Österliche Führerin Weisheit

Osternacht B: Bar 3, 9-15. 32 – 4,4

I
Jetzt sind wir angekommen in der Nacht der Nächte. Gerade kündet uns die aufgehende Sonne davon, dass es so etwas wie unbesiegliches Leben gibt. Sie geht auch dann treulich auf, wenn dunkelste Wolken den Himmel verhüllen. Darum wurde sie zum Inbild des Gekreuzigten, den gläubige Christinnen und Christen als den Lebendigen bekennen.

II
Dieses Osterbekenntnis setzt freilich einen besonderen Blick auf die Dinge des Lebens voraus – einen Blick, der quer steht zu Vielem, was so im Alltag plausibel ist. Das war schon von Anfang an so. Und das Ende des Markus-Evangeliums, das wir soeben als Osterbotschaft gehört haben, macht das aufs Drastischte deutlich. Maria von Magdala, verliebt in Jesus, wie ein Mensch nur verliebt sein kann, geht mit ein paar anderen Frauen ans Grab, um Jesus einen letzten Liebesdienst zu erweisen, indem sie den Leichnam salben – ägyptische Reminiszenz gleichsam - um dem Vergänglichen wenigstens einen Hauch Unvergänglichkeit zu verleihen. Sie kommen zum Grab. Es ist – wider alles Erwarten – offen. Und ein junger Mann in weißen Kleidern, der da sitzt, sagt ihnen, Jesus sei auferstanden. Und sie sollen das seinen Jüngern ausrichten. Das tun sie aber nicht:
Denn – Zitat – "Angst und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich."

Das ist der wahre Schluss des Markus-Evangeliums, der ältesten Beschreibung der Vita Jesu. Was da heute in den offiziellen Bibelausgaben noch folgt, sind schlichtweg spätere kirchliche Entschärfungsversuche.

III
Absurder kann das Spitzenevangelium des christlichen Glaubens ja wohl nicht anfangen – dass die Erstzeuginnen der Auferstehung voll Entsetzen schweigen. Wäre es dabei geblieben, wüssten wir bis heute nichts davon und würden jetzt nicht Ostern feiern. Dazu, dass es offenkundig anders ist, dafür muss noch etwas Anderes ins Spiel gekommen sein. Dieses Andere klingt auf in der sechsten Lesung der heutigen Nacht aus dem Buch des Propheten Baruch. Und es hat mit der Weisheit Gottes zu tun.

Diese Gestalt der Weisheit – hebräisch Chokmah – geistert aufs Vielfältigste durch die Schichten des Alten Testaments, hundertfach beschworen später in Dichtung, Kunst und Musik, besonders eindrücklich in der Gestalt der faszinierenden Blondine, die der Schöpfer an der Decke der Capella Sistina im Arm hält und die dem soeben ins Dasein gerufenen Adam buchstäblich schöne Augen macht. Sie gilt dem Alten Testament als Gottes geliebtes Kind, das zu seiner Freude vor ihm spielt – mit der Folge, dass in der christlichen Wiederaufnahme der Tenach, also des Alten Testaments, einer der ältesten Christusnamen schlicht „Weisheit“ heißt. Bei Lukas im siebten Kapitel kann man das nachlesen, wo es von Jesus heißt: „Und doch hat die Weisheit durch alle ihre Kinder Recht bekommen“.

IV  
Aber weit zuvor ist das alles noch viel aufregender. Denn es gibt Szenen im Alten Testament, wo die Weisheit in Figuren auftritt, die uns sozusagen auf heidnische Weise ans Christusgeheimnis führen, von dem die Verfasser der einschlägigen Zeilen nicht die geringste Ahnung haben konnten. Und wenn Sie seit Palmsonntag hier in den Gottesdiensten mit dabei waren, wird es sie kaum mehr überraschen: Da kommt schon wieder und noch einmal ein Esel ins Spiel:

Da gibt es nämlich im Buch Numeri, dem vierten Buch des Alten Testaments, das kein Mensch in der Regel liest, weil es so langweilig scheint, die Story mit dem heidnischen Propheten Bileam, der von seinem König losgeschickt wird, das Volk Israel zu verfluchen. Nach langem Hin- und Her will der das wirklich tun und macht sich auf den Weg. Und dann passiert es. Der Esel, auf dem Bileam reitet, geht auf einmal einfach nicht weiter, weil er den Engel JHWSs sieht, wie es heißt, der sich ihm in den Weg stellt, um Bileam an dieser Verfluchung Israels zu hindern. Bileam prügelt das Tier, das es ihn endlich gehorsam weitertrüge, da öffnet Gott dem Esel den Mund, dass er Bileam sage, was Sache ist und lässt schließlich den Propheten selbst die Dinge schauen, was ihn nicht nur daran hindert, Israel zu verfluchen, sondern im Gegenteil: Er, der Heide, segnet Gottes Volk. Und der Engel, den Bileam nun auch sieht, belehrt ihn darüber, dass er längst ums Leben gekommen wäre, wenn ihn sein Esel durch seine scheinbare Störrigkeit nicht gerettet hätte.

