Vom Hirten, der sich nicht wichtig nimmt

4. Ostersonntag A: Joh 10,1-10

I

Einst kam der Buddha auf seiner Wanderung im Land der Kosala mit einer großen Mönchsschar in den Marktflecken Kessaputta. Als die Bewohner davon hörten, dass der vollkommen Erleuchtete gekommen sei, da begrüßten sie ihn ehrfürchtig und sprachen: Herr, immer wieder kommen Wandergelehrte zu uns, die ihre eigenen Lehren glänzen und leuchten lassen, aber die Lehren anderer bekämpfen und verachten. Und dann kommen andere, die es umgekehrt mit den Lehren der ersten genauso machen. Darum sind wir ratlos, welche von diesen Lehrern nun Wahres und welche Falsches lehren.
   
Ganz recht, dass ihr zweifelt, antwortete der Buddha. Richtet euch nicht nach dem Hörensagen, nicht nach einer Überlieferung, nicht nach heiligen Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen, nicht nach der Übereinstimmung mit den Ansichten anderer; denkt nicht: da heißt einer Lehrer, darum wollen wir ihm glauben. Sondern wenn ihr selbst erkennt, dass diese oder jene Dinge schlecht und verwerflich sind und dass sie – ausgeführt oder begonnen – zu Unheil und Leiden führen, so sollt ihr sie verwerfen.
   
II

Kann der Buddha im Ernst so geantwortet haben, als man ihn nach der Glaubwürdigkeit der Wahrheitslehrer fragte? Richtet euch nicht nach Behauptungen anderer, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Vernunftgründen! Was bliebe dann überhaupt noch als Wahrheit einer Religion, deren höchste Autorität so redet? Mögen die Buddhisten ihrer Tradition gegenüber ruhig so skeptisch sein – wir Christen halten es da anders: die Überlieferung der Kirche, in deren Mitte die Heilige Schrift, das Lehramt, der Begründungen der Theologie – sind sie alle zusammen nicht das Fundament und die Garanten der Wahrheit unseres Glaubens?
   

III

Sie sind es nicht? Das mag für katholische Ohren etwas überraschend klingen. Nichtdestotrotz folgt genau das aus dem Gleichnis des heutigen Evangeliums, mit dem Jesus über sich selbst, genauer: über sein Verhältnis zu uns und dessen Folgen für uns, spricht. Er hat es in dem – damals einem jeden vertrauten – Sinnbild von Hirt und Herde getan.
   
Da ist ein Schafpferch – umgeben von einem Zaun, einer Mauer vielleicht. Am Abend treiben die Hirten der Umgebung ihre Schafe darin zusammen, um sie zu schützen vor wilden Tieren und Dieben. Ein Türhüter wacht darüber, dass kein Unbefugter die Hürde betritt. Wer sich da anders nähert als offen sichtbar und durch die Tür, der kann mit den Tieren nichts Gutes im Sinn haben – nur Räuber steigen über den Zaun, um die Schafe zu packen, wegzuschleppen, zu Geld zu machen, vielleicht zu töten sogar. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. So versteht Jesus sich: Er schleicht sich nicht ein, er überrumpelt nicht, er ködert nicht mit Versprechungen und Angeboten. Er sagt von sich, wer er ist und wozu er kommt: der, der sich gesandt weiß, Menschen – alle – einzuladen zu einem Neuanfang mit Gott; der, der sich verbürgt dafür, dass Gott ein Gott ist, der Vergebung schenkt, wo immer einer darum bittet; der, der mit Leib und Leben bezeugt, dass Gott unser Leben am Herzen liegt.
   
Wenn der Hirt den Pferch betritt und die Schafe den Laut seines Rufes hören, erkennen sie spontan seine Stimme, denn sie kennen ihn längst. Seit Urbeginn ist ihnen sein Rufen vertraut. So denkt Jesus von dem, was er zu verkünden hat: er bringt nicht fremde Lehren und geheimes Wissen aus der Ferne, nicht Moralen und Regeln zum glücklichen Leben, die dem Durchschnittsmenschen an sich verschlossen wären. Jesus redet stattdessen nur – wenn man da „nur“ sagen darf – von dem, was einem jeden in der fühlenden Ahnung und der Melodie der Sehnsucht in den Grund seines Wesens geschrieben ist: woher er im Letzten kommt, wo er jetzt steht mit seinem Dasein, wohin er im Letzten geht. So verkündet Jesus: Du, Mensch, bist hervorgegangen aus den Händen eines liebenden Schöpfers; dir selbst bist du anvertraut und aufgegeben, um in Freiheit dein Leben zu tun; und am Ende wartet einer auf dich, um dich wieder zu bergen in seinen Händen mit allem, was du in deiner gelebten Freiheit erwirkt hast – auch noch mit dem Verfehlten, das du ihm in der Regung der Reue anvertrauen darfst, dass es vergeben und  geheilt sei. Das verkündet Jesus. Und diesen Gott beglaubigt er in den Heilungen der Kranken, in der Sättigung der Hungernden und zuletzt in der Annahme seines Lebensgeschicks auf Golgota – damit dieser Gott dann seinerseits sich beglaubigte in der Auferweckung seines Boten.
   
