Vom Warten und Lohnen - 19. So C

Lk 12,35-40

I
Ein buddhistischer Schüler fragte seine geistlichen Lehrer einmal, was es denn bedeute, erleuchtet zu sein. Der Meister antwortete: Bevor du anfängst, die Meditation zu studieren und zu üben, ist ein Berg nur ein Berg, ein Fluss nur ein Fluss und ein Mann nur ein Mann. Während deines Studiums scheint nichts mehr das zu sein, was es vorher war. Viel später dann, wenn du alles klar erkennen kannst, ist ein Berg nichts als ein Berg, ein Fluss nichts als ein Fluss und ein Mann nichts als ein Mann.

II
Das ist erstaunlich, denn das heißt doch: Den Erleuchteten, den Gläubigen unterscheidet vom Unerleuchteten alles und nichts. Nichts, weil beide auf gleiche Weise in der gleichen Welt stehen, in der Berge Berge, Flüsse Flüsse, Männer Männer sind. Und alles unterscheidet sie, weil der Erleuchtete auf dem Weg seines geistlichen Reifens gelernt hat, dass das, was es so gibt in der Welt, nicht alles, ja dass es nur ein kleiner, augenblicklanger Wellenschlag auf der Oberfläche der Unendlichkeit ist. Darum kann der Erleuchtete gar nicht anders, als die Welt anders zu sehen als vorher, obwohl sie dieselbe bleibt.

III
Christsein hat auch mit einem solchen Sichtwechsel zu tun. Christen haben das gleiche Leben zu leben wie jeder andere auch, das gleiche Glück, die gleiche Not. Aber alles, was entsteht, was vergeht, was gelebt und gelitten wird, hat noch etwas vor sich. Alles, was wir tun und lassen, fließt nicht gleichgültig und endlos dahin, sondern geht einer Zukunft entgegen. „Der Menschensohn kommt“, sagt das Evangelium dafür. Es meint damit: Alles tritt einmal in eine unmittelbare Gegenwart Gottes.

Das macht, was wir leben und schaffen, vorläufig. Aber gleichzeitig gibt es ihm äußeres Gewicht, weil, wenn Gott uns als Zukunft entgegenkommt, nicht gleichgültig ist, was wir mitbringen in die Begegnung mit ihm. Auf diese Zukunft zugehen heißt darum, aufgeweckt im Hier und Jetzt zu leben, damit ich jetzt erwirke, was dann einmal Bestand haben wird.

IV
Müssen wir uns also die Ewigkeit verdienen – und im Letzten das ganze Leben ängstigen, ob wohl reichen wird, was wir zusammengebracht haben? Das Evangelium sieht das anders: Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt. Amen, ich sage euch: Er wird sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen.

Da wird Oberstes zu unterst gekehrt: Wo immer ein Herr heim-kommt, da hat er seinen Diener deswegen befohlen wach zu blei-ben, dass sie ihm die Aufwartung machen, wenn er zurückkehrt. Bei Gott geht es andersherum. Jeder, der auf ihn wartet, der ihn nicht vergessen hat, wird von Gott – bedient. Wenn Jesus eines Tages auf den verhassten Zöllner Zachäus zugehen wird, nicht, um ihm eine Standpauke zu halten, sondern um bei ihm einzukehren wie bei einem guten Freund, da macht er in menschlichen Gesten sichtbar, was das heutige Evangelium denen verspricht, die wach bleiben. Was du zusammengebracht, was du am Ende einmal – menschlich gesprochen – zu bieten hast, auf die Summe unterm Strich kommt’s nicht an. Entscheidend ist, du hast – wie versteckt auch immer – mit Gott gerechnet deiner Lebtage lang. Dabei wirst du erleben, was einer im Gebet einmal so gesagt hat:

Ich machte mich auf den Weg zu dir,
doch schon sah ich, du kamst mir entgegen.
Ich wollte dir sage: Ich liebe dich,
doch schon hörte ich dich flüstern: Du bist mir lieb.
Ich wollte dich um Vergebung bitten,
doch ich erfuhr, du hattest mir längst vergeben.
Ich wollte dich Vater nennen,
doch ich hörte dich rufen: Mein Kind!
Mein Gott, ich werde nie der erste sein.
Du kommst mir immer zuvor, um mir nachzugehen.

Gott ist zuvorkommend. Das ist unsere Zukunft. Wie gut darum, dass ich seiner jetzt nicht vergesse. Nicht Leistung lohnt er mir, weil er weiß, wie oft ich schwach bin und versage. Aber meine Geduld mit mir, meine treue Hoffnung auf ihn, die lohnt er mir. Im Übermaß.

V
Wenn der Herr uns zuruft: „Haltet auch ihr euch bereit!“, schafft er darum keine neue Last im Leben, das manchmal schwer genug schon auf die Schulter drückt. Im Gegenteil erleichtert uns sein Wort, weil es sagt: Ihr seid nicht hoffnungslos ins Hier und Jetzt gesperrt. Ihr habt Zukunft. Gott selbst. Und er ist für euch.  Am ehesten verstehen das wohl diejenigen, die wissen und aner-kennen, dass sie arm sind. Und diejenigen, die die Trauer zulassen im Leben, die über Verlorenes und manchmal über sich selbst. Und diejenigen, die Hunger und Durst verspüren nach Leben und Gerechtigkeit. Und diejenigen, die Barmherzigkeit wagen und ohne Arg – mit reinem Herzen, wie die Bibel gern sagt – in die Welt blicken. Und diejenigen, denen man Unrecht tut. Mit einem Satz gesagt: Es werden die Bergpredigt-Menschen sein, die das heutige Evangelium mit seinem Hoffnungsvermerk an die Seele rührt. Die paar Verse von heute sind darum so etwas wie eine Gegenstück oder Resonanzboden für jene große jesuanische Unterweisung, der deren tiefsten Sinn überhaupt erst zum Klingen bringt.

Teresa von Avila konnte das noch kürzer. Sie brauchte für ein Portrait dieser Bergpredigt-Menschen, die sehnsüchtig nach Gott ausschauen und gleichzeitig mit beiden Füßen im Leben stehen, nur drei Worte: Dio solo basta! Gott allein genügt. Er allein ist groß genug, um mich über das Gewoge des Schicksals emporzuhalten und meine Seele zu erfüllen. Das hat Jesus gesagt. Und er hat sich dafür mit Leib und Leben verbürgt. An ihn, Gottes Wort mit Name und Gesicht, kann ich mich darum halten. Sein Wort ist wie eine Arche, die über die Abgründe trägt. Es ist gut, sie immer bei sich zu haben. Auswendig. Wenigstens die Sätze daraus, die Ihnen am wichtigsten sind.