V
Ich denke, man muss nicht lange überlegen um einzusehen, dass in dieser Bileams-Geschichte von der Weisheit Gottes die Rede ist, einer Weisheit jenseits aller Intellektualität, so wichtig die ist und bleibt. Aber es gibt eben auch diese andere Weisheit, für die sich im Blick auf Bileams Esel wie von selbst im buchstäblichen Sinn der unbeholfene Name „animalisch“ nahelegt: Eine Weisheit, noch unterhalb der Schwelle menschlichen Räsonierens, die aber eben deshalb Zugang hat zu Dimensionen des Lebens, die uns andernfalls verschlossen wären. Bileams Esel – genauer muss ich gemäß biblischem Wortlaut sagen: Seine Eselin – steht, wie ganz oft auch andere Tiere in der Bibel, als Sinnbild für das Affektive und die menschlichen Triebe und Sehnsüchte, also die Tiefenschichten der menschlichen Seele.

Unsere Lesung aus dem Baruch-Buch vorhin intoniert auch eben dies. Sie schaut einen Zusammenhang von Schöpfer und Schöpfung, der eine unerschütterliche Tiefenordnung allen Seins kennt, die sich nur dem staunenden Fühlen erschließt:

Er entsendet das Licht, und es eilt dahin,
er ruft es zurück, und zitternd gehorcht es ihm.
Froh leuchten die Sterne auf ihrem Posten.
Ruft er sie,
so antworten sie: Hier sind wir.
Sie leuchten mit Freude für ihren Schöpfer.
Das ist unser Gott;

VI
Ich denke, nur in solcher weisheitlicher Perspektive lässt sich angemessen auch von Ostern sprechen: Dass es da eine Ordnung in allem Sein gibt, die nichts verloren gehen lässt, was je gewesen ist, wenn es irgendwie und wenn auch noch so fern die Verbindung mit seinem Ursprung gewahrt hat. Wer mit den Augen der Weisheit Gottes, die in die Tiefen allen Geschehens zu blicken vermögen, auf das Leben, das Geschick und das Ende des Lebens Jesu schaut, dem wird aufgehen, dass da am Leben mehr ist als das, was man äußerlich sehen kann. Die unstillbare Sehnsucht, nicht zu vergehen, sondern irgendwie und irgendwo unverlierbar aufgehoben zu sein, das untrügliche Gespür, dass – wenn Welt und Leben überhaupt einen Sinn haben – das Böse und das Unrecht nicht das letzte Wort haben dürfen; diese Tiefenregungen der Seele machen feinfühlig für das, was Ostern meint: In den Worten, den Gesten und Taten der Liebe bis hin zur demütigen Fußwaschung und zum ohnmächtigen Gang ans Kreuz erscheint Gottes ewige Weisheit auf Erden.

Sie ist das Buch der Gebote Gottes,
das Gesetz, das ewig besteht,
– so nochmals Baruch wörtlich –  
Alle, die an ihr festhalten, finden das Leben;
Doch alle, die sie verlassen, verfallen dem Tod.

VII
Wer wie Baruch staunend zum froh leuchtenden Sternenhimmel aufschaut, ahnt an seiner wunderbaren, verlässlichen Ordnung, dass auch die Ordnung in der Seele des Menschen, die ihn gut und bös zu unterscheiden lehrt, derselben verlässlichen Quelle entstammt. Fast will es scheinen, als hätte gut zwei Jahrtausende später der Philosoph Immanuel Kant unsere Baruch-Lesung vor Augen gehabt, als er das für den Menschen wesentliche Wissen auf die lapidare Formel brachte: "Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Und sein Zeitgenosse, der Bischof Johann Michael Sailer fügte noch etwas hinzu und meinte: "Ja, der gestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir und das Evangelium vor mir." Er wollte damit sagen: Jesu Leben, Sterben und Auferstehen bringt in Bild und Gleichnis, dass man im eigenen Leben und Sterben der Weisheit Gottes trauen darf. Sie ist so treu wie der Gang der ewigen Gestirne, so unbedingt wie der Ruf des Gewissens, so behutsam und mitfühlend wie die Liebe, die Jesus im Namen Gottes gerade denen entgegengebracht hat, die angeschlagen waren oder sich verrannt hatten. Sollte man dieser Weisheit nicht trauen dürfen, wenn es ums eigene Dasein geht? Die ganzen Ostergeschichten von der Begegnung mit dem Auferstandenen sind genau dort entstanden, wo Menschen in der Tiefe ihre Seele sich von dieser Weisheit Gottes haben berühren lassen.

Das kann bei uns heute genauso geschehen wie es einst bei den ersten Osterzeugen geschah. Mag sein, dass wir auch erst einmal fliehen vom leeren Grab wie einst die Frauen. Das ist menschlich. „In der Welt habt ihr Angst“, sagt der johanneische Christus einmal. Aber in seinem ersten Brief fügt der Evangelist hinzu:
Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm, [denn] Furcht ist nicht in der Liebe (1 Joh 4, 16-17).
Ostern heißt darum: Die Furcht ist zu Ende. Gottes Weisheit hüllt uns schützend ein. Und in der Liebe berühren wir ihr Geheimnis.