Die Heilige Woche der Philosophen

Vom Einzug, der ein Auszug ist

Palmsonntag C: (Jes 50, 4-7+ Lk 19, 28-40)

I
Wir feiern Ostern, den Ursprung und die Mitte unseres Glaubens. Fünffach ausgefaltet begehen wir das eine Geheimnis. Bald am Gründonnerstag das Abschiedsmahl Jesu, dann am Karfreitag sein Leiden und Sterben, danach einen Tag der Stille im Gedenken an die Grabesruhe des Herrn. Am Sonntag dann zur Stunde, da sich der erste Schimmer des Morgenlichts zeigt, werden wir das Osterfeuer entzünden und den Auferstandenen preisen. Und jetzt leiten wir all das ein mit dem Gedächtnis des Einzugs Jesu in seine Stadt Jerusalem, demütig reitend auf dem Rücken einer Eselin, er, der Weltenkönig.

II
Alle fünf Fastensonntage haben wir einem einzigen Thema nachgesonnen: dem Exodus, dem Auszug, vom allerersten der Abrahamssippe, über den aus Ägypten bis zum Exodus aus dem babylonischen Exil. Heute feiern wir das genaue Gegenteil eines Auszugs, nämlich den Einzug Jesu in Jerusalem, jedenfalls äußerlich gesehen. Blickt man aber auf die Palmsonntagsgeschichte in der Perspektive des gesamten Lebens Jesu, dann merkt man auf einmal, dass es sich bei diesem Einzug in Jerusalem in Wirklichkeit wiederum um einen Exodus, einen Auszug handelt: Jesus, getrieben von seiner Gottesmission, verlässt sein bisheriges Leben und bricht auf in eine Zukunft, für die er alles aus den Händen gab, was ihn bisher trug – ein Exodus voller Gefahren wie alle Exodusse. Nein! Noch gefährlicher. Schon in der Lesung aus dem Zweiten Jesaja am fünften Fastensonntag hat sich ein allererster Hauch der messianischen Zeit angedeutet, die ein geheimnisvoller Gottesknecht heraufführen würde. Heute nun, in der ersten Lesung, begegnet uns dieser Gottesknecht sozusagen live: Ein treuer Jünger, ganz Ohr für Gott und sein Prophet, der Gottes Plan der Versöhnung des Menschen mit sich nicht handelnd, gar mit Gewalt, verwirklicht, sondern leidend. Nicht aus Lust am Leiden, sondern aus Leidenschaft für Gott und den Menschen lässt er sich zur Passionsikone machen, die ins Bild bringt, wie Gott an der Sünde leidet und was er auf sich nimmt, sie zu entmachten und zu verwinden. Es mag verwegen klingen und scheint mir doch zu stimmen: Der Einzug in Jerusalem, der in Wahrheit ein Auszug war, ist der Beginn eines noch unendlich viel tieferen Auszugs, nämlich des Exodus´ Gottes aus dem Äon seiner Herrlichkeit in die Todessphäre der Menschen und der ganzen Schöpfung.

III
Das klingt, genau besehen, alles sehr philosophisch – ein Einzug, der ein Auszug ist, der bis in Innerste des Geheimnisses Gottes führt. Dennoch hat meines Wissens kein Philosoph und keine Philosophin sich den Palmsonntag explizit je zum Thema gemacht. Und dennoch stößt man bei manchen Autoren so en passant auf Gedanken, die sich – wie Metallsplitter auf den Magneten – auf jene Innenseite des Palmsonntags auszurichten scheinen. Einer der einschlägigen Autoren ist der Franzose, Kommunist und Atheist Alain Badiou, seit Jahren viel diskutiert auch wegen seiner Auseinandersetzung mit dem Apostel Paulus.

In einem Gespräch unter Philosophen kommt Badiou auf drei alte Geschichten, die sich alle um die Brennpunkte Macht und Recht bzw. Macht und Liebe drehen: Die erste handelt von Sokrates und Kallikles. Kallikles behauptet, das Recht sei die Macht, und glücklich wäre zu nennen, wer sich über die anderen hinwegsetzt. Sokrates widerspricht entschieden und gibt sich überzeugt, dass wahrhaft glücklich nur der sein kann, der sich für die Gerechtigkeit entschieden hat. Tertium non datur. Kein Kompromiss, kein Mittelweg. In dieser Frage muss sich der Mensch entscheiden. Die zweite Geschichte handelt von Archimedes, dem berühmten Mathematiker, und dem General Marcellus. Dieser will den Archimedes sofort und auf der Stelle durch einen Soldaten vorgeführt bekommen. Archimedes aber lässt nicht ab von seinen Berechnungen, die er gerade anstellt – und der Soldat zückt wutentbrannt das Schwert und streckt den Mathematiker nieder: Macht, zumal Gewalt, und schöpferisches Denken verfügen über keinen gemeinsamen Maßstab. Und die dritte Geschichte kommt aus dem japanischen Film Die Legende vom Meister der Rollbilder. Er erzählt von einer jungen Ehefrau, die sich in einen anderen verliebt. Beide fliehen. Der verlassene Ehemann sucht – aus Liebe zu seiner Frau – beide zu schützen, obwohl er den Ehebruch anzeigen müsste. Die Liebenden werden dennoch gefasst und zur Hinrichtung geführt. Rücken an Rücken gefesselt strahlen ihre Gesichter dennoch aus, dass sie von der Liebe ganz erfüllt sind, weil sie es ist, die dem Tod widersteht. So offenbart die Geschichte einen Hiat zwischen der Liebe und dem alltäglichen Leben, weil das Ereignis der Liebe eine Ausnahme ist. Vor diesem dreifachen Hintergrund formuliert der Atheist Badiou sein im Grunde zutiefst religiöses, genauer: christliches Glaubensbekenntnis, wenn er sagt:

