Philosophische Weihnacht - Predigtreihe St. Ludgeri - Advent 2018
Teil 2

Wenn Philosophen den Johannesprolog lesen: Über die Faszination des Logos-Gedankens von Herder und Schleiermacher bis Fichte

I
Letzten Sonntag habe ich ein wenig zu zeigen versucht, dass und wie sich das Geheimnis von Weihnachten auf überraschende Weise im Denken des jüdischen, aus der Synagoge exkommunizierten Philosophen Baruch de Spinoza spiegelt. Dieser Einstieg in unsere Predigtreihe Philosophische Weihnacht war kein Zufall. Denn eben dieser Spinoza, von den einen wegen seiner Religionskritik vermaledeit als „Atheorum pessimus“, von anderen, etwa Goethe, gepriesen als „theissimus et christianissimus Benedictus“, avancierte in der Hochzeit der Philosophie der Moderne, also der Zeit der Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin und manch anderer durch sein kühnes Zusammen-denken von Unendlichem und Endlichem gleichsam zum Paten und zur grauen Eminenz hinter allem, was damals im Nachdenken über Gott und die Religion Rang und Namen hatte. Und das waren durch die Bank Leute, die eigentlich evangelische Pastoren werden wollten, dann aber im Gang ihres Studiums Philosophen wurden, weil sie überzeugt waren, auf diesem Wege einer besseren Theologie den Weg zu bahnen. Kein Wunder natürlich, dass sich dabei das Philosophieren aufs Engste mit biblischen Vorgaben verschränkte. Und in kaum zu überbietendem Maß geschah das mit Bezug auf den Johannesprolog, dieses in sich schon spekulative Hyper-Evangelium von Weihnachten.

II
Wenn einer dabei gleichsam den Lorbeer der meisterhaftesten Auslegung dieser ersten Verse des Johannes-Evangeliums verdient, dann ist das Johann Gottlieb Fichte, wie wir gleich sehen werden. Andere haben mit ihm dabei gewetteifert. So etwa der Schüler Immanuel Kants und des hier in Münster begrabenen Johann Georg Hamann, der berühmte Johann Gottfried Herder. Er kommt nachgerade ins Schwärmen über den Johannes-Prolog, weil er in dessen Worten das Gottsuchen der ganzen vorausgehenden Menschheit nachhallen hört, ohne dass er diese Begeisterung dann wirklich ins Wort hätte bringen können. Sein Buch über das Johannesevangelium bricht darum ab. Aber zumindest sagt er:

„Wie tief sehe ich die Schlacken der heidnischen Philosophie liegen! Welch‘ ein reines, siebenmal durchläutertes Gold ist aus ihnen gezogen! Nur so viel irdische Materie gewählt, als die Erscheinung Gottes bedurfte! (…) Philosophie bis zur lautersten Einfalt, zur tiefsten Empfindung.“1

Hegel zeigt sich auch begeistert vom Johannes-Prolog, bleibt aber in seinen Ausführungen weit hinter seinen Zeitgenossen zurück. Einer muss noch erwähnt werden, bevor ich auf Fichte komme: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, den man bisweilen den Thomas von Aquin der protestantischen Theologie nennt. Er schrieb ein schmales Bändchen mit dem Titel Die Weihnachtsfeier, und auch dort geht es um den Johannesprolog: In Gestalt von Gesprächen in einer Familie mit ihren Freunden am Weihnachtsabend umkreist Schleiermacher, der auch fast alle platonischen Dialoge genial übersetzt hatte, dialogisch das Geheimnis der Menschwerdung Gottes. Und natürlich fasziniert ihn am meisten Joh 1,14, das Diktum von der Fleischwerdung des Wortes. Ziemlich nah an Meister Eckharts Gedanken von der Gottesgeburt in der Seele des Menschen und Angelus Silesius‘ Spruch, dass wir auf ewig verloren wären, würde Christus tausendmal in Bethlehem geboren, aber nicht in uns, schreibt Schleiermacher:

