Exodus nach innen

5. Fastensonntag C: Jes 43, 16-21

I
Ein fünftes, ein letztes Mal taucht uns auch die ersttestamentliche Lesung des heutigen fünften Fastensonntags in jenen alles durchherrschenden Glutstrom der biblischen Überlieferungen, der „Exodus“ heißt. Schon seit dem ersten Fastensonntag wissen wir, dass es nicht nur einen Exodus gibt, jenen berühmten aus Ägypten, sondern viele: Exodusse auch vorher und nachher. Am zweiten Fastensonntag sind wir dem allerersten begegnet, jenem Aufbruch der Terach- und Abrahamssippe. Der Sonntag danach, der dritte der Heiligen 40 Tage, stellte uns den Anfang des Spitzenereignisses des Alten Bundes vor Augen, den Gottesbefehl an Mose aus dem brennenden Dornbusch, sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägyptens zu führen. Am vergangenen Sonntag hörten wir aus dem Buch Josua, des Nachfolgers des Mose, von der Ankunft im gelobten Land – aber wie auch dort trotz allem sesshaft Werdens das Aufbruchsmoment nicht zum Stillstand kommt darf, wenn Israel seinem Gott treu bleiben will. Ausgerechnet am Fall des Umgangs mit dem in Kanaan so bedeutenden Phänomen des Geschlechtlichen hat sich das abgezeichnet – und das noch auf eine Weise, die der Sache sozusagen senkrecht in unsere unmittelbaren gegenwärtigen kirchlichen Diskussionen hineinschlägt, wie wir gesehen haben.

II
Und heute nun hören wir aus dem Mund des Deutero- oder Zweiten Jesaja die Ankündigung eines weiteren Exodus, demjenigen aus dem babylonischen Exil. Das ist der erste große Exodus nach dem aus Ägypten. Darum erinnert der Prophet gleich zu Anfang an jenes Geschehen, das für immer die geistliche Identität des Gottesvolkes begründet: die Wegbahnung durch die Wasser des Roten Meeres, indem die feindlichen Rosse und Wagen untergehen „erloschen und verglüht wie ein Docht“.

Was war passiert? In fortdauernder und geschichtlich sich steigernder Abkehr vom Gott der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägyptens erlebt Israel – bedingt durch si¬cherheitspolitische und das heißt für das Alte Testament immer: aus Misstrauen gegen Gott keimende Kalküle – zunächst eine Kri¬senzeit, in der ein Teil des Volkes zwischen 722 und 733 unter die Herrschaft der Assyrer gerät. Und die Krise gipfelt schließ-lich – gut 100 Jahre später – auf in der Katastrophe des Babylo¬nischen Exils: dem neuerlichen und als endgültig empfundenen Absturz in die ägyptische Existenz totaler Entfremdung. Das ist die Zeit der Klagelieder:

An den Strömen der Babel,
da saßen wir und weinten,
wenn wir an Zion dachten ...

beginnt der 137. Psalm. Die Zeit der Verzweiflung – im Bewusst¬sein, das alles selbst verschuldet zu haben. So übermäßig – die Verzweiflung, dass Israel nur noch in wenigstens verbalen Hassaus¬brüchen mit ihr fertig wird:

Tochter Babel, du Zerstörerin!
wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast!
Wohl dem, der deine Kinder packt,
und sie am Felsen zerschmettert (Ps 137,8-9).

Was da mit archaischer Gewalt hervorbricht, meint freilich im tiefsten gar nicht das feindliche Gegenüber, meint stattdessen Israel selbst – jetzt in der Verbannung verwünscht es sich bis zur Todessehnsucht, weil es die von Gott angebotene Freiheits¬geschichte fahrlässig aufs Spiel gesetzt und bis zum Grunde pervertiert hat. Vielleicht muss mancher von uns gar nicht lange suchen, bis er sein Babylon, seine selbstverschuldete Verstric¬kung in unentrinnbare Zwänge gefunden hat, für die er sich sel-ber hasst.

