Blick in den Brunnen der Geschichte

Gründonnerstag B: Ex 12, 1-8. 11-14

I
Seit Aschermittwoch haben wir uns vorbereitet auf das Hochfest unseres Glaubens. Jetzt treten wir ein in das Triduum Pasquale, die drei Heiligen Tage, die in Wirklichkeit zugleich bis in Urzeiten zurückreichen - bis dorthin, wo das Suchen nach und Ringen um Gott, dem wahren Gott, wie es zum Glauben der Juden und Christen gehört, noch im Halbdunkel manchmal rätselhafter Ahnungen liegt. Die Schriftlesungen dieser Tage nehmen uns dorthin mit und erzählen davon so, dass wache Seelen zu spüren vermögen, wie dieses scheinbar uralt Vergangene auf das Lebendigste ins Jetzt, unsere eigene Gegenwart ragt – dass also in ihnen, wenn sie von den Vormüttern und Vorvätern des biblischen Glaubens sprechen, von uns selbst die Rede ist.

II
Aufs Intensivste geschieht das auch gleich in der ersten Schriftlesung des Triduum Pasquale, also der Lesung vom Paschafest aus dem Buch Exodus, wie wir vorhin gehört haben. Schon rätselhaft genug ist, was da auch nur dem Buchstaben nach zu lesen steht: das Schlachten der Lämmer, das Bestreichen der Türpfosten mit deren Blut, das hastige Essen des Fleisches samt ungesäuertem Brot – und der Vorübergang des Würgeengels.

Ahnungsweise wissen wir, dass da im Tiefsten Rituale eines uralten Hirtenfestes dahinter stehen: Wenn der Frühlingsmond am Himmel stand, brachen die Nomaden mit ihren Herden zu neuer Weide auf, begaben sich ins Unbekannte, Ungesicherte, oft Gefährliche und erflehten unter Gebet, Gesang und Opfer Schutz von den Mächten, von denen sie ihr Dasein und Überleben abhängig fühlten und die ihnen zumeist in Gestalt der geheimnisvollen, jedem menschlichen Verfügen entzogenen Naturkräften begegneten.

III
Die Szenerie dieses Rituals griff Israel auf, um durch sie dem Ereignis seiner Geschichte schlechthin, der Stiftung seiner Identität, wie man heute sagt – eine Erinnerungsgestalt zu geben, die man nie mehr vergessen würde – und auch in der Tat nicht vergessen hat: Fromme Juden begehen bis heute Pesach genauso, wie wir es in der Lesung gehört haben. Sie haben das uralte Hirtenfest wie eine Hohlform genommen und gefüllt mit dem Aufbruch schlechthin in das Unbekannte, das Ungesicherte, das auch Gefährliche schlechthin, also mit dem Auszug aus dem Sklavenhaus Ägypten, den sie auf Befehl Gottes und der Führung Moses wagten. Das Pesachfest ist die Gelenkstelle zwischen den ägyptischen Plagen und dem Zug durch das Rote Meer, der anschließenden Wüstenwanderung mit ihren Versuchungen und Verirrungen, hinter denen aber niemals die Vision des gelobten Landes verschwand.

