Nie zu vergessen

Erntedank B: Dtn 8, 7-18

           
I
Es trifft sich gut, dass wir unser liturgisches Jahr hier in der Dominikanerkirche mit dem Erntedankfest beginnen. Für die meisten von uns gibt es gar nicht so wenig, wofür zu danken wäre. So Vieles nehmen wir tagein tagaus als selbstverständlich hin. Niemand von uns musste hungern. Niemandem von uns fehlte ein Dach über dem Kopf. Niemand fiel hinten runter, wie man so sagt, wenn ihn oder sie ein Missgeschick, gar ein Unglück traf. Auch als Gemeinde können wir dankbar sein, dass wir – nach acht Jahren Hängepartie – noch immer in diesem Gotteshaus sind. Aber – ich frage Sie: Was ist das alles in Wirklichkeit, wenn wir es an dem messen, was seit Monaten und in den letzten Wochen vor unser aller Augen geschieht: die Flüchtlinge! Menschen, die zu Abertausenden ihre geliebte Heimat, ihre Familien und Freunde verlassen, weil sie aus ethnischen oder religiösen Gründen schlicht mit einem grausamen Tod bedroht werden oder ihnen das Allernötigste für das tägliche Überleben nicht mehr zur Verfügung steht.

II
Wir leben in unserem Land seit 70 Jahren in Frieden – das gab es in der Geschichte dieses Kontinents noch nie. Die westeuropäischen Länder   – und zumal Deutschland – haben es dabei zu einem Niveau von Wohlstand gebracht, den sich selbst ein, zwei Generationen vor uns noch nicht einmal vorstellen konnten. Und ich rede nicht von der kleinen Oberschicht, die im Reichtum schwimmt, während die soziale Schere selbst bei uns immer weiter aufgeht. Nein, ich rede nur davon, wie ich, wie Sie, die meisten von uns, Junge und Alte, im Durchschnitt leben: Gesundheitsvorsorge, Bildung, Kulturelles, Wohnen, Reisen, Unterhaltung, das Sich-gut-gehen-Lassen, auch wenn wir ordentlich etwas tun müssen dafür. Nichts davon ist schlecht, im Gegenteil! Aber wie selbstverständlich ist uns das doch alles geworden und wie schnell wird auf Ansprüche gepocht, die so Manche zu haben meinen, wenn einmal etwas nicht exakt dem Niveau entspricht, wie sie das ihrer Meinung beanspruchen dürfen. Man muss da nur einmal die Bewertungen von Hotels, Restaurants oder Dienstleistern im Internet lesen, mit welcher Schamlosigkeit da oft gemäkelt: das Bett zu hart, die Dusche zu klein, die Marmeladensorten beim Frühstück zu wenig, der Prosecco zu warm und und und. – Und dann denke ich wieder an die Flüchtlinge.

III
Sie kommen aus Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Jemen, Eritrea – alles failed states, Länder also, in denen sämtliche öffentliche Strukturen zusammengebrochen sind, weil sie Warlords in die Hände fielen oder durch die Ideologie und die Interessen westlicher Kriegsverbrecher wie einen George W. Bush, einen Dick Cheney oder Donald Rumsfeld in den Abgrund gerissen wurden. Die Flüchtlinge kommen aus dem Subsahara-Afrika, aus Mali, Burkina Faso, aus Ghana (ja, auch von dort!), aus Benin, wo immer noch Kindern entführt, verkauft und für Hexenkulte geschlachtet werden, aus dem Kongo, so groß wie ganz Westeuropa, das gerade noch über wenig mehr als tausend Kilometer befahrbare Straßen verfügt, sich in der Hand von fanatischen Befehlshabern von drogenabhängigen Kindersoldaten befindet, die auf Leben und Tod um die Rohstoffe kämpfen, die wir Westler für unsere Notebooks und Smartphones brauchen. Alles Länder der Erdregion mit der jüngsten Bevölkerung – 60% sind im Alter zwischen 15 und 28. Und die Menschen dort sehen einfach keine Chance mehr für sich und fühlen sich zugleich wie magisch von den Verheißungen der alten Welt angezogen, die man ihnen vorgaukelt. Jedes Risiko, diesem Elend zu entkommen, ist unvergleichlich attraktiver als einfach in der Heimat zu bleiben. Fachleute gehen davon aus, dass derzeit ca. 11 Millionen Menschen aus Afrika, Vorder- und Mittelasien Richtung Europa unterwegs sind.

