Vom Kleinen und Großen im Christsein

Fest Hl. Stephanus B: Apg 6, 8-10; 7, 54-60 + Mt 10, 17-22

I
Wie selbstverständlich feiern gläubige Christinnen und Christen in diesen Tagen die Geburt Jesu, nehmen sich Zeit wie sonst nie im Jahr, um sich dessen zu erinnern, von dem der christliche Glaube seinen Namen erhalten hat. Das gilt durchaus auch für manche, die sich – wie man gern sagt – eher als religiös unmusikalisch betrachten. Dass sie im Werktag hier und da vielleicht sagen mögen „Ich glaub nix, mir fehlt nix“, muss nicht im Widerspruch dazu stehen, dass das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach oder die Orchestermesse jetzt in einem leises Echo die Ahnung auslöst, dass da doch noch was anderes im Leben sein könnte, was sich mit Shareholder-Values, politischen Optionen oder Facebook-Likes nicht so einfach verrechnen lässt.

II
Für mich ist auch das in Ordnung – und wer wollte urteilen, was im Innersten eines Anderen wirklich passiert. Aber zu leicht dürfen wir es uns mit diesem Weihnachten auch nicht machen: Die so genannten Fernen nicht und die so genannten Nahen erst recht nicht. Das kommt schlicht daher, dass die christliche Kirche und ihre Traditionen Jahrhunderte – ja, Jahrhunderte – lang so etwas wie ein Weihnachtsfest gar nicht kannte. Denn alles stand von Anfang an im Bann von Ostern. Und es war für die frühe Gemeinde Herausforderung genug, der spätantiken Gesellschaft, in der sie lebte, diesen ihren Ursprung zu vermitteln, der Querstand zu allem, was der damaligen Frömmigkeit und Gottessuche plausibel schien: Ein Gott, der am Kreuz als Verbrecher stirbt – also bitte! Geschmackloser geht’s ja wohl nicht im Vergleich zu unserem leuchtenden Apoll, dem fetzigen Hephaistos, der klugen Athena, dem erotischen Hingucker Aphrodite und dem, tja, Womanizer Zeus.

III
Deswegen mussten die frühen Christinnen und Christen von ihrem Jesus auch eine große Geschichte erzählen. Und das konnten sie durchaus und mit gutem Recht – auch wenn das eine ganz andere Geschichte war. Denn sie waren überzeugt, dass das Leben dieses Jesus in engstem Zusammenhang mit der großen geistlichen Geschichte, der Gottesgeschichte seines Volkes steht. Und so modellieren sie die so genannten Kindheitsgeschichten der Evangelien bei Matthäus und Lukas: Ziemlich sicher wurde Jesus in Nazareth geboren. Das Kind, der in Nazareth wohnenden Maria und Josef, musste aber in Betlehem geboren werden, weil das die Propheten vom kommenden Messias vorausgesagt hatten. Also braucht es eine Wanderung von Nazareth nach Betlehem – ausgelöst von einer Volkszählung, die es tatsächlich irgendwann um das uns unbekannte Geburtsjahr Jesu herum gegeben hatte. Und dann die Herodes-Geschichte. Der war in der Tat bekannt für seine Grausamkeit und die Angst um seine Herrschaft, die ihn nicht davor zurückschrecken ließ, seine eigenen Söhne aus Angst um seine Vorherrschaft umzubringen. Und was erst, wenn da wirklich ein anderer König geboren sein sollte! Deswegen lässt Matthäus die heilige Familie nach Ägypten fliehen, just den Ort, von dem Israel ins gelobte Land zurückkehren sollte, geführt von dem Mose, der Gottes Gebote auf dem Berg Sinai empfangen durfte. Und eben von dort kommt jetzt Jesus nach Israel zurück, um auch von einem Berg, dem Berg der Seligpreisungen, das neue Gebot Gottes zu verkünden. Und dass das nicht nur für Israel, sondern für alle Völker gelten soll, deutet jener Stern an, der die Weisen aus der östlichen Ferne an die Krippe geführt hat – ein astronomisches Ereignis ein paar Jahre vor oder nach der wahrscheinlichen Geburt Jesu, das Matthäus seiner Geburtsgeschichte Jesu eingegliedert hat, um den die ganze Welt umspannenden Anspruch der Jesus-Botschaft anzudeuten.

IV
Die Kindheitsgeschichten Jesu in den Evangelien sind also große Gedichte. Sie verdichten aus dem Fundus des Alten Testaments und teils auch aus ägyptischer Frömmigkeit, was es mit diesem Jesus eigentlich auf sich hat. Sind sie deshalb unwahr? Nein, im Gegenteil: Indem sie in diese Geschichtstiefen zurückgreifen, machen sie buchstäblich wahr, dass sich an diesem und durch diesen Jesus erfüllt, was religiös suchende Menschen seit je erhoffen: Einen Gott, der sich nicht in Macht und Pracht und Gewalt manifestiert, wie das so viele Götter in der Geschichte getan haben, sondern sozusagen auf Augenhöhe mit den Menschen, mit ihnen auf Du und Du, verbunden mit ihnen selbst dort noch, wo es dunkel um sie wird.

V
Genau dieses Gottesbild hat auch dazu geführt, dass das spät entstandene Weihnachtsfest das viel ältere Gedenken an den ersten Märtyrer der Kirche, an Stephanus, nicht hat überblenden können, weshalb wir sein Gedächtnis bis heute als Zweiten Weihnachtstag feiern. Was faktisch und geschichtlich so geworden ist, hat aber zugleich einen tiefen geistlichen Grund.

