Philosophische Weihnacht - Predigtreihe St. Ludgeri - Advent 2018
Teil 3

Gott macht sich um Gottes und des Menschen willen klein: Hamann, Schelling und Gianni Vattimo über den Philipperbrief

I
Letzten Sonntag habe ich erzählt von Philosophen, die sich gerade-zu enthusiastisch auf den Johannes-Prolog bezogen haben – dieses

„Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und der Logos war Gott. … Und der Logos ist Fleisch geworden usw.“

Von Herder, Schleiermacher, besonders Fichte war die Rede, am Rande auch von Hegel. Noch ein anderer hat sich auch mit dem Johannes-Prolog beschäftigt, der Überflieger Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der als knapp 18-jähriger Jungspund im Tübinger Stift, dem Seminar für angehende evangelische Pastoren, mit Hegel und Hölderlin das Zimmer teilte, mit ihnen ordentlich soff und sie – die Älteren – zugleich mit unglaublichen philosophischen Texten in Grund und Boden schrieb. Was er damals zu Papier brachte, ließ ihn bis ins hohe Alter nicht los. Deshalb finden sich noch in seinen späten Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung deutliche Spuren seiner Auseinandersetzung mit dem Johannes-Prolog, die früh begonnen hatte.

II
Dennoch hat Schelling etwas Anderes noch mehr fasziniert als der Johannes-Prolog: der sogenannte Philipper-Hymnus: Jenes

„Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich (ekénosen), wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. (Phil 2, 6-7)

Schelling war nicht der Erste und schon gar nicht der Letzte, den dieses Bibelwort in Bann schlug. Aber Schelling ist der einzige der großen Philosophen jener Zeit, der eine Theologie der Kenosis, der Selbstentäußerung Gottes bietet. Dieser Rang gebührt ihm auch dann noch, wenn man in Rechnung stellt, dass kein anderer als sein Freund und Konkurrent Hegel den Zentralbegriff der Kenosis-Theorie – das Konzept der „Entäußerung“ – erst wirklich zu philosophischem Rang erhob.

III
Religionsgeschichtlich geistert dieses Thema schon vor Paulus herum: dass sich die größte Größe Gottes darin erweist, dass er es sich leisten kann, auf sein Gottsein, auf alle Macht und Pracht zu verzichten, sich klein macht und eben dadurch dem Menschen auf Du und Du begegnen kann, ohne ihm Angst einzuflößen. Im Ereignis der Menschwerdung realisiert sich diese Idee auf singuläre Weise.

Dieser Gedanke hat seine Faszination bewahrt bis in die unmittelbare Gegenwart. Nur so lässt sich erklären, dass der atheistische Philosoph Ernst Bloch von einem Atheismus im Christentum sprechen kann – so der Titel eines seiner Bücher – und damit Bezug nimmt auf Weihnachten: dass Gott sich allen Gottseins begibt, indem er Mensch wird und damit alles, was vorher Religion war, dementiert und in eine völlig neue Perspektive setzt. Bloch stellt seinem Buch die Sätze voran:

„Denken ist Überschreiten.

Es ist das Beste an der Religion, dass
sie Ketzer hervorruft.

Religion ist Religio, Rückverbindung,
besonders mit einem mythischen Gott
des Anfangs, der Weltschöpfung; daher
ist das verstandene Exodus-Bekenntnis zu
,Ich werde sein, der ich sein werde’, gar
zum Christentum des Menschensohns und
Eschatons keine Religion mehr.
Nur ein Atheist kann ein guter Christ
sein, nur ein Christ kann ein guter
Atheist sein.

Entscheidend: Ein Transzendieren
ohne Transzendenz.
Dies septimus nos ipsi erimus. (Augustin)“1

So nimmt Bloch – wieder einmal mehr ein Philosoph – Mt 25 ernst, jene verstörende Jesus-Rede, dass, wer einen Hungrigen gespeist, einen Nackten bekleidet, einen Obdachlosen aufgenommen, einen Gefangenen besucht habe, ebendies dem Menschensohn, also dem zur Versöhnung von Himmel und Erde bevollmächtigten Gottesboten und damit Gott selbst als Dienst erwiesen habe. Diese Radikalität der Verweltlichung des christlichen Gottes duldet nicht mehr dessen verdinglichende Versetzung in ein Jenseits. Darauf zielt Bloch, wenn er seine Religionsphilosophie Atheismus im Christentum nennt.

