Als Beschenkte leben

19. Sonntag B: 1 Kön 19, 4-8  +  Joh 6, 41-51

I
Seit zwei Sonntagen schon lesen wir in der Liturgie das sechste Kapitel des Johannes-Evangeliums, das berühmte – in gewissem Sinne auch berüchtigte – Brot-Kapitel. Begonnen hat es mit der Erzählung von einer wunderbaren Brotvermehrung. Enden wird es übernächsten Sonntag mit einer Krise der Jesusbewegung, die bis ins Mark geht. Denn eben wegen dem, was wir heute hören, verlassen Jesus viele von denen, die sich ihm angeschlossen hatten. Das ist so dramatisch, dass er selbst die Zwölf, die von ihm berufenen Apostel, fragen wird, ob denn auch sie gehen wollten. Da hätte alles zu Ende sein können. Warum aber kam es eigentlich zu dieser Krise?

II
Auslöser war im Grunde ein einziger, einfacher Satz: Nach dem Wunder der Brotvermehrung hatten die Menschen ihn zu ihrem Anführer, ihrem König machen wollen, weil er sie satt gemacht hatte – und sie natürlich hofften, dass das so weitergehen würde, gerade so, wie das Israel eine Zeit lang auf der Wüstenwanderung erfahren hatte, als es mit dem Brot von oben, mit dem wunderbaren Manna gespeist wurde. Aber Jesus verweigert sich diesem Schlaraffenlandtraum nicht nur. Er gibt der alten Überlieferung der Manna-Geschichte eine völlig neue Wendung, indem er sagt: Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Und wer dieses Brot isst, werde nicht mehr sterben wie die Vorfahren einst, die das Manna in der Wüste erhalten hatten. Sondern wer dieses neue Manna esse, der werde ewig leben. Und dieses neue Manna, dieses wirkliche Brot von oben, sei sein Fleisch.

III
Bitte was?, fragen sich jetzt seine Zuhörer. Sein Fleisch essen? Und wenig später kommt noch hinzu: Sein Blut trinken? Absurd! Wie kann er, der Sohn Josefs, dessen Eltern wir kennen, solchen Unfug erzählen: dass er vom Himmel gekommen und ein neues, noch wunderbareres Manna sei? Unwille, Spott und Hohn konnte das nur wecken. Was aber, wenn mit diesen seltsamen Worten vom Fleisch Jesu essen von seinem Blut trinken gleichsam Stolpersteine ins Evangelium eingebaut wären, die uns aus dem Tritt unseres alltäglichen Bescheidwissens bringen möchten? Dass wir innehalten und Ausschau halten nach anderen, größeren Zusammenhängen, von denen her uns aufgehen könnte, was uns das Evangelium eigentlich sagen will. Wo wir diese größeren Zusammenhänge zu suchen haben, dafür gibt uns das Evangelium selbst einen direkten Wink, indem es auf das Manna zu sprechen kommt: Will sagen: Der Horizont, unter dem die ganze Brot-Rede gelesen werden muss, ist der Exodus, der Auszug aus Ägypten.

IV
Die Geschichte vom Exodus erzählt nicht nur einfach ein Ereignis aus der Geschichte Israels mit seinem Gott. Vielmehr hängt an dem, was da erzählt wird, das Selbstverständnis des Gottesvolkes. Mit ihm steht und fällt, was sein Besonderes ausmacht: In Bedrängnis gekommen durch den sklaventreiberischen Pharao in Ägypten, dann den Ausbruch gewagt, klopfenden Herzens durch das Rote Meer gezogen. Dann erfahren, wie anstrengend die neu gewonnene Freiheit sein kann, so sehr, dass Israel mehrfach in die Versuchung gerät, umzukehren. In einer dieser Situationen geht es wieder einmal um den Hunger: Israel hat Angst, in der Wüste umzukommen, weil es nichts mehr zu essen hat. Da erhält es völlig unerwartet das Geschenk des Manna. „Manna“ kommt von hebräischen „Man hu“, zu Deutsch: Was ist das? Vermutlich handelte es sich um ein seltenes Naturphänomen, bei dem sich Samen dicht wie Reif an Gräsern und Büschen niederschlagen, dann eingesammelt und gegessen werden können. Aber dass das gerade jetzt passiert in der Situation größter Not, dass Israel merkt, wie es von unverhofft Geschenkten zu leben vermag und nicht untergeht – das ist das eigentliche Wunder.

Dieses Wunder hat sich gleichsam in der DNA, der Erbinformation des Gottesvolkes eingeschrieben. Darum wird Vergleichbares auch aus späterer Zeit mehrfach erzählt, sozusagen Exodus- und Manna-Wunder-Wiederholungen. Und sie werden genau dort erzählt, wo es immer wie Spitz auf Knopf steht mit dem Verhältnis zwischen Gott und seinem geliebten Volk. Wo Israel in die Gefahr kommt, diesem Gott nicht mehr zu trauen und sich anderen Mächten zuzuwenden, von denen es sich sein Bestehen erhofft.