Alles was Jesus kundtut, ist den Menschen nicht fremd. Im Gegenteil: aus der Seele gesprochen ist es ihnen; was sie von sich aus kaum zu denken wagen, gleichwohl aber dauernd hoffen müssen, wollen sie menschlich leben können, das sagt er ihnen als wirkliche Wirklichkeit zu – will sagen: von dem her, was sein ureigenstes Wesen ausmacht, steht der Mensch von der ersten Regung seines Daseins an im innersten, innigsten Verhältnis zu Jesus als dem Offenbarer Gottes. Deshalb weiß er sich als der Hirt, der die Schafe einzeln – einzeln! – beim Namen ruft; der das Geheimnis eines jeden kennt und weiß, wie er ihn ansprechen muss und wo er ihn wachrufen kann. Und diese wesensmäßige Innigkeit macht, dass die Schafe ihm folgen. Er braucht keine Hunde, keinen Stock und keine Peitsche und nicht das Geblaff scharfer Befehle: Die Schafe kommen von selbst, weil ihr innerstes Gespür schon längst auf ihn gewartet hat. Dass Jesus Christus und ein Mensch zueinander finden, dazu braucht es keine kirchliche Tradition, keine Bibel, keinen Papst und keine Theologie. Denn beide sind immer schon beieinander – zumindest in der Gebärde der Sehnsucht nach unbedingter Geborgenheit, die ein Mensch immer wieder über sich kommen fühlt. Kirche, Bibel, Papst und Theologie sind darum nicht einfach überflüssig. Sie helfen – auf ihre je eigene Weise –, der uns immer schon geschenkten Beziehung zu Jesus Christus ausdrücklich inne und ihrer bewusst zu werden. Doch sie stiften und begründen die Christusbeziehung nicht. Sie dienen ihr. Was diese Unmittelbarkeit zwischen uns und dem Herrn letztlich bedeutet, wird gänzlich offenbar in den paar Worten, die der Herr dem Gleichnis noch anfügt. Indem er da von sich nicht mehr als vom Hirten, sondern als von der Tür des Schafpferchs spricht, da nimmt er auch noch sich selbst gänzlich zurück zugunsten dessen, was er für uns sein will: Zugang, offenständiger Durchgang dorthin, wo wir beschützt und behütet sind: Wer durch mich eingeht, wird gerettet werden; und zugleich Pforte dorthin, wo unser Leben Boden findet, der es nährt: Wer durch mich eingeht, wird auch ausgehen und Weide finden. Auch nicht also und nicht einmal die Christusbeziehung gibt es für uns um ihrer selbst willen, sondern auch sie dient noch. Oder genauer: In der Unmittelbarkeit zu ihm macht Christus uns unsere Unmittelbarkeit zu Gott selber kund: dass er – Gott – unserem Wesen als Geheimnis eingeschrieben ist und wir – die Menschen – Gottes Erkennungszeichen sind, gleichsam in seinen Namen hineingehören, wie schon das Alte Testament weiß, wenn es Gott sich den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennen lässt. Und indem er das bis zum Grunde offenbart, bringt der Herr den Menschen das, was ihm am meisten Not tut und gut tut: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Darin besteht sein Hirtenamt für uns. Und diesen Maßstab – das Gut-tun-für-uns – stellt er selbst auf für sich. Noch weit radikaler als der Buddha vorhin stellt Jesus so nicht nur uns selbst, sondern sich selbst sogar unter das Maß unserer Wahrheit.
   

IV

Damit steht freilich außer jeder Frage, dass das, was der Herr sein Hirte-Sein bestimmen lässt, denen billig sein muss, die sich von ihm zur Fortsetzung seines Anliegens in die Geschichte hinein in Dienst genommen glauben. Der Maßstab für sie heißt: Alles, was die Kirche tut und in ihr die offiziell Bestellten, muss dem Menschen gut tun, indem es ihm hilft, vor Gott, also von Gott her er selber zu werden und zu sein. Gewiss wird es persönliche Schwächen immer geben bei der Ausübung der Dienste in der Kirche; anderes zu erwarten, wäre unmenschlich, weil jeder – vom Papst bis zum jüngsten Kaplan oder Diakon – seine Grenzen, seine wunden Stellen, seine Unfertigkeiten hat. Freilich kommt nicht Weniges, was schief läuft in der Kirche, nicht aus solchen menschlichen Schwächen, sondern sehr wohl aus eitlem Geckentum, aus Borniertheit und Bosheit als Auswurf widerlichen Machtgebarens zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse. Da treibt das heutige Evangelium jedem im kirchlichen Dienst den Stachel hinein, bis er in eigenem Tun und Lassen beglaubigt, dass Christus uns dient um unseretwillen. Und deshalb tun wir als Kirche gut daran, dass wir am heutigen Sonntag – da der Herr uns als Guter Hirt entgegentritt – auch einmal darum bitten, dass Gott uns genug Menschen bereit mache, andere hütend und sorgend der Gottesgegenwart inne werden zu lassen, die uns schon immer zuinnerst beseelt. Beten Sie deshalb manchmal, dass Gott junge Frauen und Männer finde für diesen Dienst; beten Sie manchmal bitte auch für die TheologInnen und Priester, die an unserer Fakultät arbeiten oder in dieser Gemeinde mit Ihnen beten und feiern, dass sie dem Maßstab gehorchen, an dem sie einst gemessen werden.