Mit diesem Desaster des Exils gerät zwangsläufig der ganze Glau¬be Israels in eine Krise – nicht jedoch in ein Abseits, weil Israel zumindest ahnt, dass nicht Gottes Schwäche das Unheil hereinbrechen ließ, sondern seine – des Volkes – Gottlosigkeit. Gerade diese schonungslos ehrliche Selbsteinschätzung aber – so haben wir rückblickend zu erkennen –, macht aus, dass die Ge¬schichte überhaupt noch weitergeht. Denn vor ihrem Hintergrund konnte die Krisenzeit – je länger, je mehr – zur Lehrzeit wer¬den, so lange, bis Israel zu denken wagte: Wenn unsere eigene Geschichte seit dem Exodus und auch schon vorher je einen Sinn gehabt haben soll, dann einzig dadurch, dass unser Gott auch dieses Geschick des Exils noch in seinen Händen hält – dass er Herr über Raum und Zeit ist vom kleinsten Staubkorn bis zum Universum der Sterne hinauf. Unter diesem Vorzeichen entsteht auch der uns so vertraute erste Schöpfungsbericht. Doch Israel geht sogar noch weiter und sagt sich: Wenn es so wäre – wenn Gott auch jetzt noch der Herr ist, wenn wir ihm so viel wert sind, dass er bis jetzt mitging mit uns, dann ist auch dieses Exil nicht das Aus. Dann trägt er uns auch jetzt noch. Und weil Israel da in Babylon trotz allem nicht nur unter dem erneuten Druck der Entfremdung und Heimatlosigkeit des Exils steht, son¬dern auch jetzt in der Trauer noch zurückgreifen kann auf unaus¬löschliche Erinnerungen an erfahrenes rettendes Handeln Gottes in seiner Geschichte seit dem abrahamitischen Ur-Exodus, – weil es die Erinnerungen daran auch jetzt noch erzählend gegenwärtig hält, deshalb kann das Volk jetzt zu einem so großen Glaubensmut heranreifen, der Gott sogar noch in der offenkundigen Situation des Gerichts zutraut, der Ich-bin-da-für-euch zu sein. Und eines Tages bricht der zuinnerst in der Existenzmitte geschehende Prozess der Reini¬gung des Glaubens in die Öffentlichkeit des Bekenntnisses durch, als einer der Propheten des Exils, der sogenannte Zweite Jesaja, im Geist Gottes die ungeheure Zusage zu geben wagt, die wir vorhin gehört haben:

Der Herr spricht:
Denkt nicht mehr an das, was früher war;
auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten.
Seht her, nun mache ich etwas Neues.
Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?
Ja, ich lege einen Weg an durch die Steppe
und Straßen durch die Wüste. (Jes 43, 18-19)

Land und Tempel und Zukunft scheinbar verspielt – und dann doch wieder dies: ein Gott, der sich ein Volk erschafft, das seinen Ruhm künden wird und der selbst noch den mächtigen König Babylons zum Werkzeug der Errettung seines geliebten Israel macht.

Ausgerechnet einer, der es ansonsten nicht so mit der biblischen Religion hat, der Philosoph Peter Sloterdijk, brachte das einmal exakt auf den Punkt, als er schrieb

„dass ein so schwer angeschlagenes Volk wie das jüdische in der babylonischen Gefangenschaft überhaupt hat überleben können, hängt sicher damit zusammen, dass es seinen damaligen religiösen Führern gelungen ist, einen Gottesbegriff zu formulieren, in dem der Sieg des Volksgottes über den imperialen Gott des babylonischen Reichs vorweg genommen wurde. So beginnt die theologische Auktion, die im Monotheismus endet. (…) Der Demiurgismus der Genesis ist eine antibabylonische Eskalation. Es ist eine theotechnische Attacke größten Ausmaßes, der Versuch also, Gott als Macher überhaupt, als Macher von allem vorzustellen“1.

IV
Der Glaube an einen derart souveränen und verlässlichen Gott zeitigte übrigens eine höchst brisante Folge: In seinem Licht war das babylonische Exil – unerachtet der Trauergesänge in den Psalmen und dem Buch der Klagelieder – so wenig das alttestamentlich schwarz in schwarz gemalte Jammertal, dass nach dem Ende des Exils offenkundig nur eine Minderheit den Rückweg Richtung Jerusalem antrat und die Mehrheit in der anscheinend gar nicht so unangenehmen Fremde blieb – bis sage und schreibe zum Irakkrieg von 2003, da verließen die letzten Juden das Gebiet des alten Babylon. Darin deutet sich etwas Verblüffendes an: dass der Exodus gar nicht mehr exklusiv politisch gedacht wird, sondern sich gleichsam verinwendigt zu einer grundsätzlichen geistlichen Haltung. Um aufzubrechen und auszuziehen, muss man nicht mehr die Koffer packen, weil ich im Vertrauen auf die Nähe eines solch treuen Gottes, zu einer inneren Freiheit finden kann, die mir auch im engsten Kerker keiner nehmen kann – wir brauchen nur an Menschen wie einen Pater Alfred Delp zu denken, der am 17.11.1944 – vor der Hinrichtung aus dem Gefängnis in Berlin-Plötzensee an Luise Oestreicher schreiben konnte:

