Liturgie immer enden mit dem „Per christum Dominum nostrum“. Das „per“, das „durch“ ist ganz wörtlich gemeint. Jedes Mal, wenn wir es hören oder sprechen, müssten wir eigentlich ans heutige Evangelium denken.
V
Das Erste, was es also nach Jesu eigenem Wort über das Verhältnis von Gott und Mensch zu sagen gibt, ist: dass wir zu ihm in einer Unmittelbarkeit stehen. Dass er – Gott – unserem Wesen als Geheimnis eingeschrieben ist und wir – die Menschen – Gottes Erkennungszeichen sind, gleichsam in seinen Namen hineingehören, wie schon das Alte Testament weiß, wenn Gott sich den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennen lässt. Und indem er das bis zum Grunde offenbart, bringt der Herr den Menschen das, was ihm am meisten Not tut und gut tut: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Genau da beginnt sich dann auch Jesu eigenes Hirtenamt anzudeuten. Diesen Maßstab – das Gut-tun-für-uns im Verhältnis zu Gott – stellt er selbst auf für sich.
VI
Das aber ist ungeheuer folgenreich. Schon die Kirchenväter in der Frühzeit der Kirche haben das erfasst. Deswegen schrieb Ignatius von Antiochien in seinem Brief an die Gemeinde von Philadelphia im Blick auf unser heutiges Evangelium:
Er ist die Tür, die zum Vater führt. Durch diese Tür gingen Abraham, Isaak und Jakob, die Propheten, die Apostel, und durch diese Tür geht die Kirche.
Das ist stark. Denn es heißt schlichtweg: Was Jesus sein Hirte sein bestimmen lässt, war denen Maß, die ihm voraus schon die Wege Gottes zu den Menschen bahnten – den Vätern und Müttern des Glaubens, den Prophetinnen und Propheten, all den Heiligen und Weisen des Ersten Bundes. Und genauso muss es denen billig sein, die sich von Jesus zur Fortsetzung seines Anliegens in die Geschichte hinein in Dienst genommen glauben. Die Apostel haben das schon unter Beweis gestellt. Aber es gilt immer noch und für immer. Der Maßstab bis heute und auch in Zukunft heißt: Alles, was die Kirche tut und in ihr die offiziell in ein Amt Bestellten, muss dem Menschen gut tun, indem es ihm hilft, in ein achtsames, von Ehrfurcht getragenes Du auf Du mit Gott, also jene Gottunmittelbarkeit zu finden und so vor Gott und von Gott her er und sie selber zu werden und zu sein.
VII
Gewiss wird es persönliche Schwächen immer geben bei der Ausübung der Dienste in der Kirche. Anderes zu erwarten wäre unmenschlich, weil alle – vom Papst bis zum jüngsten Kaplan und der gutmeinendsten Pastoralreferentin – Grenzen, wunde Stellen, Unfertigkeiten haben. Und Papst Franziskus räumt das ja auch – verstörend für Viele – unumwunden für sich selber ein. Freilich kommt nicht Weniges, was schief läuft in der Kirche, nicht aus solchen menschlichen Schwächen, sondern sehr wohl aus eitlem Geckentum, aus Borniertheit und Bosheit als Auswurf albernen Machtgebarens zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse. Da treibt das heutige Evangelium jedem im kirchlichen Dienst den Stachel hinein, bis er in eigenem Tun und Lassen beglaubigt, dass Christus uns dient um unseretwillen. Und deshalb tun wir als Kirche gut daran, dass wir am heutigen Sonntag – da Jesus uns als so eigenartig durch das Bild der Tür abgeschatteter Hirt entgegentritt – auch darüber nachzudenken, warum so wenige derzeit in unseren Breiten die Aufgabe auf sich nehmen mögen, andere hütend und sorgend der Gottesgegenwart und -unmittelbarkeit inne werden zu lassen, die uns schon immer zuinnerst beseelt. Einfach um mehr Berufungen zum priesterlichen Dienst und zum Ordensleben zu beten, weigere ich mich mittlerweile. Denn meiner Überzeugung nach gäbe es viele solcher Berufungen, die dann sichtbar würden, wenn bestimmte Leitungsebenen der Kirche – trotz mancher Ermutigung durch den derzeitigen Papst – nicht einfach zu feige wären, den einen oder anderen neuen Weg auszuprobieren. Die reaktionären Lautsprecher, die jedwede Neuerung für Teufelszeug halten, haben doch nur die neuen Kleider des Kaisers an. Zu Deutsch: Sie stehen blank da mit ihrer Retro-Romantik. Mögen sie auch im Spiegel und im Fokus schreiben, sich von einem dekadenten deutschen Adelsgeschlecht gestützt fühlen oder in vorkonziliar-karnevalesken liturgischen Kleidern Hochämter feiern. Johannes hat´s doch schon in seinem ersten Brief gesagt: Furcht ist nicht in der Liebe. Klar: Dafür müssten ein paar überdrehte lehramtliche Dekretierungen des zu früh heiliggesprochenen Johannes-Paul II. wieder auf den Boden zurückgeholt werden – was auch sein theologisches Gewissen Joseph Ratzinger damals nicht geschafft hat und als sein Nachfolger als Papst Benedikt nicht mehr tun konnte. Aber die Treue zum heutigen Evangelium sollte die eine oder andere Selbstkorrektur in Sachen Hirtenamt und geistlicher Dienst wohl wert sein.