„Wenn ihr möchtet, dass euer Leben einen Sinn hat, dann müsst ihr das Ereignis annehmen, Abstand zur Macht wahren und unerschütterlich in eurer Entscheidung sein.“1

Und genau all diese Momente finden sich in der Palmsonntagsgeschichte und dem zugehörigen dritten Gottesknechtlied: Abstand zur Macht wahren: Jesu Einzug in Jerusalem ist ja in Wahrheit nichts anderes als eine machtkritische Persiflage der Siegeszüge, mit denen erfolgreiche Imperatoren und Feldherren zumal in Rom sich feiern ließen. Das Ausnahme-Ereignis der Liebe annehmen, die kein anderes Gesetz kennt als sich selbst – dafür steht der Gottesknecht, den schon die früheste Gemeinde mit dem Christus der Passion identifizierte. Und die unerschütterliche Entschiedenheit Jesu, nach Jerusalem hinaufzuziehen.

IV
Seltsam. Ausgerechnet Kommunisten scheinen ein besonderes Sensorium für das Ausnahme-Ereignis der Liebe zu haben. Einer von ihnen, Heiner Müller, einer der bedeutendsten Bühnenautoren deutscher Sprache im 20. Jahrhundert, wurde einmal in einem Interview gefragt, was er denn mit seinen oft verstörenden Stücken eigentlich bezwecke. –

Vielleicht hinter allem Trug und Glimmer den Kern freilegen, auf den man etwas bauen kann, antwortete er. – Wie denn dieser Kern aussehe, bohrte der Interviewer weiter. – Darauf Müller: Mir fällt dazu nur etwas ganz Beiläufiges ein. Ich denke an die Geschichte jenes kleinen jüdischen Sportjournalisten, der mit einem der letzten Schiffe in Richtung USA davonkam im Zweiten Weltkrieg. Das Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert. Er war schon in einem Rettungsboot, das Boot war voll. Da wurde noch eine Mutter mit einem Kind hineingezogen, und es war kein Platz mehr. Aber er hat sich stumm nach hinten fallen lassen, und es war Platz für sie... Die Frage ist letztlich, ob man dazu fähig ist.

Das ist jenes Innerste, das sich beschreibenden Worten verweigert und allenfalls in Lebensgeschichten ahnbar wird wie der von dem jüdischen Sportreporter. Ein Mensch könnte sein eigenes Leben retten. Aber er verzichtet darauf zugunsten eines anderen. Keiner stirbt gern, schon gar nicht, wenn er das Durchkommen zum Greifen nahe hat. Und doch gab der Mann sich selber daran, damit andere durchkamen. Wie kommt ein Mensch dazu, so zu handeln? Im Letzten wird es genauso viele Gründe dafür geben, wie es Menschen gibt, die so handeln. Weil jede und jeder gerade in einer solchen Situation unvertretbar und einsam auf sich selbst gestellt ist. Aber eines gehört immer dazu: Wer sein Leben für etwas oder jemanden einsetzt, ja herzugeben sich entschließt, ist überzeugt, dass zum wirklichen Leben etwas gehört, was mehr bedeutet, als da zu sein in der Welt und mitzumachen.

V
Dieses Darüber hinaus über den eigenen Vorteil und über das Überleben hat schon immer viele Namen und Gestalten gehabt: Menschen sind gestorben für Ideen und Überzeugungen, für die Wahrheit, aus Liebe oder Mitgefühl. Aber sie konnten das nur, weil sie überzeugt waren oder zumindest spürten, dass das, wofür sie ihr Leben drangaben, über ihr eigenes Ende hinaus in Geltung bleibt und nicht zerstört werden kann.

Christinnen und Christen sind überzeugt, dass dieses rätselhafte Darüber hinaus durch das Sterben Jesu in seiner eigentlichen und ganzen Wirklichkeit offenkundig geworden ist. Jesus hat sein Leben einem einzigen Anliegen verschrieben: Menschen nahe zu bringen, dass ihr Leben durch und durch von Gott kommt und an Gott hängt – und dass dieser Gott niemand ist, den man fürchten muss, sondern dem man unbedingt trauen darf. Wenn das wahr ist, hat es für alles Menschliche Folgen, die bis an die Wurzeln reichen: Wenn Gott das Leben trägt – und Gott allein –, gibt es keine anderen Trägerschaften, nicht die Natur und nicht die Geschichte, nicht Staat und nicht Gesellschaft, nicht Menschen und Autoritäten und nicht einmal Religion und Kirche. Wenn sich eine dieser Instanzen diese Rolle anmaßt, verfällt sie der Kritik. Genau das hat Jesus getan: Er hat den Menschen radikal freigesprochen, freigesprochen von allen Dienstbarkeiten, allem unterworfen sein, allen Opfern, mit denen er sich von anderen das Recht da zu sein erkaufen muss oder auch nur meint, erkaufen zu müssen. Der Mensch ist frei und muss sich vor nichts und niemandem in der Welt fürchten. Weil Gott für ihn ist. Mit diesem Versprechen in Händen dürfen wir jetzt eintreten in die Feier der Heiligen Woche.


1Badiou, Alain. Zit nach. Pflaum, Michael: Predigten zum Lesejahr A. Ich bin bei euch alle Tage. BoD Norderstedt 2016. 71-74. Dem Buch vom Pflaum verdanke ich die Hinweise auf Badiou.