Christliche Voraussetzung

19. So B: Joh 6,41-51

I
Einer der großen Ausleger der Bibel im zwanzigsten Jahrhundert war der Münchener Neutestamentler Otto Kuß. Unerbittliches Fragen bis zum Grunde der Dinge war sein Markenzeichen. Gegen Lebensende, als er an einem Römerbrief-Kommentar arbeitete, der Fragment geblieben ist, hat sich ihm die Seele auf tragische Weise verdunkelt. Einer seiner Studenten erzählte mir, dass dieser kritische Geist, wenn er vor die größten Rätsel des Glaubens geriet, manchmal sagte: Wenn Gott wirklich Mensch geworden ist, – wenn das wahr ist, dann nehme den ganzen Rest auch noch in Kauf.

II
Dieser Satz ist genial. Er rückt die Dinge ins rechte Licht. Das, was Kuß „den ganzen Rest“ nannte, ist ja wahrlich nichts Geringeres: Gott Fleisch geworden in der Welt mit einem irdisch-geschichtlichen Dasein, von einer Jungfrau geboren, gestorben, auferstanden. Aber auch, dass Gott gleichsam als irdisches Echo dieses Jesusereignisses eine Kirche gewollt habe, in dieser Kirche Strukturen, inmitten dieser Strukturen Zeichen seiner wirklichen Gegenwart – die Sakramente –, kraft dieser Zeichen Segen für alle, die sich von ihnen ansprechen lassen. – Das alles kann kein Problem mehr sein, wenn wahr ist, dass Gott Mensch wurde. Denn Größeres, Unausdenkbareres kann man von Gott nicht sagen.

III
Gänzlich neu erfunden hatte Kuß diese Antwort freilich nicht. Sie kommt dem ziemlich nahe, was im heutigen Evangelium geschieht. Da wird Streit geführt darüber, wer Jesus ist, und Streit geführt in einer Sprache, die sich wie ein Vorausblick auf Jahrhunderte weitere Streite in der Kirchengeschichte ausnimmt: Wird am Anfang darum gestritten, wie denn ein Mensch, dessen Herkunft man kennt, dazu komme, sich Brot des Lebens zu nennen, so später – freilich eng verbunden mit ersterem – darum, wie denn ein Stück Brot der Leib, also wirkliche Gegenwart dessen sein könne, der sich so nannte. Das Nachsinnen darüber hat zumal die großen Theologen des Mittelalters in zuvor nie dagewesene Höhenlagen des Denkens getrieben.

Die Antwort lautet in beiden Fällen gleich und sie ist im Grunde einfach: Was man von Jesus und von dem Zeichen seiner Gegenwart glauben oder nicht glauben kann, hängt davon ab, wie man von Gott denkt – was man ihm zutraut oder eben nicht zutraut. In der Sprache des Johannes-Evangeliums sagt Jesus das so: Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir führt. Wer Gott für mich ist, entscheidet darüber, was ich von Jesus denke und dass ich zu ihm als dem hinfinde, den der Vater gesandt hat, damit er sich uns Menschen menschlich, auf Du und Du, auftun kann. Wörtlich steht sogar da: Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater ihn nicht zieht. „Ziehen“ – da klingt „anziehen“ mit, Faszination, gefesselt, in Bann geschlagen sein. Nur wer die Frage nach Gott nach dem Ersten und Letzten im Leben, nach dem Woher und Wie und Wohin nicht billig abtut, nicht zuschüttet und verdrängt, wer sich beruhigen lässt davon, dass im Essen, Schlafen, Lieben und Arbeiten nicht aufgeht, was er ist und will, – nur der wird nicht für undenkbar halten, dass Gott ihm etwas zu sagen hat, was hinausgeht über alles, worauf ein Mensch von selber kommen kann. Gerade so, wie Jesus selbst es mit einem Prophetenzitat sagt: Man muss Gottes Schüler werden, um überhaupt auch nur von Ferne für möglich zu halten, dass an einem Menschen aus Fleisch und Blut – an Jesus – einem etwas aufgehen kann von jenem Letzten und Innersten, das trägt.

