Esel-Theologie

Palmsonntag B: Mk 11, 1-10 + Jes 50, 4-7

I
Heute beginnen wir Heilige Woche, die im "Triduum Pasquale", dem dreitägigen Osterfest gipfeln wird, im Höhepunkt des Kirchenjahres. Unter unseren muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern hat sich ein etwas seltsamer Name für Ostern eingebürgert: Sie sagen gern „Eierfest“ dafür – ich muss nicht erklären, warum. Dabei orientieren sich viele Christinnen und Christen, die es besser wissen müssten, wenn sie von Ostern reden, an einer ganz ähnlichen Äußerlichkeit: Sie denken zuallererst an den Osterhasen, bunt oder lila oder pur.

II
Dabei läge auf der Hand, in diesen Tagen käme ein ganz anderes Sinnbild in den Mittelpunkt zurück. Auch ein Tier: den Esel. Dazu gäbe uns die Bibel reichlich Anlass, nicht nur das Palm-Evangelium, das wir vorhin zu Beginn der Prozession gehört haben. Aber schon in ihm deutet der Esel auf das Christusgeheimnis: Der da kommt im Namen Gottes, kommt nicht in Macht und Pracht, bewaffnet bis auf die Zähne, auf einem prächtig geschmückten Schlachtross, dass die Menschen vor Ehrfurcht und auch Angst davor zurückweichen. So wie damals die Kaiser einzuziehen pflegten. Nein, der nazarener Prediger, der nicht ein neues Imperium, sondern das Reich der Himmel ansagt, er kommt auf einem Eselchen, dem Lasttier der kleinen Leute.

Das war übrigens keine fröhliche Folklore. Die politischen und religiösen Autoritäten in Jerusalem nahmen nämlich sehr wohl wahr, dass dieser Jesus da eine ironische Persiflage des Machtgebarens seiner Zeitgenossen ins Bild setzte. Nicht umsonst haben sie ihm ja wenige Tage später eine Purpurdecke umgehängt, eine Dornenkrone aufgesetzt und ein Schilfrohr als Zepter in die Hand gedrückt und ihn so als Spottkönig präsentiert, den man bespucken durfte. Das war ihre Rache für die Palmsonntagskritik gewesen.

III
Doch das Sinnbild des Esels, des Lasttiers, das geduldig trägt, reicht noch viel, viel tiefer. Denn weil dieser Jesus nichts Geringeres ist als ein lebendiges Gleichnis aus Fleisch und Blut für den Gott, den er verkündet, deutet die Demutsszene vom Palmsonntag bis hinab ins Wesensgeheimnis dieses Gottes selbst. Das kommt zum Ausdruck in den vier sogenannten Gottesknecht-Liedern des Zweiten Jesaja, eines Propheten der babylonischen Exilzeit. Gleich hören wir als erste Lesung das dritte dieser Lieder, wo der gottgesandte Bote, der alles wieder ins Lot bringen wird zwischen Gott und seinem Volk, durch den Mund des Propheten von sich sagt, wie er seine Mission erfüllen wird: Nicht durch Gegengewalt als Antwort auf das Machtgebaren der Unterdrücker, sondern durch ein aufmunterndes Wort an die Müden und Unterdrückten - ein Wort, das seinem eigenen Hinhören auf Gott entspringt und das ihn gewiss sein lässt, auch in scheinbarer Ohnmacht, in Spott und Hohn, die er ernten wird, nicht unterzugehen.

IV
Und zwischen dem ersten und zweiten dieser Gottesknecht-Lieder steht eine ganz eigenartige Passage. Verse, in denen der Prophet vernehmen und dann auch aussprechen durfte, was denn der Gottesknecht seinerseits von Gott zu hören bekommt, eben jene Zusage, die ihn seine Aufgabe übernehmen lässt. Da heißt es:
Hört auf mich, ihr vom Haus Jakob,
und ihr alle, die vom Haus Israel noch übrig sind,
die mir aufgebürdet sind vom Mutterleib an,
die von mir getragen wurden,
seit sie den Schoß ihrer Mutter verließen.
[- Gott an Mutter statt! -]
ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet,
bis ihr grau werdet, will ich euch tragen.
Ich habe es getan
und ich werde euch weiterhin tragen.
ich werde euch schleppen und retten (Jes 46,3-4).