„Das Fleisch aber ist, wie wir wissen, nichts anderes als die endliche beschränkte sinnliche Natur; das Wort dagegen ist der Gedanke, das Erkennen; und das Fleischwerden desselben ist als das Hervortreten dieses ursprünglichen und Göttlichen in jener Gestalt. Was wir sonach feiern, ist nichts anders als wir selbst, wie wir insgesamt sind, oder die menschliche Natur …], angesehen und erkannt aus dem göttlichen Prinzip.
…]
Jeder von uns schaut in der Geburt Christi seine eigene höhere Geburt an, durch die nun auch nichts anders in ihm lebt als Andacht und Liebe, und auch in ihm der ewige Sohn Gottes erscheint.“2

Die Inkarnation als der Prototyp des Menschseins überhaupt, so dass wir an Weihnachten das Wunder unseres eigenen Daseins feiern: Fleischwesen, zwei Hände voll Staub und darüber der Gotteshauch der Unendlichkeit, der unser Wesentliches ausmacht. Da reichen sich, könnte man auch sagen, der Pietist Schleiermacher und der Katholik Karl Rahner gleichsam die Hand.

III
Aber einer toppt selbst das noch. Fichte. Der christologische Glutkern lebendigen Philosophierens materialisiert sich für ihn durch die Weise, wie der Johannesprolog und die Johannesbriefe das Mysterium der Inkarnation im Gewand der Mystik des inkarnierten Logos intonieren: Gottes Selbstaussprache, von Urbeginn in ihm als dem sich mitteilen Wollenden vollzogen, sein Innerstes zur Sprache bringend, darum untrennbar ihm zugehörend und doch unterscheidbar von ihm, weil sich in diesem verbum internum, diesem inneren Wort, das verbum externum, das Heraustreten des Unbegreiflichen in den Horizont der endlichen Vernunft vorbereitet.

Auch andere zuvor hatte das schon in Bann gezogen: Gottes Kommen ins Fleisch, damit durch das Schauen der Augen das verwundete Herz geheilt werde, mit dem allein das Wort geschaut werden kann – so etwa Augustinus in seiner Auslegung zum Ersten Johannesbrief. Spätere nach ihm standen ihm in ihrem meditierenden und reflektierenden Ringen um das ewige Wort, in dem alles Endliche beschlossen sein muss, wenn denn Gott wirklich der Unendliche sein soll, in nichts nach: ein Anselm von Canterbury im Monologion, der Aquinate mit seinem Prolog zum Johannes-Kommentar. Und so eben auch Fichte: Bereits 1797 hatte ein anderer Philosoph und Dichter, Friedrich Heinrich Jacobi, nach dem Zeugnis Dritter halb ernst, halb im Spaß gemeint, die Prinzipien von Fichtes Wissenschaftslehre würden sich in Wahrheit am Anfang des Johannesevangeliums finden.3 Vermutlich hat Jacobi von seiner ihm eigenen Warte aus nie ganz begriffen, wie Recht er damit hatte. In der Schrift Anweisung zum seligen Leben macht Fichte das selbst ausdrücklich: Seine Überlegungen kulminieren in einer Auslegung des Johannes-Prologs, in dem sich für ihn das authentisch Christliche auf unüberbietbare Weise verdichtet. Fichte schreibt:

„Was im Evangelium Johannis zu allererst unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen muß, ist der dogmatische Eingang desselben in der Hälfte des ersten Kapitels; gleichsam die Vorrede. Halten Sie diese Vorrede ja nicht für ein eigenes und willkührliches Philosophem des Verfassers; gleichsam für eine räsonnirende Verbrämung seiner Geschichts[/]Erzählung, von der man, rein an die Thatsachen sich haltend, der eigenen Absicht des Verfassers nach, denken könne, wie man wolle [...]. Es ist vielmehr derselbe, in Beziehung auf das ganze Evangelium, zu denken, und nur im Zusammenhange mit demselben zu begreifen. Der Verfasser führt, durch das ganze Evangelium durch, Jesum ein, als auf eine gewisse Weise, die wir unten angeben werden, von sich redend; und es ist ohne Zweifel Johannes Ueberzeugung, daß Jesus gerade also, und nicht anders, gesprochen habe, und daß er ihn also reden – gehört habe: und sein ernster Wille, daß wir ihm dies glauben sollen. [...] Die Vorrede ist anzusehen, als der Auszug, und der allgemeine Standpunkt, aller Reden Jesu: sie hat darum, der Absicht des Verfassers nach, die gleiche Autorität, wie Jesu unmittelbare Reden. Auch die Vorrede ist, nach Johannes Ansicht nicht des Johannes, sondern Jesu Lehre; und zwar der Geist, und die innigste Wurzel von Jesu ganzer Lehre."4

