Abenteuer Berufung

3. Sonntag B: Jona 3,1-10

I
Stürmische Zeiten hat die katholische Kirche schon öfter erlebt. Aber so etwas wie die letzten zwei Jahre gab es im Grunde noch nie: Dass der Sturm nicht von außen oder von unten weht, sondern von oben kommt. Von ganz oben – vom Papst! Das Konklave hatte am 13. März 2013 den 76jährigen Kardinal und Jesuiten Jorge Maria Bergoglio zum Papst gewählt, weil der im Vor-Konklave eine bewegende Rede über nötige Reformen der Kirche gehalten hatte. Und dann macht er ernst mit seinem Programm – besonders spektakulär mit der Doppel-Synode zu Ehe und Familie von 2014 und 2015. Und schon ging das Gezeter los. Mit seinem nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia zog sich Franziskus seitens eines reaktionären Klüngels aus Kardinälen, Bischöfen, Theologen und Laien (gerade auch aus Deutschland) sogar den Vorwurf zu, die kirchliche Lehre zu verfälschen, also ein Häretiker zu sein.

II
Schon bald werden diese Stürme noch heftiger werden. Denn im Herbst 2018 wird es eine Synode zum Thema „Jugend und Kirche“ geben – die Vorbereitungen laufen schon. Und für 2019 ist eine Sonder-Synode angekündigt, die sich auf die Amazonas-Region in Lateinamerika beziehen wird. Und im Mittelpunkt beider Synoden – darum erwähne ich sie hier – wird ein ganz heißes Thema stehen, nämlich eben jenes, um das es auch in der heutigen ersten Lesung und im Evangelium geht: Berufung.

III
Es ist ja kein Geheimnis: Was den Nachwuchs an Priestern, Ordenschristen und selbst pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betrifft, ist die Lage in vielen Weltgegenden desaströs. Man braucht nur einmal in das hiesige Collegium Borromaeum zu blicken. Die Zahl junger Menschen, die sich für einen kirchlichen Beruf begeistern, ist marginal geworden, bisweilen bis an die Null-Linie. Warum ist das so? Kann man dagegen etwas tun? Und wenn ja, was? Das werden zentrale Fragen auf der Jugendsynode sein. Und die Amazonas-Synode wird der Frage nachgehen, ob es denn nicht an der Zeit wäre, verheiratete Männer, sogenannte Viri probati, die oft schon die Diakonenweihe empfangen haben, zu Priestern zu weihen, um den Gemeinden, die dort manchmal so groß sind wie mittlere Diözesen bei uns, überhaupt noch die Feier der Eucharistie zu ermöglichen. Damit steht natürlich das Zölibatsgesetz der lateinischen Kirche auf dem Prüfstand – und auch die Frage, ob nicht auch Frauen zumindest die Diakonenweihe erhalten könnten. Man braucht kein Prophet zu sein um vorauszusehen, welchen Orkan aus der rechten Ecke diese Debatten entfachen, welche Aggression der Papst und die ihn stützenden Bischöfe auf sich ziehen werden.

IV
Und dabei geht es überhaupt nicht primär um äußere Lebensformen oder das Kirchenrecht, sondern um eine zutiefst geistliche Frage – die Frage: Was eigentlich ist eine Berufung? Für eine Antwort darauf gibt uns das alttestamentliche Jona-Büchlein, aus dem die heutige erste Lesung stammt, aufschlussreiche Hinweise.

Nach Ninive sollte Jona gehen auf Gottes Geheiß hin. Sagen sollte er den dortigen Bewohnern, dass es so nicht weitergeht, wie sie es treiben. „Zeitansage" hatte er machen sollen, sagte man später über Jona. Das trifft die Sache ganz gut: Nur eine Zeit lang kann man so leben wie die Niniviten, diese Megacity-Bewohner der damaligen Zeit, dann geht es in den Graben, unausweichlich. Das hatte er ihnen sagen sollen.

Aber er hatte keine Lust, sich das anzutun. Er wusste ja von vornherein: Er würde der Gelackmeierte sein. Denn entweder würden die in Ninive sich biegen vor Lachen über das, was er vorbringt – gerade so, wie sie heute in den sozialen Netzwerken über die Gutmenschen spotten und die idiotischen „Christlinge“, die mit dem Krippenkind und der zu Ostern aufspringenden Leiche und so. Und wahrscheinlich nicht mal das: Sie würden ihn einfach überhören nach dem Motto: Den ignorieren wir nicht einmal. Oder aber die in Ninive würden ernstnehmen, was Jona sagt, würden sich bekehren – mit der Folge, dass Gott nichts von dem wahr machte, was er angedroht hatte.