IV
Noch grundstürzender hat das nach Bloch aber noch ein anderer getan, dessen radikale Religionskritik sozusagen umschlug in eine ganz neue Form der Kenosis-Theologie, einer Theologie vom sich kleinmachenden Gott, die genau besehen in ein wunderbares Weihnachtsbild mündet. Ich spreche von Gianni Vattimo. Vattimo ist der prominenteste Philosoph der Postmoderne in Italien, mittlerweile über 80 Jahre alt aber immer noch an aktuellen Debatten beteiligt. Vattimo kam zu seinem philosophischen Kenosis-Gedanken auf einen Weg, der mit seiner philosophischen Wiederentdeckung des Christentums koinzidiert. Er entdeckte: Im bisherigen Gang des abendländischen Denkens meldet sich offenkundig ein Trend zur Abschwächung starker Geltungsansprüche. In der Metaphysik glaubt niemand mehr an die ewigen, unveränderlichen Ideen eines Platon, in der Ethik begegnen kaum mehr unveränderbare Gesetze (auch wenn das ein paar Hierarchen der katholischen Kirche immer noch meinen). Und selbst in der modernen Wissenschaft ist das so  – das ist uns manchmal gar nicht so klar und deswegen umso überraschender. Vattimo wörtlich:

„Die Wissenschaft spricht von Objekten, die immer weniger mit denen der Alltagserfahrung in Beziehung gesetzt werden können, weshalb ich nicht recht weiß, was ich ‚Wirklichkeit’ nennen soll – das, was ich sehe und fühle, oder das, was ich in den Büchern über Physik und Astrophysik beschrieben finde; die Technik und die Warenproduktion formen meine Welt immer mehr als eine künstliche Welt, in der auch die ‚natürlichen’, die wesentlichen Bedürfnisse sich nicht von den durch die Werbung ausgelösten und manipulierten Bedürfnissen unterscheiden, so daß ich auch hier kein Kriterium zur Unterscheidung des Wirklichen vom ‚Erfundenen’ mehr habe; auch die Geschichte hat nach dem Ende des Kolonialismus und nach der Auflösung der eurozentrischen Vorurteile keinen einheitlichen Sinn mehr, sie ist in eine Vielzahl von Geschichten zerfallen, die kein einheitlicher roter Faden mehr zusammenhält.“2

Für Vattimo steht diese Abschwächung starker Geltungsansprüche nun in ursächlichem Zusammenhang mit der Botschaft des Christentums. Vattimo erblickt nämlich die letztendliche ermöglichende Voraussetzung jener philosophischen Abschwächungstendenzen objektivistischer Ansprüche im christlichen Basisgedanken der Inkarnation, also der Selbstentäußerung Gottes in Menschengestalt. Es fällt Vattimo selbst nicht leicht, den Zusammenhang zwischen beidem angemessen zur Geltung zu bringen. Er spricht von „Transkription“3 und später von „Verwandtschaft“4 zwischen dem Kern der christlichen Botschaft – der Menschwerdung Gottes –, den die Theologie „kenosis“ (Entäußerung) Gottes nennt, und dem Gang des abendländischen philosophischen Denkens. Der genaue Status dieses Gedankens ist nur näherungsweise formulierbar. Vattimo wörtlich:

„Die Anerkennung der ‚Verwandtschaft’ ist kein Übergang, der sich ‚logisch’, irgendeiner begrifflichen Notwendigkeit folgend, realisiert. Sie ist, wie dies bei den Ausgangspunkten der philosophischen Reflexion oft der Fall ist, etwas Unreines, das sich aber aufgrund von Bedeutungen, von Verbindungen, von der umfassenden Überzeugungskraft, die es in seiner Entwicklung zu entfalten vermag, von einem rationalen Standpunkt aus legitimieren lässt.“5

Er denkt also an so etwas wie eine Parallele zwischen der christlichen Botschaft und dem Gang des abendländischen philosophischen Denkens. Er ist überzeugt, dass alle entscheidenden Merkmale der westlichen Kultur vom Grundtext der Bibel her begriffen werden müssten. Und auch und gerade das heute verbreitete nach-christliche Verständnis des Christentums als eine Stimme unter vielen Sinnangeboten sei zu verstehen als Konsequenz der im Inkarnationsgedanken angelegten Logik der Säkularisierung – dass Göttliches menschlich werde.