Ich bin für euch da, selbst dort noch, wo ihr eure Freiheit gegen mich kehrt und ihr diese Perversion existenziell im Zerfall eures Daseins und seiner Geschichte erfahrt. Weil Gott immer und immer derselbe bleibt – selbst noch in der vom Menschen selbst-verschuldeten Verdunkelung des Antlitzes Gottes. Und warum? Weil Gott sich uns aufgebürdet hat vom ersten Atemzug an - aufgebürdet wie die schweren Packen eines Lasttiers. Ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten. Gott ist einer, der macht sich zum Esel für sein Volk, für uns. Denn wie ein Esel wirft er seine Last noch immer nicht ab - nicht einmal dann, wenn sie unerträglich wird. Überall auf der Welt sind die Götter oben und die Menschen sind unten, müssen ihnen dienen. Bei uns steht alles Kopf: unten Gott, der sich plagt mit uns, bis wir grau werden, und wir oben, auf seinem Rücken. Das ist die existentielle Kehrseite des Gottesnamens vom Gottesberg, jenes „Ich-bin-der-ich-bin-da-für-euch-der-ich-immer-dasein-werde“ – eine Kehrseite, die die innerste Wahrheit dieses geheimnisvoll-hoheitlichen Namens überhaupt erst in ihrer eigentlichen Reichweite erahnen lässt. Bis dahin radikalisiert sich der Glaube Israels.

V
Und trotzdem ist das noch nicht alles. Gottes Wahrheit nämlich steht nicht als theoretische über der Geschichte, sondern bewahrheitet sich als praktisch-konkrete in der Geschichte. Von allem Anfang an war das so: Auch die Dornbuschwahrheit zu Beginn der Heilsgeschichte – dieses „Ich-bin-da“ – kam zunächst konkret und anschaulich zur Geltung in der Gestalt des Mose: also darin, dass Gott einen solchen begrenzten, mit Schwächen behafteten Menschen brauchen konnte, um gerade in ihm auf wunderbare Weise für das Volk da zu sein. Und keinen Deut anders geht es mit unserer Kehrseite des Gottesnamens - mit der Wahrheit, dass dieser Gott sich für uns zum alles sich gefallen lassenden Tragtier macht, um so – auf seine Kosten – über alle Verwerfungen hinweg die dramatische Geschichte zwischen ihm und seinem Volk zu einem guten Ende zu bringen.

Darum fängt unser Zweiter Jesaja mitten im Exil visionär zu reden an von einem Knecht Gottes; von einem, der absolut mit Gott vertraut und ganz in seinen Dienst gestellt gleichsam wie ein neuer Mose in einem neuen, endgültigen Exodus den Heilsplan Gottes geschichtlich verwirklichen wird. Jesaja sagt nicht, wer das sein wird – weil er ja nicht die Zukunft voraussagt; sondern aus der glaubenden Tiefenschau der gegenwärtigen Wahrheit Gottes ergibt sich, dass es einen solchen Gottesknecht um der Menschen willen geben muss – wenn Gott wahr ist. Sehr wohl aber weiß Jesaja von daher, wie dieser Gottes Knecht nur sein kann – als des geduldig tragenden, schleppenden Gottes Sinnbild aus Fleisch und Blut: Einer, der nicht schreit und lärmt und nicht einmal zurückschlägt, wenn man ihm Gewalt antut.

Und genau damit wird er sein von Gott aufgetragenes Werk für uns vollbringen – den neuen Exodus verwirklichen: Nicht mehr handelnd wie Mose einst, sondern – leidend: Nicht aus Lust am Leiden, sondern weil er so auch noch in der Situation der extremsten Verfassung, in die ein Mensch geraten kann, während eines aggressiven Hassausbruches gegen Gott die Wesensart des grenzenlos Geduldigen Ich-bin-da-für-dich beglaubigen kann. Und nicht nur beglaubigen: Indem er leidet, hält er der aggressiven Absonderung von Gott entgegen, wie überflüssig sie doch eigentlich ist gegen einen Gott, der absolut nichts für sich, aber alles für sein Geschöpf will. Und eben dadurch wird er das Geschick des Gottesknechtes, die Absonderung von Gott – die Sünde – entmächtigen.

VI
Vor knapp 2000 Jahren gab es eine kleine Gruppe von Juden, die bezeugten, ihnen sei etwas widerfahren, das sie felsenfest hat überzeugt werden lassen, dass die bestürzende Wahrheit Gottes – dass er uns schleppt und rettet um absolut jeden Preis – dass diese Wahrheit Gottes mit Sinnen zu greifende Wirklichkeit geworden ist mitten in der Geschichte. Das sind die Christinnen und Christen, die das Geschick Jesu im Doppellicht der Gottesknecht-Lieder und des Ostermorgens deuten. Wir stehen auf den Schultern dieser Mütter und Väter im Glauben, auf den Schultern einer Maria von Magdala, der apostola apostolorum, wie Thomas von Aquin sie nennt und auf den Schultern der andern Frauen, auf den Schultern des Zwölferkreises und der Jünger von Emmaus. Deswegen begeben wir uns jetzt hörend und betend hinein ins Ostergeschehen.