IV
Doch an diesem Punkt muss unser geistlicher Blick unvergleichlich tiefer gehen, gleichsam in den Brunnen der Geschichte hinabtauchen. Denn bei diesem Exodus ging es nicht einfach nur um Politisches, um das Freikommen aus Sklaverei, Unterdrückung und Ungerechtigkeit und dann die Landnahme, die Israel ein wenig so werden lassen sollte wie die anderen Völker ringsum. Worum es eigentlich ging, versteht man erst, wenn man wahrnimmt, dass der Auszug aus Ägypten längst nicht der erste Exodus war, der Israels Glaubensgeschichte bis in die Haarwurzeln prägt. Jahrhunderte, vielleicht mehr als ein Jahrtausend davor war schon einmal eine Sippe aufgebrochen, die Sippe des Stammvaters Israels schlechthin, die große Abrams-Familie. Und dieser Exodus aus dem vertrauten Stammland ins Ungewisse – laut Genesis Kapitel 12 wiederum angestoßen durch einen Gottesbefehl – hatte keinen politischen Anlass, sondern – ich sage es mal so modern – einen metaphysisch existentiellen. Abram und die Seinen verlassen die vertraute Heimat und brechen mit dem, was bislang galt, weil sie spürten, dass da mehr und Wichtigeres noch ist als das, was sie bislang für ihr Leben als bestimmend erfühlten. Anders gewendet: Zweifel und Skepsis am überlieferten Bild der ihr Dasein bestimmenden Mächte und an dem, als was sie sich selbst erfuhren, trieb sie hinaus. Schon inneralttestamentlich, im kleinen Buch Judith, Kapitel 5, wird dieser Ur-Exodus der Abramssippe mit dem Suchen nach dem wahren Gott begründet und zugleich als ein Abenteuer der menschlichen Selbsterkenntnis beschrieben. Gut zwei Jahrtausende später hat ausgerechnet der an sich religionsferne Dichter Thomas Mann dieses Geschehen auf den mehr als 1600 Seiten seines Romans "Joseph und seine Brüder" bis in feinste Verästelungen hinein nachgezeichnet und ausgedeutet.

In einer der Spitzenpassagen schreibt Thomas Mann über Abraham, von dem es schon im einleitenden "Vorspiel: Höllenfahrt" des ersten Bandes geheißen hatte, eine „Gottesnot“1  habe ihn zum Verlassen seiner Heimat und zum Nomadendasein getrieben, Folgendes:

„So hatte Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten, hatte ihn lehrend weiter ausgeformt und hervorgedacht und allen Beteiligten eine große Wohltat damit erwiesen: dem Gotte, sich selbst und denen, deren Seelen er lehrend gewann. Dem Gotte, indem er ihm Verwirklichung in der Erkenntnis des Menschen bereitete, sich selbst und den Proselyten aber namentlich dadurch, dass er das Vielfache und beängstigend Zweifelhafte auf das Eine und beruhigend Bekannte zurückführte, auf den Bestimmten, von dem alles kam, das Gute und das Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segensvoll Regelmäßige, und an den man sich auf jeden Fall zu halten hatte. Abraham hatte die Mächte versammelt zur Macht und sie den Herrn genannt – ein für allemal und ausschließlich […].“2

Man muss dabei die Doppelrichtung des Prozesses im Blick behalten: Durch das Hervordenken Gottes, durch welches Abraham „gewissermaßen […] Gottes Vater“3  wird, wird Gott ein Gott „im Werden“4 , aber was da wird, wirkt als durch und durch dringende Lebensmacht auf den Abraham und die Seinen zurück. Nochmals wörtlich:

„Denn ihm gab Gott die Unruhe ins Herz um seinetwillen, dass er unermüdlich arbeite an Gott, ihn hervordenke und ihm einen Namen mache, zum Wohltäter schuf er sich ihn und erwiderte dem Geschöpf, das den Schöpfer erschuf im Geiste, die Wohltat mit ungeheuren Verheißungen. Einen Bund schloß er mit ihm in wechselseitiger Förderung, dass einer immer heiliger werden sollte im andern, und verlieh ihm das Recht der Erberwählung, Segens- und Fluchgewalt, dass er segne das Gesegnete und Fluch spreche den Verfluchten. Weite Zukünfte riß er auf vor ihm, worin die Völker wogten, und ihnen allen sollte sein Name ein Segen sein.“ 5

