Philosophische Weihnacht - Predigtreihe St. Ludgeri - Advent 2018
Teil 1

Eine Stimme fremd – und doch so nah: Der jüdische Philosoph Baruch de Spinoza und das Christusgeheimnis

I
Alle paar Jahre wage ich mich an das Projekt einer Predigtreihe zu einem bestimmten Thema. Ein Parforce-Ritt durch die ganze Bibel stand am Anfang, dann ein Gang durch das Glaubensbekenntnis, schließlich Predigten über die Herausforderungen des neuen Atheismus. Diesmal soll es darum gehen, wie Philosophen auf die Weihnachtsbotschaft reagieren, sie auslegen und aus ihr Treibsätze für das eigene Denken gewinnen. Das trifft für erstaunlich Viele zu. Ich musste eine Auswahl treffen – und hoffe diejenigen gewählt zu haben, die uns als Gläubige am meisten provozieren, das meint: herausrufen aus den gewohnten Weihnachtsgedanken, die in der Regel durch ihre emotionale Verkitschung und ökonomische Ausbeutung bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Aber gerade dagegen könnte derjenige ein probates Gegenmittel sein, um den es heute gehen wird.

II
Zu den am meisten gelesenen philosophischen Büchern gehört seit mehr als dreieinhalb Jahrhunderten David Humes An Enquiry Concerning Human Understanding (Untersuchung über den menschlichen Verstand) von 1748, eine Abfolge von Essays zu fundamentalen erkenntnistheoretischen Fragen. Im zehnten Text setzt sich Hume auch mit dem Christentum auseinander – mit dem Ergebnis, dass kein vernünftiger Mensch den christlichen Glauben akzeptieren könne, es sei denn durch ein anhaltendes Wunder, das seinen gesunden Menschenverstand zu diesem Zweck außer Kraft setze, damit er das für wahr halten könne, was der gewöhnlichen Alltagserfahrung völlig entgegenstehe.1


Für breite Kreise heute ist diese Überzeugung Humes längst common sense geworden – nur wird sie drastischer zur Sprache gebracht:

„Denkt an die Kinder, die heute eine christliche Erziehung bekommen. Was wird später aus diesen Leuten? Sie besitzen nur ein Glaubenssystem; sie haben eine prinzipielle Handlungsstrategie, und das ist die Vermeidung von Spaß. Damit hat es sich im Christentum auch schon, was das richtige Leben angeht. Du kniest nieder und betest diesen toten Typen an“2

sagt einer der Interview-Partner in Douglas Rushkoffs Kultbuch Cyberia.

III
Wirklich neu ist übrigens auch dieser abfällige Ton nicht. Schon als das Christentum im zweiten Jahrhundert in den Raum kultureller Öffentlichkeit trat, lautete in dem damals tonangebenden intellektuellen Milieu des Neoplatonismus einer der schärfsten Einwände, die neue Religion sei wegen des menschgewordenen Gottes, der dann auch noch am Galgen stirbt, schlichtweg geschmacklos – also ein ästhetischer Verstoß – und darum höchstens etwas für Idioten, ganz entsprechend dem – so wörtlich – „idiotischen Charakter“ ihres Stifters, wie der große Neoplatoniker Kelsos formuliert. Von ihm angefangen über viele andere bis zu Nietzsche und am Ende des 20. Jahrhundert den rumänischen Existenzialisten Emile Cioran war gerade der Gedanke der Menschwerdung, genauer: der Fleischwerdung Gottes die philosophische Provokation schlechthin, die vom Christentum ausging:

„Die Inkarnation“ schrieb Cioran einmal, ist die gefährlichste Schmeichelei, die uns zuteilwurde. Sie hat uns ein maßloses Statut verliehen, das in keinem Verhältnis zu dem steht, was wir sind. Indem es die menschliche Anekdote zur Würde des kosmischen Dramas erhebt, hat es uns über unsere Bedeutungslosigkeit hinweggetäuscht, hat es uns in die Illusion, in einen krankhaften Optimismus gestürzt...“3

So steht es in seinem Buch Die verfehlte Schöpfung.

Alle diese scharfsinnigen Christentumskritiker spürten und wussten seit je – übrigens oft mehr als Christinnen und Christen selbst –, dass die christliche Überzeugung von der Fleischwerdung Gottes so etwas wie ein Stachel im Fleisch der Vernunft ist, eine Herausforderung, die selbst dort noch, wo sie abgewiesen werden soll, auf eigenartig verwandelnde Weise auf ihre Kritiker einwirkt.