IV
Lasse ich mich von Gott belehren, d. h., halte ich ihn für groß genug, so etwas im Ernst zu tun, dann ist der Rest kein großes Problem mehr: Wer glaubt, sagt Jesus, hat das ewige Leben – also das, was er am meisten sucht, ohne dass mehr dazu nötig wäre als eben zu glauben, d.h. Gott Gott sein zu lassen. Meister Eckhart sagt einmal: Du musst auch noch darauf verzichten, fromm und gut sein zu wollen, den Willen Gottes erfüllen zu wollen. Du musst stattdessen sogar noch Gottes ledig werden, also alle menschlichen Vorstellungen und Projektionen abtun, damit Gott wirklich Gott sein kann in Deiner Seele.

Und dann ist auch kein Problem mehr, das Kommen Jesu als Ausdruck der Fürsorge Gottes um den Menschen zu begreifen. So wie Gott sein Volk auf dem Weg in die Freiheit des gelobten Landes hinüber in der Wüste nicht hängenließ, sondern mit dem Manna speiste, genauso trägt er für uns Sorge auf dem Weg in das Land des eigenen Lebens, indem er Jesus schickt, um durch ihn auszurichten: Ich bin bei Dir – und von dem, was er sagt und tut, kannst Du zehren, damit Du an Dein Ziel kommst. Ein Mensch – lebendiges Brot, weil er von Gott kommt.

V
Nicht Jesus selbst, nicht, was er von sich sagt, nicht das heilige Brot-Zeichen, in dem bis heute wachgehalten blieb, was er sagte und wie er war, – nicht das ist das Problem, sondern wer Gott für uns ist. Das war schon immer so: Das erste Wort des heutigen Evangeliums über die Widersacher Jesu ist uralt: Sie murrten gegen ihn, heißt es. Genau das Gleiche geschah Jahrhunderte früher schon: Beim Zug durch die Wüste. Weil die Freiheit nicht nur schön, sondern auch anstrengend war, misstraute Israel der Verlässlichkeit Gottes. Und Gottes Antwort war nicht Gericht und Verdammnis, sondern – das Manna.

Manna kommt von „Manhu“. Das heißt zu Deutsch: „Was ist das?“ Anders gesagt: Die Israelitinnen und Israeliten staunten. Das hat sie aus dem Misstrauen gegen Gott gerettet. Denn staunen heißt soviel wie: trotz allem Gott als Gott anerkennen. Mit Jesus verhält es sich nicht anders. Wer angesichts seiner sich nicht im eigenen Bescheidwissen verbunkert, sondern zu staunen fähig bleibt, wird selbst durch seine Zweifel hindurch an ihm genug finden, wovon sich leben lässt. Und dann ja sagen zu dem, was er von sich selber sagt.

Das Staunen ist die Form dieses geistlichen Armseins, das Gott nicht mehr vorschreibt, wie er zu sein hat, sondern Gott wirklich Gott sein lässt. Noch einmal Meister Eckhart mit Worten aus seinem Lehrgedicht, das den Titel „Granum Sinapis“, also Senfkorn trägt:

In dem Beginn
Hoch über alles Begreifen
Ist stets das Wort.
O reicher Hort,
der stets Beginn gebar…

Werde wie ein Kind,
werde taub, werde blind!
Dein eigenes ich
Muß zunichte werden,
alles Etwas und alles Nichts treibe hinweg!
[…]

O meine Seele,
geh aus, Gott ein!
Sinke mein ganzes Etwas
In Gottes Nichts,
sinke in die grundlose Flut!
Fliehe ich von dir,
so kommst du zu mir.
Verliere ich mich,
so finde ich Dich
o überwesenhaftes Gut!*

* Meister Eckhart: Granum Sinapis. Zit. nach Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3 München 1996. Hier 283-285.