 Und es versteht sich von selbst, wo Fichtes nachfolgende Auslegung des Prologs ansetzt: bei dessen fünften Wort λόγος natürlich: Dessen ursprungloses In-Gott-Sein, ja Gott-Sein, das packt ihn, denn das heißt ja: Gottes Dasein ist unmittelbar Bewusstsein seiner selbst; Gottes Leben ist sein Sich-Wissen, und in ihm sind Welt und Dinge als gewusste und begriffene, und diese Selbstaussprache Gottes macht ihre Existenz aus:

„Alles ist durch ihn – den Logos – geworden, und ohne ihn ist nichts, das geworden ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen“5

Heißt das in johanneischem Originalton– alle Wirklichkeit und alles Wissen entspringen der Selbstgegenwart Gottes. Den Gehalt dieses Gedankens kennt, wie erwähnt, auch ein Anselm von Canterbury bereits. Worin sich Fichte von ihm aber unterscheidet ist dies, dass der in seine Reflexion zugleich sozusagen den Ort mit einbezieht, an dem so etwas wie Selbstgegenwart unmittelbar gewahr wird: natürlich im menschlichen Ich-Gedanken. Selbst dann, wenn ich denke, dass ich „ich“ bin, muss ich schon längst bei mir gewesen sein, weil ich sonst nicht wissen könnte, dass ich mich meine, wenn ich „ich“ sage. Alle Reflexionsmodelle zur Aufklärung dieses Selbstwissens kommen zu spät. Fichteanisch gedacht entspringt natürlich auch dieses Selbstwissen wie alles Wissen überhaupt der Selbstgegenwart Gottes, wie schon zu erläutern war. Da aber das Wissen des Ichs um Sich als Entsprungenes seiner Struktur nach völlig dem entspricht, woraus es entspringt, fallen beide – das Entsprungene und seine Herkunft, also Ich und Gott – ineins. Doch Vorsicht! Fichte sagt nicht: Das Ich ist Gott oder Ähnliches, sondern „nur“ (in Anführungszeichen), dass uns gerade das Ich-Sein aufs Innigste mit Gott verbindet. Man bedenke, dass er das unter christologischem Vorzeichen sagt, dass er also unser Ich-Sein nach dem Modell der Selbstaussprache Gottes in Gestalt des Logos denkt und damit den zentralen christlichen Gedanken einholt, dass die Glaubenden Söhne und Töchter Gottes werden, im Maße sie das Sohnsein des Einziggeborenen in Gestalt der Nachfolge einholen! Und auch bedacht sein will, dass Fichte diese seine Konzeption seligen, also erlösten, Lebens mit dem Ich-Gedanken an eine Instanz bindet, die er so untrennbar wie keiner vor ihm intersubjektiv rückbindet, indem er diese Genese des Ich- und Selbstseins in Akten der Aufforderung und Anerkennung durch andere, also modern gesprochen in der Nächstenliebe, verankert! So wie man wohl sagen muss, dass Fichte Jesus die Gestalt des unüberbietbaren Mystikers gibt6, wird man von ihm selbst sagen müssen, dass er sich auf den Bahnen einer johanneisch inspirierten Mystik bewegt. Ähnlich ließe sich für Hegel und Schelling und noch einmal verdichtet, weil von einer eigenen Poetik unterfangen, für Hölderlin dartun.