IV
11 Millionen! Und was tut der Westen, die Länder des Alten Europa und die USA – mit wenigen Ausnahmen: Zäune und Mauern hochziehen, sich abschotten, wegsehen vom Elend. Manchmal wird auch geschossen auf die, die mit letzter Kraft den Stacheldraht von Ceuta und Melilla überwinden, um sich in das todgefährliche Abenteuer der Mittelmeerüberquerung in Schlauchbooten zu stürzen. Mit liegt absolut fern, hier einfach aus der sicheren Warte des wohlbestallten Moralisten mit C4-Gehalt Klage zu führen. Zu viele sind der Zeugnisse der Menschlichkeit, mit denen Flüchtlinge in den letzten Wochen nicht nur, aber gerade auch bei uns in Deutschland aufgenommen wurden. Zu Recht hat man etwa die vielen Bürgerinnen und Bürger in München bewundert, dass sie so mir nichts dir nichts sich um schiere 70 000 Ankömmlinge gekümmert haben. Klar ist freilich auch, dass es mit dieser Willkommenskultur noch keineswegs getan ist, im Gegenteil: Die großen Aufgaben kommen erst jetzt: Wer darf bleiben? Welchen Platz finden die Menschen in unserer durchdigitalisierten Gesellschaft? Wie werden Sie mit dem moralischen und religiösen Pluralismus, zumal der manchmal provokanten Libertinage zu Recht kommen? Fragen über Fragen. „Wir schaffen das“, sagte die Bundeskanzlerin. „Schaffen wir es?“ fragen andere zurück, und nicht nur ihre politischen Gegner. Vorletzte Woche hat der Spiegel die Kanzlerin auf der Titelseite in die Ordenstracht von Mutter Theresa gesteckt und als „Mutter Angela“ karikiert. Europa und auch unser Land werden sich durch all das ändern. Wie genau und was das alles einschließt, kann heute noch niemand sagen. Sicher ist nur, dass diese Umbrüche tiefer reichen als die deutsche Wiedervereinigung 1989 und der Anschlag auf die Twin Towers von Nine eleven.

