Mit uns einverstanden sein dürfen

Maiandacht B: 1 Kor 15,54-57

I
Am 1. November 1950 hat Papst Pius XII. die schon seit dem fünften Jahrhundert in der Kirche lebendige Überlieferung von der Aufnahme Mariens in den Himmel feierlich zum verbindlichen Glaubensgut erklärt. An eben diesem Tag, zu genau der Stunde, da der Papst dies tat, geschah in Zürich etwas Seltsames: Carl Gustav Jung, der große Psychologe und Symbolforscher hielt zusammen mit den Studenten seines Instituts eine festliche Seminarsitzung. Jung, der selbst der evangelischen Kirche angehörte, die sich meist mit der katholischen Marienfrömmigkeit und weit mehr noch mit dem Verständnis des päpstlichen Amts schwertat und schwertut, zögerte nicht, vor den in der Mehrheit ebenfalls evangelischen oder nicht-glaubenden Studenten zu sagen, das Fest Mariä Himmelfahrt sei eine geniale Antwort der Kirche auf die zynische Verachtung menschlichen Lebens, wie sie das XX. Jahrhundert unüberbietbar in den Gräueln des Zweiten Weltkrieges an den Tag gelegt habe. Fast will mir scheinen, Jung habe von der Wahrheit des heutigen Festes damals schon weit mehr verstanden als manche katholische Christen heute noch.

II
Und doch möchte ich noch viel weiter gehen. Ein Skeptiker wird es Zufall nennen; als Gläubige werden wir mit Fug und Recht den unbezähmbaren Gottesgeist am Werk sehen dürfen, wenn wir bedenken, dass die gerade in Sachen Leiblichkeit notorisch so ängstliche katholische Kirche mit der feierlichen Verkündigung der Aufnahme Mariens in den Himmel regelrecht über den eigenen Schatten gesprungen ist. Wo immer von unserem irdischen Dasein geglaubt wird, dass es ganz und gar unter dem Horizont der Gnade steht – und eben das tun wir Christen ja mit unserem Bekenntnis zum Schöpfer des Himmels und der Erde – da wird diesem irdischen, leiblichen, sinnlichen Leben zuerkannt, nicht etwas Randständiges zu sein, sondern aus sich heraus gleichsam an den Himmel zu rühren. Dass wir unsere schönsten Gefühle über den Leib und seine Sinne ausdrücken und die bewegendsten Eindrücke über sie aufnehmen; dass wir denkenden und mit dem Sehnen der Seele ins Unendliche reichenden Wesen zugleich zutiefst der Erde zugehören und im Austausch mit ihr unser einmaliges Dasein, auch das Geistigste an ihm, erhalten – das sind für uns Christen nicht gleichgültige Vorgänge in einem beliebigen Material jenseits dessen, was das Eigentliche unseres Menschseins ausmacht. Zwei Hände voll Staub nur sind wir – ja, das ist wahr! Aber: Zwei Hände voll Staub, der Erde vermählt und Gott anvertraut. Und so sind gerade in unserem zerbrechlichen Menschsein gleichsam Himmel und Erde, Geist und Leib, Natur und Gnade ineinander verwebt.

III
Wenn dies aber so ist, dann sind der Leib und im Letzten die ganze Natur, der er zugehört, nicht nur nicht gleichgültig gegen das, was unsere Seele in ihrem Suchen nach Wahrheit und Glück bewegt. Dann dürfen wir stattdessen auch gewiss sein, dass die ganze sichtbare und mit Händen zu greifende Schöpfung selber auf für uns durchaus erkennbare Weise die Signatur dessen tragen wird, der sie ins Dasein gerufen hat. Glaubend werden wir alles, was zu unserem leiblichen Dasein wesentlich gehört: das Wachsen, Reifen und Sich-verändern, der Unterschied der Geschlechter, die elementaren Triebe, das unserer Verantwortung übertragene Ausprägen unserer ureigenen Persönlichkeit – glaubend werden all das als Gabe dessen begreifen, der uns gratis – aus Gnade – Leben gütig gönnt und Sorge trägt um uns.

IV
Alles andere als ein Zufall ist, dass sich in unserer katholischen Frömmigkeit diese Dimension des Leiblichen und Sinnlichen ganz intensiv mit der Verehrung Mariens verbindet: Das beginnt damit, dass wir sie „Gottesgebärerin“ nennen – denn was gäbe es Sinnlich-Leiblicheres als die Geburt eines neuen Menschleins! Es setzt sich darin fort, dass Maria seit je in allen Nöten als die große Fürbitterin angerufen wird, gerade in den Gebrechen, die oft unser leibliches Dasein beschweren – denken Sie nur an die buchstäblich nicht mehr zählbaren Votivgaben oder -bilder an den großen Marien-Wallfahrtsorten, hier bei uns in Altötting, in Lourdes, in Fatima oder nehmen Sie die Verehrung der Jungfrau von Guadalupe in Mexico-City, dem größten Marienwallfahrtsort der Welt. Und es endet damit, dass wir an Mariä Himmelfahrt die Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel mit Leib und Seele feiern – weil wir aus der Heiligen Schrift gewiss sein dürfen, dass ein Mensch, der wie Maria ganz geglaubt, also ohne Vorbehalt für Gott offen war, auf ihn gehört und für ihn gelebt hat – dass ein solcher Mensch auch mit allem, was zu diesem seinem auf Gott gerichteten Leben gehört, also auch dem Leib, in Gottes Ewigkeit eingegangen ist.

IV
Gerade an der Jungfrau von Guadalupe leuchtet dabei noch etwas in besonderer Weise auf. Sie wird liebevoll „Morena“, also Mohrin genannt, weil ihr Bildnis sie dunkelhäutig zeigt. Maria, so die Überlieferung, ist damals einem jungen Indio in Gestalt eines dunkelhäutigen Mädchens erschienen, just an einem Ort, wo vorher die aztekische Göttin Tonantzin verehrt wurde. „Tonantzin“ heißt übersetzt „verehrte Mutter“ und war die wichtigste Göttin im vorspanischen Mexiko als Göttin des Lebens. Für Christen ist das mit dieser Gestalt verbundene uralten Suchen nach dem Leben und die Ehrfurcht vor ihm gleichsam in die Gestalt Mariens eingeflossen und hat in ihr sozusagen einen geistigen Ort gefunden. Ganz ähnlich in Kuba, wo Maria bis heute die Züge der „Patcha Mama“ trägt, der Mutter Erde, und auch in ihrer Gestalt dargestellt wird. Oder im Ägypten der Antike die Göttin Isis, mit ihrem Sohn, dem Horus-Knaben auf dem Arm, auf der Mondsichel stehend und manchmal eine Schlange niedertretend – auch sie einst die Göttin des Lebens und der Todesüberwindung. Für Christen ist das alles kein heidnischer Unfug, sondern so etwas wie ein ahnungsvolles Vorausbild und Vorspiel dessen, was wir uns in Maria als geschenkt glauben.

V
So vermag uns gerade Maria als Inbild des Leiblichen am Menschsein mit Menschen anderer Kulturen und Religionen verbinden und an die so unantastbare wie unverlierbare Würde unseres irdischen, endlichen Daseins zu erinnern. Wenn wir auf die Gottesmutter schauen, dürfen wir mit unserem Leben samt seiner Endlichkeit einverstanden sein, solange wir nur auf Gott hin unterwegs bleiben.