Dass diese theologische Imprägnatur des Logosbegriffs keineswegs den von Kant herkommenden kritischen Impetus abbricht, sondern erst eigentlich zuspitzt, wird daran ersichtlich, wie Fichte gerade vom Logosbegriff her theologische Grundbegriffe wie etwa den der Schöpfung radikal kritisiert. Nicht von ungefähr hat Fichte ausgerechnet in der predigtnahen Anweisung zum seligen Leben den Schöpfungsgedanken als den „absoluten Grundirrthum aller falschen Metaphysik und Religionslehre“7 gebrandmarkt,

„denn eine Schöpfung läßt sich gar nicht ordentlich denken – das was man wirklich denken heißt – und es hat noch nie irgend ein Mensch sie also gedacht“8,

weshalb auch der Johannesprolog den Anfang der Genesis durch den Logos-Gedanken korrigiere:

„[…] im direkten Widerspruche, und anhebend mit demselben Worte, und statt des zweiten, falschen, an derselben Stelle das Rechte setzend, um den Widerspruch herauszuheben, – nein, sagt Johannes: im Anfange […] d.h. ursprünglich und vor aller Zeit, schuf Gott nicht, und es bedurfte keiner Schöpfung, – sondern es – War schon; es war das Wort – und durch dieses erst sind alle Dinge gemacht.“9 

So holt Fichte die vielfach bezeugte neutestamentliche Überzeugung ein, dass alles, was ist, nicht vom Himmel fällt, sondern durch ihn – Christus – geworden ist und alles in ihm Bestand habe. Ja mehr noch: Selbst das wohl kühnste, weil vielleicht „heidnischste“ Wort des Neuen Testaments fällt in die Reichweite dieser Fichteanischen Sehweise: dass wir in Gott leben, in ihm uns bewegen und sind, wie das die Apostelgeschichte 17, 28 dem in Athen predigenden Paulus in den Mund legt.

IV
Fichte war von den Versen des Johannnes-Prologs dermaßen überwältigt, dass er aus dessen Geist sogar ein Sonett schrieb:

Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn Leben;
Du weissest, ich mit dir weiss im Verein;
Doch wie vermöchte Wissen dazuseyn,
Wenn es nicht Wissen wär‘ von Gottes Leben?

„Wie gern ‚ach! wollt‘ in diesem hin mich geben,
Allein wo find‘ ich’s? Fliesst es irgend ein
In’s Wissen, so verwandelt’s sich in Schein,
Mit ihm vermischt, mit seiner Hüll‘ umgeben.“

Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet,
Dein Ich ist sie; es sterbe, was vernichtbar,
Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben.

Durchschaue, was dies Streben überlebet,
So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar;
Und unverschleiert siehst du göttlich‘ Leben!

V
Natürlich war Fichte damals nicht der einzige Enthusiast des Johannes-Prologs und damit der Weihnachtstheologie. Vergleichbares findet man etwa auch bei Wladimir Solowjew, Maine de Biran oder Edith von Stein. Aber einen gibt es, da kippt die Auseinandersetzung mit dem Johannesprolog gleichsam hinüber in einen ganz andern Quellkontext, nämlich den Philipperbrief. Und das ist Schelling. Von ihm und dem, was er philosophisch und theologisch ausgelotet hat, soll nächste Woche die Rede sein.


1Herders Sämtliche Werke. Bd. VII. Erläuterungen zum Neuen Testament. Aus der Schrift „Johannes“. 318f.
2Schleiermacher, Friedrich: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Zürich 1989. (Manesse Bücherei; 29). 78-81.
3Vgl. Tilliette: Christologie (Anm. 9). 94. 165.
4Fichte, Johann G.: Die Anweisung zum seligen Leben. WW V. 478-479. In: DERS.: Werke 1906-1807. Hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Bd. 9., Stuttgart; Bad Cannstatt 1995.
5Joh 1,3-4.
6Vgl. Tilliette: Christologie. 99.
7Fichte: Anweisung. 117f. (Sechste Vorlesung).
8Fichte: Anweisung. 118. (Sechste Vorlesung).
9Fichte: Anweisung. 118. (Sechste Vorlesung).