„(…) die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. (…) In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.“2

Diese Grundhaltung des inneren Exodus in die Freiheit beginnt beim Zweiten Jesaja in Babylon. Und viel später werden ein Origenes, ein Dante Alighieri und dann ein Eugen Drewermann genau auf diese Weise vom biblischen Exodus sprechen: die biblische Erzählung als Kolossalgemälde dessen, was jeder Mensch im Kleinen erlebt, der sich auf das Abenteuer des Exodus einlässt.

V
Aber da ist noch etwas in unserer Lesung, was wir nicht übersehen dürfen: Denn da hört der Prophet Gott sagen:

Die wilden Tiere werden mich preisen,
die Schakale und Strauße,
denn ich lasse in der Steppe Wasser fließen
und Ströme in der Wüste. (Jes 43, 20)

Will sagen: Der neue Exodus gilt nicht mehr nur dem Menschen, sondern der ganzen Schöpfung. Schakale und Strauße – durchaus gefährliche Tiere – werden Gott preisen und Steppe wie Wüste werden, vom Wasser getränkt, Wohnort aller Kreatur sein. Da deutet sich ein allererstes Morgenrot eines umfassenden Friedens an, ein Hauch von Versöhnung breitet sich über Mensch und Tier. Und eben diese Zukunftshoffnung verbindet sich bei unserem Propheten an anderen Stellen mit der geheimnisvollen Gestalt des messianischen Gottesknechts. Er wird uns gleich vom Palmsonntag an in der Heiligen Woche mehrfach begegnen. Der ersehnte Gottesknecht, der Gott und Volk, Mensch und Tier, Himmel und Erde, das Hohe und das Niedrige versöhnt.

VI
Ein Teil der jüdischen Glaubensgemeinschaft wartet bis heute auf den Messias. Nicht wenige haben es aufgeben. Berühmt das resignative Diktum Franz Kafkas, des wohl größten modernen Dichters deutscher Sprache, der Jude war. Er sagte einmal:

„Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird.“3

Und wir Christinnen und Christen? Wer einfach sagte: Unser Messias ist doch schon gekommen, der würde nur – zumal heute – ein müdes Achselzucken ernten angesichts der Welt und der Kirche, wie sie sich darbieten. Auch das Messianische des christlichen Glaubens ist nach vorne offen. Was das bedeutet, können wir bei einem anderen Juden lernen, bei Walter Benjamin. In seinen berühmten Geschichtsphilosophischen Thesen heißt es unter anderem:

„Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“

Und dann enden die Thesen mit den Sätzen:

Bekanntlich war es Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. (…) Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“4

Wie für Christinnen und Christen diese kleine Messias-Pforte aussehen könnte, hat uns schon ganz am Ende der Predigt zum Ersten Fastensonntag der Kirchenvater Augustinus gesagt, so dass sich mit ihm der Kreis unserer Exodus-Erkundungen schließt. Augustinus schrieb:

Incipit exire qui incipit amare
Aufzubrechen beginnt, wer zu lieben anfängt.5

Die Liebe ist die kleine Pforte, die wir dem Messias Christus öffnen können.


1Sloterdijk, Peter – Jüngel, Eberhard, Disput über die Schöpfung, in: Jahrbuch 2001. Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst, München 2001, S. 23-37, hier 28.
2Delp, Alfred: Brief an Luise Oestreicher vom 17. 11. 1944. In. Gesammelte Schriften. Hg. Roman Bleistein. Bd. IV: Aus dem Gefängnis. Frankfurt a.M. 1985. 25-28. Hier 26.
3Zit nach Balint, Benjamin: War Kafka ein jüdischer Autor? In: Die ZEIT. 07. 03. 2019.
4Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen. In: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort v. Herbert Marcuse. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1978. Hier 79 und 94.
5Augustinus: Enarrationes in psalmos. 64.2.