Fluchtgeschichten

Dtn 26, 4-10    1. Fa C

I
Unsere heutige erste Lesung stammt aus dem Buch Deuteronomium, dem fünften Buch der Bibel. Dieses Buch besteht aus Abschiedsreden des Mose vor seinem Tod. Reden, in denen er gleichsam die gesamte bisherige Geschichte Israels mit seinem Gott zusammenfasst, bevor er dann vom Berg Nebo aus einen Blick auf das gelobte Land werfen darf, das er aber nicht mehr selbst betreten wird. Diese Reden rekapitulieren das Grundereignis der Glaubensgeschichte Israels, also den Exodus, seine lange Vorgeschichte und seine Nachgeschichte mit dem Wüsten-zug, der Gabe der zehn Gebote, der gefährlichen Episode mit dem gol-denen Kalb – bis eben hin zum Tod des Mose.

II
Jan Assmann, der große Ägyptologe, hat vor vier Jahren ein faszinieren-des Buch geschrieben mit dem Titel Exodus. Die Revolution der alten Welt, eine Revolution, die im Kern darin besteht, dass sich der religiöse Glaube an den einen und einzigen Gott, der Monotheismus, herauskris-tallisiert aus der Welt des Polytheismus, den Religionen der vielen Götter. Geschichtlich geschah das erst Jahrhunderte nach dem Einzug Israels ins gelobte Land, nämlich in der Zeit des babylonischen Exils. Das Buch Deuteronomium hat das gleichsam rückprojiziert in die mosaische Zeit.  Denn damals im babylonischen Exil begann Israel Stück für Stück zu verstehen: Wenn denn an Gott etwas daran sein soll, wie man so sagt, dann muss er der Eine sein, der alles geschaffen hat vom kleinsten Sandkorn bis zum Universum der Sterne hinaus. Der alle und alles in Händen hält. Und der auch noch die Unterdrücker zum Werkzeug für die Rettung seines Volkes machen kann, wenn ihm sein auserwähltes Volk wieder die Treue hält. Jan Assmann zitiert als ein Motto über der Einlei-tung seines Buches ein Diktum seiner Frau Aleida Assmann, ihrerseits eine bekannte Kultwissenschaftlerin. Sie schrieb einmal: „Der Urknall der Modernisierung vollzog sich mit dem […] Auszug aus der Welt der poly-theistischen Kulturen. 

II
Genau dieser Auszug begann aber nicht erst mit dem Exodus aus dem Sklavenhaus Ägypten, sondern unendlich viel früher, nämlich dem Auf-bruch der Terach-Sippe, also der Familie des Abraham. Genau darauf spielt der erste Satz aus dem Glaubensbekenntnis an, das gemäß unse-rer Lesung aus dem Deuteronomium abzulegen ist, wenn Israel jährlich den Dankgottesdienst für das Geschenk des gelobten Landes feiert: Da schreibt Mose den Seinen vor:

Du aber (Israel) sollst vor dem Herrn, deinem Gott,
folgendes Bekenntnis ablegen:
Mein Vater war ein heimatloser Aramäer usw.


Das weist im Letzten zurück bis auf eine Stelle im Buch Genesis 11, wo es heißt:

Terach nahm seinen Sohn Abram, seinen Enkel Lot, den Sohn Ha-rans, und seine Schwiegertochter Sarai, die Frau seines Sohnes Abram, und sie wanderten miteinander aus Ur in Chaldäa aus, um in das Land Kanaan zu ziehen. Als sie aber nach Haran kamen, siedelten sie sich dort an. (Gen 11, 31)


An viel späterer Stelle in der Bibel wird auch gesagt, warum die Terach-sippe ihre Heimat verließ. Im Buch Judith lässt sich der Oberbefehlshaber des assyrischen Heeres, Holofernes, durch Achior, den Anführer der Ammoniter, über das ihm unbekannte, aber so aufmümpfige Volk der Is-raeliten informieren. Achior sagt da:

Diese Leute stammen von den Chaldäern ab. Sie hatten sich zuerst in Mesopotamien niedergelassen, weil sie den Göttern ihrer Väter im Land der Chaldäer nicht mehr dienen wollten. Sie waren nämlich von dem Glauben ihrer Vorfahren abgewichen und hatten ihre Ver-ehrung dem Gott des Himmels zugewandt, zu dessen Erkenntnis sie gelangt waren. Deshalb hatten die Chaldäer sie aus dem Be-reich ihrer Götter vertrieben, und sie waren nach Mesopotamien ge-flohen, wo sie sich einige Zeit aufhielten. Doch ihr Gott gebot ihnen, ihren Wohnsitz zu verlassen und in das Land Kanaan weiterzuzie-hen. (Jdt 5, 6-9a)


Die Suche nach dem wahren Gott steht also hinter diesem Ur-Exodus.