V
Im Gefälle dieser kenotischen Denkform seien – so Vattimo – sowohl die Dogmen wie die Moral im Sinn einer Herabstufung ihrer traditionell starken Ansprüche zu entmythologisieren.  Weil Gott sich in der Inkarnation jeglichen Gottseins begibt und sich buchstäblich klein macht, zwinge die Religion des menschgewordenen Gottes nachgerade dazu, ihre eigenen Bindungskräfte kenotisch – also als schwache – zu präsentieren. Doch gerade in dieser kompromisslosen Verpflichtung auf den eigenen Ursprung führt die christliche Gottrede für Vattimo zur verblüffenden Entdeckung eines ganz starken Gedankens: Die in ihrer eigenen Logik angelegte Entäußerung versinkt für ihn nicht in einem Abgrund der Selbstauflösung, sondern führt auf einen letzten, nicht hintergehbaren Boden, auf eine Letztbegründung. Vattimo sagt das so:

„Die Interpretation, die Jesus Christus von den Prophezeiungen des Alten Testaments gibt, ja: die Interpretation dieser Prophezeiungen, die er selbst ist, enthüllt deren wahren Sinn, der am Ende nur einer ist: die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Und dieser ‚letzte’ Sinn ist eben dadurch, daß er die caritas ist, niemals der wahrhaft ‚letzte’, hat nicht die Letztgültigkeit des metaphysischen Prinzips, über das man nicht hinausgeht und vor dem jedes Fragen aufhört.“7

So wird die Liebe als ein „letztes“ Prinzip entdeckt, das überhaupt möglich macht, Verschiedenes in seiner Verschiedenheit, Anderes in seiner Andersheit anzuerkennen.

Anders gesagt: Wenn die Macht des denkbar Mächtigsten in der Preisgabe der Macht zugunsten von anderem besteht und sich darin das wahre Mächtigsein dessen zeigt, worüber hinaus Mächtigeres nicht gedacht werden kann, kann es in der Welt nichts Mächtiges mehr geben – keine Moral, kein Dogma, keine Autorität –, das sich diesem Kriterium des Seins-für-Anderes zu entziehen vermöchte. Die Hohlform dieser Macht, die sich im buchstäblichen Seinlassen von anderem vergegenwärtigt, füllt Vattimo mit dem Begriff der „caritas“, der Liebe, übrigens in bemerkenswerter Nähe zum Kirchenvater Augustinus. Ihm wird mit Blick auf eine Sentenz in seinem Johannesbrief-Kommentar das Diktum zugeschrieben, jemandem bekennen „Ich liebe dich“, heiße ihm oder ihr zu sagen „Ich will, dass Du bist“8.  Du sollst sein! So wird die Liebe im Sinn von Seinlassen zur letzten Bedingung der Möglichkeit von Pluralität. Und damit ist eine Idee von Universalität gewonnen, deren Spezifikum genau darin besteht, dem Differenten Raum zu geben und es gerade so zusammen zu halten. Den Keim für ein solch offenes Denken erblickt Vattimo in eben jenem christlichen Gedanken von einem Gott, der sich im Menschwerden klein macht, alle Macht und Pracht und alle Herrschaftsallüren ablegt, um so das Andere, das es auch noch gibt, alles Endliche und also auch uns, ganz zur Geltung kommen zu lassen.

VI
Vattimo hat diese Idee nicht einfach neu erfunden, ganz abgesehen davon, dass ihm entsprechende Intuitionen schon in der Begegnung mit der überragenden Schelling-Interpretation seines Lehrers Luigi Pareyson zugewachsen sein dürften. Die Idee eines kenotischen Gottesgedankens lässt sich mindestens bis in die Kabbala, die mittelalterliche jüdische Mystik mit ihrem Lehrstück des „Zimzum“ zurückverfolgen, eines Sich-in-sich-Zurückziehens des Absoluten, damit Raum für Endliches in ihm werde.9  In geradezu aufregender trinitarischer Wendung taucht dann der Gedanke bei Johann Georg Hamann, dem Kant-Freund und -Kritiker auf, der nicht weit von hier in der Wilhelmsstraße begraben liegt. Er entwickelte eine sogenannte Kondeszendenztheologie, in der er den Kenosis-Gedanken sozusagen zum Grundcharakteristikum Gottes macht. Er sagt: Gott der Vater, als großer Poet der Welt im genus humile (in der bescheidenen Rede) sprechend, mache sich durch das Schöpfungswerk klein (weil er ja gar nichts schaffen müsste, um Gott zu sein), der Sohn macht sich klein durch das Menschwerden und Sterben, der Heilige Geist schließlich durch sein Dienen als Inspirator der biblischen Autoren, um so den Reichtum der göttlichen Liebe kundzutun.10  Heute stellt sich selbst der protestantische Theologe Eberhard Jüngel ohne Vorbehalt in diese Tradition, wenn er in einem Disput – ausgerechnet mit dem religionskritischen Philosophen Peter Sloterdijk – bemerkt, Gott habe sich gerade in der Entäußerung als Überschwängliches offenbart.11 

VII
Vor diesem Hintergrund sollte nicht vergessen werden, dass man diese Verschränkung von Vernunft und Liebe seit Jahrzehnten auch im Denken von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., finden kann – bis hinein in seine Antrittsenzyklika Deus caritas est (Gott ist die Liebe).