V
Und genau im Bann dieser Sehnsucht nach dem wahren Gott geschieht nun auch der Exodus aus Ägypten, den Mose ja schon vor der ersten Plage dem Pharao gegenüber damit begründet, dass der Gott der Hebräer sein Volk auffordert, ihm in der Wüste ein Fest zu feiern – worauf Pharao antwortet, dass er diesen Gott der Hebräer da nicht kenne und sie, seine Untertanen, gefälligst die Leute mit solchen Gottesallüren nicht von der Arbeit abhalten sollen. Aber die Israeliten brechen auf, diesem Gott entgegen, den sie gar noch nicht so wirklich kennen, aber schon jenen geheimnisvollen Namen – „aehjae asher aehjae“, „Ich bin der ich bin da für euch“ – erfahren haben, denen ihnen Mose ausrichtet, noch gar nicht wissend, was der ihnen alles zuspielen – vielleicht sollte ich sagen: einbrocken – wird. Denn dieser Gottesname – zumal in seiner Kurzfassung als Tetragramm JHWH, das die Juden bis heute aus Ehrfurcht nicht aussprechen, sondern mit „Adonai“, Herr, wiedergeben – ist rein sprachlich gesehen ein unvollständiger Kurzsatz: „Er erweist sich als …“ [Punkt, Punkt, Punkt]. Ein Satz also, der nach Vervollständigung verlangt. Und die geschieht nicht anders als durch je und je geschichtlich konkrete Aufbrüche und Ausbrüche aus dem Vertrauten und Eingespielten.

VI
Nur deswegen dürfen auch wir Christinnen und Christen zu Beginn der Heiligen Drei Tage diese alte Überlieferung aufrufen, weil auch die Jesus-Geschichte eine dieser Vervollständigungen – für uns: die Vervollständigung – jenes Kurzsatzes darstellt. Sie besagt: In dem, was Jesus predigt, wie er ist, und in seinem Lebensgeschick, bricht jene uralte abrahamitische und auch noch die mosaische Gottessuche des ägyptischen Exodus in eine neue Dimension durch: Sie lässt ein Gottesbild aufleuchten, das keine Machtkategorien mehr braucht und sich in der Gestalt eines Menschen verdichtet, der – obwohl geistlich gesehen „Meister“ zu nennen – sich nicht zu gut ist dafür, seinen Jüngern die Füße zu waschen und eben dadurch das Innerste Gottes zu versinnbilden: Die Liebe. Dass Gott einfach die Liebe ist, und Furcht nicht in ihr sein kann, so beide Male Johannes. Dass Gottes Gottsein so groß ist, dass er es sich leisten kann, sich für uns klein zu machen bis zum Sterben hin. So von Gott sprechen heißt von ihm etwas sagen, worüber hinaus Größeres nicht gesagt werden kann.

VII
Aber da ist noch eines, das nicht vergessen werden darf: Von dem Exodus-Israeliten heißt, sie hätten von den Ägyptern vor ihrem Weggang Silber- und Goldsachen gefordert, und die Ägypter hätten sie ihnen mitgegeben auf ihre Auswanderung. Die Art und Weise, wie das gleiche Motiv im Buch der Weisheit Kapitel 10 wiedererinnert wird, macht klar, dass es dabei nicht um einen materiellen Raubzug ging, sondern dass Israel das Kostbarste der Gottsuche Ägyptens mitnahm – was auch die Apostelgeschichte bestätigt, wenn sie davon redet, dass Mose, dieser Prototyp Jesu, in aller Weisheit der Ägypter unterwiesen gewesen sei (Apostelgeschichte 7). Und die Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und der Rückkehr dann nach Israel intoniert dieses Motiv gleichsam in jesuanischer Brechung. Dieses Kostbare Ägyptens besteht in dem Gedanken, dass Gott – unbeschadet seiner Weltüberlegenheit und –jenseitigkeit –  immer auch und immer schon als Gott alles in allem ist. Und nur deswegen kann uns der Gott Abrahams, Mose und Jesu jetzt im heiligen Zeichen von Brot und Wein nahekommen, um uns mit unserer Gegenwart hineinzuholen in die Urgeschichte der Gottessehnsucht.


1Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der erste Roman: Die Geschichten Jaakobs. 10. Aufl. Frankfurt 2000. 16.
2Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der zweite Roman: Der junge Joseph. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 2000. 42.
3Mann: Der junge Joseph (Anm. 2). 44.
4Mann: Die Geschichten Jaakobs (Anm. 1). 53.
5Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der vierte Roman: Joseph, der Ernährer. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2000. 279-280.