Aber damit sind die Aufbrüche noch nicht zu Ende. Zwei Generationen später kommt es durch die Geschichte Josephs, des zweitjüngsten Soh-nes Jakobs zum neuerlichen Aufbruch, der nach Ägypten führte und dort Israel zu einem so großen Volk werden lässt, dass der Pharao es schlussendlich in den neuerlichen Exodus treibt: Deswegen heißt es in unserem deuteronomistischen Glaubensbekenntnis weiter:

Die Ägypter behandelten uns schlecht, […]
Wir schrien zum Herrn, […]
Und der Herr hörte unser Schreien und […]
Führte uns mit starker Hand und hoch erhobenen Arm aus Ägypten,
er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land […]
Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Herr.

III
Es ist im Grunde unglaublich – und wir überhören es deswegen auch meist: Was da erzählt wird angefangen vom Buch Genesis über die Bü-cher Exodus und Deuteronomium bis hin zum Buch Judith ist nichts an-deres als eine einzige Kette von Fluchtgeschichten, die mit der Suche nach dem wahren Gott und einem Leben unter seinem Schutz zu tun ha-ben. Und was da erzählt wird, war derart einschneidend und grundstür-zend, dass diese Fluchtgeschichte zum Kern des Glaubensbekenntnis-ses des Gottesvolkes wurde, das Mose in der heutigen ersten Lesung den Seinen buchstäblich in die Seele meißelt.

III
Wenn Sie sich jetzt vielleicht dächten: Ach ja, Fluchtgeschichten. Jetzt solls aktuell werden – ist das nicht ein bisschen trivial, diese Parallele, vielleicht gar gezogen zum subkutanen Moraltransport? Wenn Sie das argwöhnten, müsste ich antworten: Zu kurz gedacht, viel zu kurz. Die Geschichte von der Flucht Israels, dieses Nomadenvölkleins in einer Ecke des Vorderen Orients, ist nämlich nur deswegen zu der Leiterzäh-lung schlechthin der jüdischen und dann auch christlichen Tradition ge-worden, weil sich in dieser Geschichte die Grundsituation menschlichen Daseins wie in einem Brennspiegel sammelt: Unser Wissen, dass wir nir-gends in der Welt daheim sind im strengen Sinn des Wortes, gerade so wie der heimatlose Aramäervater Israels und dass wir immer und immer wieder aufbrechen, fliehen müssen aus Versklavungen, Verkettungen, Verstrickungen – materiellen, politischen, ideologischen, geistigen, emo-tionalen und, ja, auch kirchlichen. Schon der frühchristliche Großtheolo-ge, der Ägypter Origenes, und Jahrhunderte später der fast noch größere Dante haben die Exodus-Geschichte genauso gelesen: als einen Roman des großen, nie endenden Abenteuers der gottgeschenkten Freiheit und Menschenwürde.

Und wenn das wahr ist, wenn es stimmt, dass die israelitischen Fluchtge-schichten eine solche Tiefendimension haben, die zeitlos bis in die Exis-tenz des einzelnen Menschen von heute reicht, dann springen einen ein paar Gedanken an, die aufwühlen können: Denn dann sind wir im tiefsten selbst Heimatlose, immer gewesen und heute noch, selbst dann, wenn wir in einer noblen Villa wohnten. Am meisten merken wir das an einem offenen Grab, denn auf diesem letzten Weg brauchen wir bekanntlich keinen Möbelwagen mehr. Und wenn das stimmt mit der zeitlosen Wahr-heit des Exodus, dann waren auch wir selbst und seit je und sind für im-mer im tiefsten Flüchtlinge, also Menschen, die froh sind, für eine Weile irgendwo unterzukommen und aufgenommen zu werden und ein Stück Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu erleben. Manche unter uns, zumin-dest ihre Eltern oder Großeltern, haben das vor gar nicht so langer Zeit buchstäblich noch am eigenen Leib erfahren, wie etwa auch meine Mut-ter und meine Großmutter. Ich werde ihre Erzählungen von der Vertrei-bung aus der Heimat, den Verlust von Haus und Hof und so manches lie-ben Menschen nie vergessen. Aber das aufgenommen-, ja wenigstens geduldet Werden gehört zu den existentiellen Grundwahrheiten von allen, auch wenn das oft durch ein Anspruchsdenken und die scheinbare Selbstverständlichkeit von Besitzständen verdeckt sein mag. Und auch gilt, was Mose seinem Volk am Ende der heutigen Lesung ins Gewissen schreibt: Dass das Volk, nachdem es wieder Boden unter den Füßen spürt, die ersten Früchte der neuen Heimat als Dankgabe vor Gott brin-gen möge als Erinnerungszeichen daran, dass es dieses Beglückende nicht sich selbst verdankt.