IV
Aber das ist noch längst nicht alles. Das Christusgeheimnis hat nämlich nicht nur sogenannte christliche Denker wie einen Augustinus, einen Anselm von Canterbury, einen Thomas von Aquin, Bonaventura oder Nikolaus von Kues in ihrem philosophischen Denken bewegt – die natürlich auch. Aber aufregender ist, scheint mir, dass das genauso für philosophische Denkerinnen und der Moderne und selbst der Gegenwart gilt: Insbesondere für Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin und auch noch einen Feuerbach, der erste Philosoph, der einen argumentativen Atheismus vorlegte und meinte, so erst das in der Menschwerdung verankerte christliche Prinzip der Liebe bis in allerletzter Konsequenz durchzuführen.

Die christlichen Systematiker in der Frühzeit der Kirche einst wie etwa ein Justin der Märtyrer, ein Klemens von Alexandrien, ein Origenes natürlich – der gewiss Größte damals –, später im lateinischen Bereich dann Augustinus – sie alle waren überzeugt, im Vergleich zu den griechischen Denkern vor ihnen – angefangen von den Vorsokratikern über selbst Platon und Aristoteles hinaus bis zu Plotin – die besseren Philosophen zu sein, weil ihr Denken seine einende und bestimmende Mitte in jenem Jesus von Nazareth, dem Christus Gottes hatte, dessen ältester Titel ausweislich des Lukasevangeliums nicht „Herr“ oder „Sohn“ oder „Meister“ lautet, sondern „sophia“ – also Weisheit. Und – noch gewichtiger: Er ist es, der in den ersten Versen des Johannesevangeliums mit dem so unübersetzbaren wie unausschöpflichen Namen „logos“ bezeichnet wird, eben jenem Ausdruck, der schon lange vorher durch Heraklit zum absoluten Grundwort abendländischen Philosophierens geworden war.

Knapp eineinhalb Jahrtausende später waren diese denkerischen Treibsätze immer noch unverbraucht – nur dass jetzt junge Philosophen, die nicht selten ursprünglich evangelische Pfarrer hatten werden wollen, den Anspruch erhoben, im Vergleich zu einer knöchern und autoritär gewordenen Lehrsatz- und Handbuchtheologie ohne Fühlung zum Puls ihrer Zeit die besseren Theologen zu sein. Daher kommt, dass die ersten erhaltenen Denkspuren Fichtes Predigtproben sind und Probe-Predigten zu den frühesten denkerischen Dokumenten Hegels gehören. Und daher kommt auch, dass sich neuzeitliche Philosophen – unbeschadet nicht selten scharfer Kritik an den Kirchentümern der Zeit – mit neutestamentlichen Kernpassagen nicht nur beschäftigen, sondern diese zum Ausgangspunkt und Leitfaden ausgreifender philosophischer Reflexion machen. Und immer wieder ist es auffälliger Weise der Gedanke des Herabstiegs des Allmächtigen, des Sich-klein-Machens Gottes, der die Philosophierenden in Bann schlägt, also die Inkarnation, die sich am Kreuz vollendet. Namentlich die Verse des Philipperhymnus haben es ihnen angetan, jenes

„Er war wie Gott,
hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich,
wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.
Er erniedrigte sich, war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz...“

Ein Schelling sinnt dem nach, ein Kierkegaard, ein Wladimir Solowjew in Russland, eine Simone Weil, Miguel Unamuno gehört dazu. Natürlich ganz vorne Hegel, mit seinem kühnen Jugendgedanken vom spekulativen Karfreitag, durch den das Kreuz als Vollendung der Inkarnation zum Gravitationszentrum des ambitioniertesten philosophischen Systemdenkens des Abendlandes wurde. Es gibt so etwas wie einen christologischen Glutkern in der neuzeitlichen Philosophie – bis heute. Wo stößt man auf ihn?

V
Dass die Rede von einem christologischen Glutkern gerade der neuzeitlichen Philosophie keine Übertreibung ist, dafür steht in besonderer Weise ein Denker ein, von dem man das vorderhand am allerwenigsten erwarten würde – allein schon deshalb nicht, weil er weder Christ noch Christentumskritiker war, sondern ein aus der eigenen Glaubensgemeinschaft wegen Irrlehre exkommunizierter Jude: Baruch de Spinoza. In einem Gespräch mit Leibniz hat er Christus als „Summus philosophus“ bezeichnet, Leibniz hat das eigens schriftlich festgehalten.