V
Genau einen solchen Fall erzählt uns die heutige erste Lesung aus dem Leben des Propheten Elija. Elija, die wohl bedeutendste Prophetengestalt des Alten Testaments, war mit dem Königshaus, speziell mit Isebel, der heidnischen Frau des König Ahab, in Konflikt geraten. Denn sie wollte ihren Mann und damit das ganze Volk zum Glauben an die ihr vertrauten Fruchtbarkeitsgötter, die Baalen verleiten. Nicht mehr dem Exodusgott der Befreiung sollte Israel folgen, sondern den vitalen Lebensmächten der fruchtbaren Natur, denen es sich hingeben und von den es sich mitreißen lassen sollte. Elija hat dem mit aller Macht widerstanden, hat gegen diesen, manchmal in Orgien gefeierten Naturkult, gekämpft und musste darum vor der Wut der Königin das Weite suchen, die ihm nach dem Leben trachtete. Elija flieht in die Wüste, und irgendwann kann er nicht mehr. Er gibt auf im Kampf für Gott und die Treue seines Volkes zu diesem Gott und legt sich zum Sterben nieder. Doch da weckt ihn ein Engel, wir würden heute sagen: ein Gottestraum auf, er findet unverhofft Brot und Wasser neben sich. Er isst und trinkt und so gestärkt wandert er weiter zum Gottesberg Horeb, wo ihm JHWH, sein Gott nicht in Sturm und tosendem Gewitter, sondern in einem leisen Säuseln begegnen wird und ihm verspricht, immer bei ihm zu sein und seine Hand über ihn zu halten. Und dieses wunderbare Gerettetwerden ist so wichtig, dass es im Alten wie im Neuen Testament immer wieder erzählt wird und den Elija so bedeutsam macht, dass man schließlich von ihm glaubt, er werde unmittelbar vor dem Erscheinen des Messias wiederkommen, um das Jüngste Gericht einzuläuten. Deshalb erblickten manche frühen Christen im Täufer Johannes den wiedergekommenen Elija, der Christus, dem Messias den Weg bereite.

VI
Stellt man diese beiden Brot-Geschichten nebeneinander – die aus der Exodus-Wanderung und die des Elija –, dann sieht man, wie alle zwei in einem Punkt direkt überkommen: das Manna, das Brot wird beide Male geschenkt in dem Augenblick, da buchstäblich nichts mehr zu machen ist. Israel und Elija wissen nicht mehr weiter, möchten sich an liebsten aufgeben. Da gehen ihnen die Augen auf und sie sehen, dass und wie sie von etwas leben können, das ihnen unverhofft geschenkt wird.

Und genau das ist der Berührungspunkt mit dem neuen Manna in der Brot-Rede Jesu: Wenn du, Mensch, alles bestimmen Wollen, alles verfügen Wollen und absichern Wollen deines Lebens aufgibst, wirst du auf einmal hellsichtig für das, was dich wirklich nährt, deinen Lebenshunger stillt, was dich trägt und stark macht: der Glaube an Jesus. Dass du dich dem anvertraust, was er sagt, was er tut, wie er ist. Dass du sein Vertrauen in Gott und seine Güte zu den Menschen teilst. Das ist ja die Innenseite seines Wortes, dass das Brot, das er zu geben habe, sein Fleisch für das Leben der Welt sei, also sein menschliches Dasein für uns. Dieser Glaube, das ist dein täglich Brot für die Seele. Dann bist du Schüler Gottes geworden wie einst Israel und wie einst Elija sich haben belehren lassen.

VII
Das alles Entscheidende dabei ist auch für uns genau jener Berührungspunkt zwischen der Exodus- und der Elija-Geschichte: Das Aufgeben alles Bestimmen- und Beherrschenwollens, des Verfügens über das eigene Geschick. Der große Mystiker Meister Eckhart hat das in einem Lobpreis der Armut zum Ausdruck gebracht: Wirklich arm, sagt er, ist ein Mensch dann, wenn er nichts mehr will und nichts mehr weiß und nichts mehr hat. Ja, wenn er sogar den Willen ablegt, Gottes Willen tun zu wollen. So müsse er sogar Gottes noch ledig werden, ganz leer, damit Gott ihn erfüllen könne:

„Denn, findet Gott den Menschen so arm, so wirkt Gott sein eigenes Werk und der Mensch erleidet Gott so in sich, und Gott ist eine eigene Stätte seiner Werke […]. Allhier in dieser Armut, erlangt der Mensch das ewige Sein, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er ewig bleiben wird.“1

Dazu freilich bedarf es einer tiefen Umkehr der Herzen. Sie besteht in der Anerkenntnis, dass wir als immer wieder unverhofft Beschenkte leben, wenn wir uns von Gott belehren und führen lassen. In jeder Feier der Heiligen Messe und im Empfangen des gewandelten Brotes bekennen wir dies.


1Meister Eckhart: Beati pauperes spiritu (Predigt 52). In: Deutsche Werke Bd. 2. Stuttgart 1971. 730-731.