IV
Gilt das, bevor wir von den derzeit ankommenden Flüchtlingen Dank er-warten, nicht zu allererst von uns selbst, dass wir – viele von uns –, die wir schon so lange reich beschenkt und im Wohlstand leben, allen Grund hätten, im Teilen dessen, was uns gehört, diesem Dank Ausdruck verlei-hen? Und überhaupt: Was heißt eigentlich, selbstverständlich Ansprüche zu erheben und auf Besitzstände zu pochen – als ob es fraglos normal wäre, dass in Deutschland die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über 52% des Gesamtvermögens verfügen und weltweit den 62 reichsten Person so viel gehört wie der ärmeren Hälfte der Menschheit zusammen! Schon Immanuel Kant hat das im 18. Jahrhundert völlig anders gesehen: In seinem berühmten Aufsatz Zum ewigen Frieden hat er jedem Men-schen weltweit, wo immer er als Fremder hinkommt, einen Anspruch auf „Wirthbarkeit“, also Hospitalität zugesprochen – und jetzt wörtlich:

„[…] vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Un-endliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebenei-nander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere.“  ²


Das ist der eigentliche Horizont, unter den die Flüchtlingsfrage jetzt zu stellen ist: Die Tatsache, dass weltweit ca. 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind vor Gewalt, Krieg, Hunger und Hoffnungslosigkeit, davon al-lein 11 Millionen in Afrika Richtung Europa, das hat doch entscheidend damit zu tun, dass jetzt in der Situation radikal gewordener Globalisierung die sogenannte zweite und dritte Welt der ersten Welt – also uns – ein paar Rechnungen präsentieren, die seit der Zeit des Kolonialismus offen sind.

Wir Wohlstands-Günstlinge werden in absehbarer Zeit auf manches, Viel-leicht auf vieles verzichten müssen. Dieser Herausforderung werden wir nur gewachsen sein, wenn wir anfangen, uns selbst als jüngste Nachfah-ren des heimatlosen Aramäers und des Exodusvolkes Israel aus der Le-sung vorhin zu verstehen – und ja, auch aufbrechen und ausziehen aus so mancher Luxussuite, in der wir uns gesellschaftlich und kirchlich ein-gerichtet haben. Und ich denke, wir schaffen das nur, wenn wir diese Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die schon die alten Propheten Amos und Hosea mit aller Wucht stellten und die lebendig blieben und bleiben in der Philosophie eines Karl Marx, der Frankfurter Schule, bei Walter Benjamin, Ernst Bloch und Hannah Arendt und selbst indirekt bei deren gegenwärtigen Spätnachfolgern –, wenn wir diese Frage verbunden hal-ten mit der Frage, wer Gott ist und was bedeutet, an ihn zu glauben und ihm treu zu sein. Ich zögere nicht, eben darin eine der großen Herausfor-derungen zu sehen, der wir uns in der nun beginnenden Fastenzeit zu stellen anfangen könnten.

V
Diese Herausforderung ist aber nicht nur eine geistige und moralische, sondern auch eine politische. Es beunruhigt zutiefst, dass es mittlerweile erkennbar unterschwellige Verbindungslinien zwischen extrem rechts-konservativen kirchlichen – katholischen und evangelischen – Milieus ei-nerseits und Pegida- bzw. AfD-nahen Überzeugungen gibt. Das ist schlicht Verrat an der Glaubensgemeinschaft der christlichen Kirchen. Wachsamkeit bedarf es da seitens aller, die ihren Glauben ernst nehmen. Was da selbst aus manchem Priester- und Theologenmund kommt, ist eine Schande.

Dabei ist es doch ganz einfach: Auch Theologien – amtliche wie akade-mische – müssen immer wieder auf Exodus-Ochsen-Tour gehen, sonst sterben sie im Ägypten der Resignation und dem Stahlgehäuse der eige-nen Selbstgewissheit. Beklemmenden Ausdruck hat Letzteres für mich erst neulich gefunden in dem berüchtigten „Glaubensmanifest“, das der einschlägig bekannte Kardinal Gerhard Müller im vergangenen Februar vom Stapel gelassen hat –  in unverkennbarer Absicht, Papst Franziskus zu kritisieren, weil ihm dessen offenkundige Exodus-Agenda, die er der Kirche verordnet hat, nicht passt. Fastenzeit ist Exoduszeit – für alle, im Großen eines Amtes wie im Kleinen persönlicher Gottsuche. Machen wir uns auf den Weg! Die Richtung dieses Weges findet man ganz einfach. Der Kirchenvater Augustinus hat sie lapidar in fünf Worten zum Ausdruck gebracht:

Incipit exire qui incipit amare
Aufzubrechen beginnt, wer zu lieben anfängt. ³


1 Zit nach Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der alten Welt. München 2015. 19
² Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VIII. Berlin; Leipzig 1923. 341-386. Hier 358.
³ Augustinus: Enarrationes in psalmos. 64.2.