Wie kommt dieser radikale Rationalist, Mitbegründer der historisch-kritischen Exegese, messerscharfe Sezierer der überlieferten Rede von einem personalen Gott zu solcher Rede? Warum nennt er in seinen Briefen Christus „Mund Gottes“ oder „Stimme Gottes“, „Weg des Heils“, einen, der „mit Gott von Seele zu Seele kommuniziert“?4

Meine versuchsweise Antwort fällt doppelt aus: Spinoza hat an Christus zum einen das sittliche Profil fasziniert, allem Anschein nach so sehr, dass untergründig so etwas wie eine Geistesverwandtschaft aufblitzt5. In gewissem Sinn hat Spinoza, der Verfolgte und Verbannte, in Jesus einen Vorläufer gesehen. Übrigens war das durchgehendes Thema der philosophischen Spinoza-Rezeption Ende des 18. Jahrhunderts bis in die verblüffenden literarischen Transfigurationen Spinozas von Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwartsliteratur: Es gibt eine ganze Kette von Spinoza-Romanen, die in ihrer Mehrheit auf diese innere Verbundenheit von Jesus und Spinoza als glühendem Gottsucher und Gottfinder (!) abheben, so dass aus dem vermaledeiten Atheisten – grundiert von seiner außer jedem Verdacht stehenden Lebensführung – ein von Goethe etwa „theissimus“ und „christianissimus“ genannter6 „Göttlichster und christlichster Heiliger Benedictus“ werden konnte.

Hinter Spinozas Hochschätzung der Christusfigur scheint mir aber noch ein zweites, wenig beachtetes, nämlich metaphysisches Motiv wirksam zu sein: Er erblickte in der Gestalt Christi, dem Gedanken vom fleischgewordenen Sohn Gottes, unerachtet der Distanz zum geschichtlichen Anspruch des Christlichen so etwas wie ein Vorausbild und Richtmaß für die Antwort auf jene Frage, deren Beantwortung sein ganzes Lebenswerk in Anspruch nahm: die Frage, wie denn das Verhältnis von Endlichem und Absolutem angemessen zu denken sei. Jedes Denken, das sich diese Frage nicht stellte, kapitulierte sozusagen schon vor seiner ersten Herausforderung. Denn wenn es Endliches gibt – und es gibt ja zumindest uns als Endliche, die eben diesen endlichen Gedanken denken –, dann liegt auf der Hand, dass dieses Endliche in einem Absoluten gründen und aus ihm kommen muss, weil sonst einmal gar nichts gewesen wäre und aus nichts nichts kommt. Aber wenn das so ist: Wenn es ein Absolutes geben muss, damit Endliches sein kann, wie vermag dann wirklich Endliches zu sein, da doch – ist Absolutes wirklich absolut –, nicht noch etwas außer ihm bestehen kann! Soll also Endliches wirklich sein – und wir sind doch! –, dann nur so und dadurch, dass es im Absoluten gedacht wird. Das In-Sein des Endlichen als solchen im Absoluten, das ist die erste Frage eines jeden aus dem Anliegen eines bewusst geführten Lebens aufkommenden Philosophierens. Spinozas Antwort lautete:

„Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott seyn oder begriffen werden.“7

Und jedes Wort war dabei radikal gemeint: dass eben das Sein alles Endlichen Gottes Sein und jedes Begreifen eines Endlichen Gottes Begreifen und im letzten Sinn Begreifen Gottes im Sinn eines Genitivus subiectivus ist – dass er in allem Begreifen also sich selbst begreift und dass alles Nachvollziehen des Seienden, je strenger, je mehr, also zumal als Mathematik, ein Bejahen des Gedachten, also Liebe des Seienden und damit Gottesliebe und wiederum im allerletzten Gottes Liebe seiner selbst ist, die in ihrem Vollzug ganz aus sich herausgeht – wie wenn man auf ein Vexierbild schaut, das dauernd zwischen zwei total verschiedenen Gestalten hin- und herkippt, obwohl, nein: weil es eine ist.

VI
Gewiss: Wie Spinoza jene Frage nach endlich und unendlich beantwortet hat, zieht eine ganze Kaskade von neuen Fragen nach sich, lässt schnell Etiketten wie Alleinheitslehre, Monismus, Pantheismus oder Atheismus und dergleichen und manchmal alles zugleich laut werden. Aber er hat die Frage beantwortet und wer die Antwort nicht mit einer ihrer Billigvarianten verwechselt, die auch im Umlauf sind, sondern im Gesamt von Spinozas Denken wahrnimmt, wird sich einiges einfallen lassen müssen, um eine bessere Antwort auf jene Grundfrage zu finden, auch wenn sich viele andere Fragen auf anderen Wegen leichter beantworten lassen. Das sage ich nicht, weil ich so einfachhin Spinozist wäre, sondern weil ich überzeugt bin, dass man Spinoza vom Christusgeschehen her verstehen muss:

„[…] Spinoza setzt […] stillschweigend voraus, dass wer immer das Sein und das Geheimnis Christi gründlich kennt, zumindest der Widerschein des vollkommenen Philosophen ist, an ihm teilhat.“8

Anders gesagt: Spinozas Denken lässt sich ohne das Christentum einschließlich seiner jüdischen Wurzeln und eben gerade ohne Blick auf die Inkarnation nicht verstehen.