Warum war der frühen Kirche das Gedenken an Stephanus so wichtig? Weil sie in seinem Martyrium so etwas wie eine Besiegelung von Ostern erblickte. Wenn einer für seinen Glauben zu sterben bereit ist, ratifiziert er den Karfreitag und den Ostersonntag, legt also Zeugnis ab von einem unzerstörbaren Leben. Das letzte Buch des neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, redet eben davon in vielen Bildern. Wir hier in Sankt Anton sind diesbezüglich privilegiert. Denn unser Gotteshaus stellt uns das bildhaft vor Augen, hier über der alten Kanzel. Da sehen sie die Vielen, die – wie es in der Apokalypse, der Johannes-Offenbarung heißt – hundertvierundvierzigtausend, also 12 mal 12 mal tausend, die durch das Himmeltor schreiten, weil sie der Botschaft Jesu getraut haben.

Diese Botschaft kommt dabei in paradoxen Bildern zur Sprache, so etwa darin, dass die im Glauben Treuen ihre Gewänder im Blut des Lammes waschend weiß gemacht hätten. Die Absurdität dieses Bildworts sprengt alles Herkömmliche. Es will sagen: Im Tod beginnt ein Leben. Das Größte offenbart sich im Kleinsten. Gerade so, wie es ein namentlich unbekannter Jesuit als Grabspruch über seinen Ordensvater Ignatius von Loyola formuliert hat:
Non coerceri a maximo,
contineri tamen a minimo,
zu Deutsch:
Vom Größten sich nicht bezwingen,
vom Kleinsten sich einnehmen lassen.
Der Dichter Hölderlin hat eben diesen Spruch als Motto über seinen Hyperion-Roman gesetzt. Und der junge Joseph Ratzinger zitierte ihn, als er noch ein mutiger Theologe und nicht reaktionären Einflüsterern erlegen war, in seinem schönsten Buch, der Einführung ins Christentum – just dort, wo er in der Spannung zwischen Vernunft und Glaube nach Gott fragt.
 
VI
Und eben dies ist auch der geistliche Berührungspunkt zwischen Weihnachten und dem Stephanusfest, weshalb eben doch beide aufs Engste zusammengehören: Dass im Kleinsten, im Unscheinbarsten, im Ärmsten, ja selbst im Ungestalten wie einem Martyrium noch das unvergleichlich größere Gottes aufleuchten kann –  so wie das auch im armseligen Krippenkind von Betlehem geschah. Weil eben der Gott des Christentums nicht ein Gott in Macht und Pracht ist, sondern einer, der so groß ist, dass er es sich leisten kann, auf alles Göttliche zu verzichten und sich klein zu machen und zurückzunehmen bis dahin, dass der Philosoph Ernst Bloch vom „Atheismus im Christentum“ sprechen konnte. Aber gerade darin hat Gott sich als Gott erwiesen. Papst Franziskus versinnbildet etwas davon derzeit auf geglückte Weise.

Einige klerikale Hochkaräter, die sich gern als Statthalter Gottes aufführen und bisweilen hier in Regensburg zugange sind und sich für angebliche Verdienste feiern lassen, sollten sich diesen Maßstab vielleicht doch mal etwas näher ansehen. Genau das hatte Papst Franziskus im Blick, als er vergangenen Donnerstag in seiner Ansprache an die Römische Kurie diejenigen seiner Mitarbeiter kritisierte, die sich „von Ambitionen oder Eitelkeiten korrumpieren lassen [und] wenn sie dann sanft entfernt werden, fälschlicherweise zu Märtyrern des Systems erklären.“ Dass er damit ins Schwarze traf, verrät sich daran, dass dieses Papstwort postwendend gewisse theologische Tranfunzeln in gewissen Provinzbistümern zum Anlass nahmen, gegen den Papst zu pöbeln – Leute zumal, die ansonsten die Forderung nach Gehorsam gegenüber der Autorität des kirchlichen Amtes wie eine Monstranz vor sich hertragen. Dadurch kommt man natürlich in Versuchung zu überlegen, wen Franziskus da gemeint haben könnte. Und zugleich bestätigt sich auf Punkt und Komma jenes Wort eines französischen Erzbischofs aus dem 19. Jahrhundert, das Franziskus in seiner Ansprache zitierte. Der Erzbischof hatte gesagt: „In Rom Reformen durchzuführen heißt gleichsam die Sphinx von Ägypten mit einer Zahnbürste zu putzen.“ Die eben erwähnten unverschämten Reaktionen verraten, dass dieses Zahnbürsten-Prinzip wohl auch für Diözesen gelten kann.

Gegen den Verdacht auf Überheblichkeit bleibt in all dem nur derjenige Kritiker gefeit, der bekennt, dass das Zahnbürsten-Gesetz, diese Einsicht in die scheinbar endlose Mühe der Erneuerung auch für seine eigene Seele gilt. Auch das hat Franziskus nicht vergessen. Die allerletzten Worte seiner Ansprache lauteten: „Und bitte, betet für mich.“ Diese Demut kann nur wagen, wer darauf vertraut, dass Gott selbst solche unendliche Geduld mit uns aufbringt. Durch sein Kommen zu uns im Krippenkind hat er offenbar gemacht, dass ihm dafür nichts zu viel ist. Das feiern wir in diesen Tagen.