Schon Jahre vor seinem Pontifikat betonte er, dass die erlösende Kraft der christlichen Mission daher rührt, dass sie in Jesus Christus den Gott zeigen konnte,

„der Vernunft und Liebe ist [… und] der stärker ist als alle dunklen Mächte, die es in der Welt geben mag […].“12

Bruchlos weitergeführt wird diese Linie in Deus caritas est. Dort identifiziert er das metaphysische Gottesbild der „Urvernunft“ (Art. 10) mit einem, der „mit der ganzen Leidenschaft wirklicher Liebe“ (ebd.) liebt – sonst gäbe es ja nichts Anderes wie die Schöpfung. Das ist genau jener Gedanke, den Vattimo aus Augustinus aufgenommen hat, dass Lieben heiße, das Dasein von etwas Anderem als mir selbst unbedingt zu bejahen. Der Eros, dieses leidenschaftliche Streben, das da dahintersteht, ist – so die Enzyklika – durch den Logos zur Agape „geadelt“ (ebd.). Und diese „[…] Art, wie Gott liebt“ (Art. 11) fungiert zugleich als „Maßstab menschlicher Liebe“. Glaube und Ethos nehmen sozusagen aneinander Maß. Das ist Christinnen und Christen wohl bekannt unter dem Titel des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe. So wird klar, dass eben deswegen, weil Gott Vernunft ist und sich diese Vernunft praktisch als Liebe erweist, jeder Bezug auf diesen Gott alles ausschließt, was der Liebe und damit der Vernunft widerspricht – und darum vor und für Gott jede Berufung auf Gewalt ausgeschlossen ist. So kommt es, dass dem Wesen Gottes und dem Wesen der menschlichen Seele gemäß nur handelt, wer sich selbst an die Vernunft bindet. In diesem Sinne ist der christliche Glaube in seiner innersten Mitte logisch. Und Weihnachten ist nichts Geringeres als die Feier dieses wunderbaren Wesens Gottes, unserem eigenen Fühlen nahegebracht in den Ikonen von Bethlehem.

Doch was wären diese Inbilder von Bethlehem, wenn in ihnen nicht auch Maria vorkäme. Darum werden wir am nächsten Sonntag zum Abschluss unserer Predigtreihe sehen, dass und wie ein moderner und agnostischer Philosoph über Maria nachdenkt und darüber zu einer berührenden Weihnachtstheologie findet.


1BLOCH, Ernst: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Frankfurt a.M. 1973. 6.
2VATTIMO: Glauben (Anm. 22). 23.
3VATTIMO: Glauben (Anm. 22). 30.
4VATTIMO: Jenseits des Christentums (Anm. 115). 37.
5VATTIMO: Jenseits des Christentums (Anm. 115). 37.
6VATTIMO: Glauben (Anm. 22). 57-65.
7VATTIMO: Glauben (Anm. 22).69.
8Vgl. AUGUSTINUS: Ioan. Ep tr. VIII,10.
9Vgl. SCHOLEM, Gershom: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt a.M. 1977. 77. 80-81.
10Vgl. BAYER, Oskar: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Unter Mitarbeit v. Benjamin Gleede u. Ulrich Moustakas. Stuttgart; Bad Canstatt 2002. 18-20.
11Vgl. JÜNGEL, Eberhard/SLOTERDIJK, Peter: Disput über die Schöpfung. In: Verein AusstelIlungshaus für christliche Kunst. München – Jahrbuch 2001. 23-37. Hier 36.
12RATZINGER, Joseph Kardinal: Die Welt braucht Gottes Anwesenheit. Predigt des Präfekten der römischen Glaubenskongregation am 06. Juni 2004 in der Kathedrale zu Bayeux. Zit. nach Deutsche Tagespost. Nr. 407 vom 12.06.2004. Nach einem Online-Ausdruck vom 12.06.2004. 3 Seiten. Hier 1.