Was freilich – denken Sie ans Vexierbild – umgekehrt genauso nicht weniger heißt als: Auch von einem Spinoza vermag Licht auf das Christusgeheimnis zu fallen. Hatten die alten Konzilien von ihm bevorzugt in Negationen gesprochen – vom unvermischten und ungetrennten Gott- und Menschsein Jesu Christi etwa –, so lässt Spinoza eine Ahnung aufkeimen, dass und warum dort, wo Wirklichkeit bis zu ihrem letzten Grunde durchdacht, wo Vernunft und Mystik, Sinn und Liebe als ihre letzten Angelpunkte aufgehen, das Antlitz Christi, des Gottmenschen, durchzuschimmern beginnt.

In der Instanz der Stimme der Philosophie ist – das versteht sich von selbst – beileibe nicht alles über Christus gesagt und gewiss weniger, als selbst die einfachen Worte des Credo ausmessen. Aber ohne diese Stimme fehlte etwas, das unserem Bekenntnis überall dort, wo es sich der Rechenschaft auf dem Forum der Vernunft stellt und nach eigener Überzeugung laut 1 Petr 3,15 stellen muss, die ihm wesentliche Tiefenschärfe verleiht. Denn christliche Theologie versteht sich als Erkenntnis, die um die Macht einer Liebe weiß, die unbedingt genannt werden darf – so unbedingt, dass sie nichts für sich behalten muss, um sie selbst zu sein, so dass sie – wieder das Vexierbild – am meisten darin sie selbst wird, dass sie sich verschenkt und verausgabt. Man kann darum das Christusgeschehen mit der philosophischen Formel umreißen, dass Gott selbst sich vollständig zugänglich macht dadurch, dass er sich abhängig macht von dem, was ihm sich abhängig weiß. Vielleicht wäre das ein Gedanke, der sich in Spinozas Nähe hält und doch weniger schnell in manchen Verdacht gezogen werden kann, den der rätselhafte Denker gern auf sich zieht. Wie auch immer – eines bleibt für uns allemal: Spinozas so stillschweigende wie offenkundige Überzeugung, dass, wer das Geheimnis Christi wirklich kennt, wirklichem Philosophieren nicht ferne ist. Die Generation nach Kant, für die Spinoza aus komplexen Gründen im Rahmen ihrer kritischen Fortschreibung des Kantischen Programms zum zentralen Bezugspunkt avancierte, hat genau dieses nicht nur unausgesprochen unterstellt, sondern in größtmöglicher Klarheit zur Geltung gebracht. Das extremste Beispiel dafür ist auch das am einfachsten Darstellbare. Es findet sich im Denken Johann Gottlieb Fichtes. Ich werde es Ihnen am nächsten Sonntag vorstellen.


1Vgl. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übers. und hrsg. von Herbert Herring. Stuttgart 1976. (reclam; 5489). 141-167.
2Rushkoff, Douglas: Cyberia. Von Hackern, Technoschamanen und Cyberpunks. Aus dem Amerik. v. Johannes Schwab, München 1995. (Knaur-TB; 60366). 150.
3Cioran, Emile M.: Die verfehlte Schöpfung. Frankfurt am Main 1979. 33.
4Spinoza, Benedictus de: Theologisch-politischer Traktat. Übertragen und eingeleitet von Carl Gebhardt. Nachdruck der fünften Auflage 1955. Hamburg 1965. 24.
5Vgl. Tilliette: Christologie (Anm. 14). 80.
6Goethe, Johann Wolfgang v.: Brief an Jacobi vom 9.6.1785. In: Ders.: Goethes Werke. IV. Abteilung: Goethes Briefe. 7. Bd. Weimar 1891. 62.
7Spinoza: Ethik. I, Lehrsatz 5. Zit. nach: Werke. Bd. II. Hrsg. von Konrad Blumenstock. Darmstadt 1980. 107.
8Tilliette: Christologie (Anm. 14). 92.