V
Vielleicht tut uns gut, angesichts all dessen, was ich eben aufzählte, und vielleicht auch angesichts des Unbehagens, gar der Angst, die da bei mancher oder manchem aufkommen mag, ein wenig daran zu denken, was wir gegenüber diesen Flüchtlingen – wenn wir denn einmal geistlich auf alles blicken – selber sind: Wenn wir die Gedächtnisgeschichten der Bibel erst nehmen, müssen wir sagen: Im Grunde und von unserer Herkunft her gesehen sind wir nichts anderes als sie, diese Flüchtlinge, auch wenn das äußerlich sich ganz anders ausnimmt. Nicht nur an der Stelle der heutigen ersten Lesung aus dem Buch Deuteronomium, sondern auf vielfältige Weise auch anderswo in der Bibel wird Israel daran erinnert, seine entscheidende Geschichte mit Gott – den Exodus – als Flüchtling begonnen zu haben. Und es wird gemahnt, über allem Wohlergehen, das ihm geschenkt wurde in dem Land, in dem es ihm an nichts fehlt, wie es heißt, sich in Acht zu nehmen, dass sein Herz nicht hochmütig werde und es nicht den Gott vergesse, der es aus dem Sklavenhaus geführt, in der Wüste genährt, getränkt und beschützt hat:
Nimm dich in acht und denke nicht bei dir: ich habe mir diesen Reichtum aus eigener Kraft und mit eigener Hand erworben. Denk vielmehr an Jahwe, deinen Gott; er war es, der die Kraft gab… (Dtn 8, 17f.).
Und das stimmt ja: Was haben wir denn wirklich aus uns selbst? Die ganzen Selbstoptimierungsstrategien von heute, das Enhancement von Mind and Body, das Immer-mehr-immer-besser-immer-schneller kann nicht darüber hinweg täuschen, dass wir allein aus uns selbst nicht einmal ein Samenkorn zu Sprießen zu bringen vermöchten, wenn das nicht in ihm angelegt wäre. Das Wissen um dieses abgründige verdankt Sein, das den Israeliten so unauslöschlich ins Stammbuch geschrieben war, blieb auch in der Gemeinschaft der Jesus-Leute, also der Kirche lebendig. Nicht nur, weil Jesus selbst von sich sagte, die Füchse hätten Höhlen und die Vögel Nester, doch er selbst habe nichts, wohin er sein Haupt hinlegen könne sei, also ein Heimatloser. Dieses Bewusstsein hat auch später die frühe Kirche geprägt und hat sich bis heute in einem Namen erhalten, der uns völlig geläufig ist, ohne dass wir mit ihm auch nur eine Spur jener dramatischen Herkunft verbinden würden: Pfarrei. Das Wort kommt vom griechischen „paroikia“ – und das meint wörtlich genommen: In der Fremde weilen, also Heimatlosigkeit. Das mag im ersten Moment verblüffen, gibt aber genau das Selbstverständnis der frühen Kirche wieder: Denn für sie war klar: Unsere Heimat ist im Himmel, wie es im 3. Kapitel des Philipperbriefes heißt. Alles, was jetzt ist und was wir jetzt besitzen, ist gewiss ein Gottesgeschenk und darum wertvoll und schon gar nichts Schlechtes. Aber es ist vorläufig. Darum muss ich nicht mit allen Fasern daran hängen, kann deshalb auch teilen und loslassen.

VI
Das aber, wenn es denn für wahr genommen wird, lässt sich gar nicht  schwer ins Heute übersetzen: Man sagt, dass in den nächsten Jahren auf dem Hintergrund der zurückliegenden Wohlstands- und Friedensjahre allein in Deutschland ein Vermögen von zweieinhalb bis drei Billionen Euro vererbt werden wird. Billionen! Billion ist eine Zahl mit zwölf Nullen und steht für 1000 Milliarden. Also 2500 bis 3000 Milliarden Euro werden demnächst vererbt, ohne dass die Erben dafür groß etwas tun mussten. Aber was ist dann vor diesem Hintergrund die Million von Flüchtlingen, die vermutlich in diesem Jahr nach Deutschland kommen wird? Und selbst, wenn sich das noch ein paar Jahre wiederholte, änderte sich daran nicht viel.

Der Münchener Oberbürgermeister sagte auch gerade heraus, das Geld sei in der Flüchtlingsfrage auch gar nicht das Problem ist. Worauf es unvergleichlich mehr ankommt: das Mitgefühl. Das Herz. Die Menschlichkeit. Das Bewusstsein: Sie, die Flüchtlinge, sind wie wir. Nur im Wissen um diese tiefe Zusammengehörigkeit wird unser Land, werden wir den Mut und die Geduld finden, für all die großen Herausforderungen, die vor uns liegen, gute Antworten zu finden. Und vielleicht besteht eine erste Aufgabe für die Kirche und die Gemeinden jenseits der notwenigen praktischen Hilfen darin, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürger in der spätmodernen und säkularen Gesellschaft, in der wir leben, ein wenig Erntedank-Empfinden nahezubringen. Das  Gespür für das unglaubliche beschenkt Sein, das wie von selbst zum Teilen motiviert. Und vielleicht käme dabei selbst für religiös weniger „Musikalische“ von Ferne ein wenig Ahnung auf, dass das, was uns jetzt umgibt und unser Leben ausmacht, tatsächlich nicht unsere bleibende Heimat ist.