Darum dachte Jona: Besser, ich tauche ab. Jedenfalls versuchte er es. Auf Gottes „Mach dich auf den Weg" machte er sich wirklich auf den Weg – aber nicht nach Ninive, sondern nach Tarschisch, weit weg – jedenfalls wollte er das und ging an Bord eines Schiffes. Aber da kam die Sache mit dem Sturm. Die Matrosen und der Kapitän waren irgendwann überzeugt, er sei der Schuldige – wegen seiner Flucht vor Gott. Und weil es eh schon egal war, ließ er sich in die Wogen werfen. Wo dann der Fisch kam, der ihn schluckte und in die Tiefe riss. Jedenfalls empfand er es so. Andere damals nannten das Vieh Leviathan, zu Deutsch „die schnelle, gewundene Schlange“. Das ist jenes Untier von den ersten Seiten der Bibel aus dem Garten Eden. Ein Untier, das Angst macht, weil es die Angst selber ist. „Angst essen Seele auf" hieß später einmal ein Film von Rainer Werner Faßbinder. Und genauso empfand Jona es wohl. Aufgefressen wurde er von der Angst.

Als Jona merkte, dass er nichts mehr dagegen machen konnte, ließ er sich einfach fallen. Und da fühlte er sich in dem Fisch auf einmal wie geborgen, wie ein Ungeborenes im Mutterleib. Und nicht lange, da hatte er wieder Boden unter den Füßen, weil Gott dem Fisch befahl, den Propheten an Land zu speien. Doch schon ging es von vorne los. Wieder ER! Wieder dieser Gott mit seinem verdammten „Geh nach Ninive!" Jetzt ging Jona gleich. Entkommen gab es ja eh keines. Er ging nach Ninive, predigen. Folge: Genau das, was er vorausgesehen hatte. Riesenerfolg, wenn man es nach den Maßstäben bürokratischer Pastoralpläne betrachtet. Die Leute bekehren sich. Was heißt bekehren! Sie setzen ein paar Zeichen. Gewiss, beeindruckende darunter auch: Sogar die Tiere müssen Buße tun und sich in Bußkleider hüllen, Rinder, Schafe und Ziegen. Herrlich: Sogar die Rindviecher in Bußgewändern! Das muss man gesehen haben.

Und trotzdem: Jona, der Prophet, ärgert sich. Was er anzukündigen hatte, blieb aus, logisch. Nur wegen der Paar Bußübungen! Genau genommen kehrte Gott um! Welche Zuvorkommenheit! „Und wofür braucht er dann mich eigentlich noch?“, fragte sich Jona. Genau das aber war das eigentliche Problem, und es war seines. Rückblickend kann man sagen, Gott habe mit seinem Propheten mehr Plage gehabt als mit der sündigen Stadt. Weil Jona noch nicht begriffen hat, wie Gott wirklich ist: Der Barmherzige, dem schon ein kleines Zeichen der Reue reicht, um von sich aus, gratis, alles wieder ins Lot zu bringen.

Das hat Jona zuerst lernen müssen, und Gott lehrte es ihn auf SEINE Weise: In seinem Groll hatte sich Jona draußen vor der Stadt hingesetzt, eine Bullenhitze war, die Sonne brannte ihm auf den Kopf. Auf einmal war ihm, als säße er im Schatten – einem, wie ihn die großen Blätter von einem Rizinusstrauch werfen. Aber kaum war ihm ein bisschen besser, war es auch schon wieder vorbei. Das, was geschehen war, nagte in ihm wie ein Wurm – und jetzt war alles noch viel schlimmer. Ihm tat es leid um das bisschen Schatten, das er verspürt hatte, und im gleichen Augenblick kam ihm ein ganz seltsamer Gedanke: „Wenn’s mir schon um einen Schatten leid tut, ein solches Nichts, muss es Gott dann nicht genauso und erst recht um etwas, das er geschaffen hat, leidtun, wenn es nicht mehr wäre, also zum Beispiel um Ninive?“ Was heißt „zum Beispiel"?! Um Hundertzwanzigtausend Seelen ging es, so gut wie alle von ihnen keine Ahnung von Tuten und Blasen – wie man halt so lebt. Und an die Tiere dachte ER, Gott auch noch. Da verstand Jona: Gott wollte einfach nicht, dass das, was da war, nicht war. Er mag nicht, dass etwas, das sein könnte, nicht ist. Er ist gegen das Nichts. Darüber haben sich später die den Kopf zerbrochen, die „Philosophen" heißen. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: ER, Gott IST einfach (was denn auch anders; sonst wäre ja überhaupt nichts). Und dem Mose gesagt hat er es ja auch: „Ich bin, der ich bin" oder „Ich bin der ‘Ich bin’" oder wie man sonst übersetzt, was Mose am brennenden Dornbusch hörte. Jedenfalls: ER, Gott mag das Nichts nicht, weil es das totale Gegenteil von ihm selbst ist. Darum ist ihm das, was ist, selbst dann noch lieber als nichts, wenn es angeschlagen ist, wie viel später ein Thomas von Aquin zu denken wagte. Daher kommt sein Barmherzigsein mit allem, auch den Sündern noch. Es hat mit seinem Innersten zu tun. Das alles musste Jona erst kapieren. Ganz einfach ist das nicht, weil sich all die Sachen auch nicht einfach sagen lassen.

Das Entscheidende an der ganzen Episode: Jona hatte sich selbst, sein Amt zu wichtig genommen. Natürlich: Es war auch wichtig, er hat die in Ninive aufgerüttelt. Aber das, was dann geschah – von Gott her – war unvergleichlich anders als das, was er hatte sagen können. Er war wütend gewesen, dass SEINE Güte wieder einmal über die Sünden gesiegt hatte.

V
Ich denke es ist kein Zufall, dass das Jona-Büchlein seine Geschichte voller Humor erzählt, fast wie in einem Comic-Strip. Denn nur in der Atmosphäre des Humors, der ja immer auch subtil mit Ironie verschwistert ist, lässt sich ertragen, dass kleine, fehlbare Menschlein heilige Ämter ausüben und Gottes Wort in ihre oft hilflosen, zerbrechlichen Wörter übersetzen. Genau diese Spannung anzuerkennen, auszuhalten und sich der Aufgabe dennoch zu stellen, das macht geistliche Berufe so anspruchsvoll: Intellektuell, emotional und spirituell.

Vielleicht lässt sich Berufung deshalb so beschreiben: Jemand nimmt einen Anspruch wahr, der über alles hinausgeht, was es sonst gibt in der Welt. Aber sie oder er merkt zugleich, dass sich dieser Anspruch nicht begreifen und feststellen lässt im buchstäblichen Sinn dieser Worte. Würde sich jemand diesen Anspruch aneignen, um mit ihm anderen sozusagen instrumentell gegenüberzutreten, hätte sie oder er diesen Anspruch vergötzt und damit sich selbst – so entsteht das Elend des Klerikalismus, dieses Gottesprotzentum, das es von Kaplänen bis Kardinälen geben kann und das die Botschaft vom bis in die Herzmitte hinein barmherzigen Gott Lügen straft. Stattdessen muss die oder der Berufene aushalten, dass dieser Anspruch, den sie oder er zu repräsentieren hat, oft ganz andere Wege nimmt oder Folgen zeitigt als gedacht. Dieses durchsichtig werden oder durchsichtig bleiben auf jenen Anspruch – also auf Gott hin – stellt sich den Berufenen jeden Tag neu als mühselige Aufgabe. Optimierungsstrategien und Effizienzkriterien gibt es in dieser Dimension des Lebens nicht. Das heutige spätmoderne Lebensgefühl der saturierten Gesellschaften, wie der unseren, steht dazu völlig quer.

Wo jemand – wie derzeit besonders Papst Franziskus – eben daran erinnert, die in der Seelsorge Tätigen an die Ränder der Gesellschaft schickt, die Kirche zum Feldlazarett erklärt, wo es vor der reinen Lehre zuerst einmal um die Wunden geht, bricht der Sturm los. Das ist der alte Jona-Sturm. Genauer: Das ist der Gottessturm, der der träg gewordenen Kirche Beine macht, dass sie den Menschen wieder die Wahrheit über ihn sagt.

Neulich bekannte Franziskus, dass er manchmal beim Beten einnickt und dann schläft wie ein Stück Holz, während ein Teil der Kurie um ihn herum schäumt vor Wut und Angst um das Hergebrachte. Mir scheint das fast wie ein kleines Seitenstück zum Bild im Fischbauch geborgenen Jona. Und dass Jona dort betet mit Worten, die fast wie ein Osterpsalm klingen und das Gerettet werden durch Gott preisen, mag ein Hoffnungswink sein, welches Lebensabenteuer eine Berufung sein kann, wenn sich ein Mensch auf ihre Höhen UND Tiefen einlässt. Irdische Kategorien wie Mann oder Frau, verheiratet oder ehelos spielen dabei nicht die geringste Rolle. Dafür ist Gott viel zu groß und ist er uns Menschenkindern viel zu nah.