Evangelium von der Nähe - 15. So C

Lk 10, 25-37 


I
Von einem jüdischen Frommen ging die Sage, dass er jeden Tag in der Früh noch vor dem Morgengebet zum Himmel aufsteige. Einer seiner Gegner lachte darüber und legte sich einmal vor Morgengrauen auf die Lauer. Da sah er: Der Rabbi verließ als Holzknecht verkleidet sein Haus und ging in den Wald. Der Geg-ner folgte von weitem. Er sah den Rabbi Holz fällen und in Stücke hauen. Dann lud der Rabbi sich das Holz auf den Rücken und schleppte es in das Haus einer armen alten Frau. Der Gegner spähte durchs Fenster, und er sah den Rabbi auf dem Boden knien und den Ofen anzünden. – Als die Leute später den Gegner fragten, ob es denn stimme, dass der Rabbi täglich in den Himmel auffahre, da antwortete er: Ja, das stimmt. Er steigt sogar noch höher als bis zum Himmel.

II
Wenn ein Mensch an Gott glaubt, handelt er sich damit ein recht anstrengendes Geschäft ein. Denn der, an den er da glaubt, der ist nicht einfach zu haben. Glauben ist kein Vertrag über mein Seelenheil, den ich unterzeichne und dann beruhigt in die Schublade legen kann. An Gott glauben heißt stattdessen: sich auf den Weg machen. Denn Gott will gesucht und gefunden werden. Wo aber finde ich Gott? Unser Rabbi aus der Geschichte hatte ihn gefunden. Jeden Tag – noch vor dem Beten – steigt er in den Himmel auf. Dort trifft er sich mit Gott, er steht mit ihm auf Du und Du. Und dieser Himmel heißt Holzhacken und Feuermachen in der kalten Hütte einer alten Frau. Ein seltsamer Himmel, das. Und wo ist unser Himmel? Wo finden wir Gott?

III
Das heutige Evangelium gibt uns eine recht unmissverständliche Antwort auf diese Frage. Jesus hatte in einer geradezu unerhört eindeutigen Weise den Leuten gesagt, wo der Himmel liegt und der Weg verläuft, der zu Gott führt. Aber schon das, was der Evangelist Lukas Jesus selbst darüber sagen lässt, verrät, dass bereits in der frühen Kirche darum gerungen werden musste, diesen Weg Jesu nicht zu verlieren. Und wir werden gut daran tun, uns selbst nicht für weniger gefährdet zu halten als die ersten Christen damals. Wo also liegt nach Jesus Wort der Himmel?

Jesus hat in der kurzen Zeit seines öffentlichen Wirkens denen, die es hören wollten, aber auch denen, die es ganz und gar nicht hören wollten, Gottes Nähe verkündigt. Er hat in Wort und Tat eine Nähe Gottes ausgerufen, eine Nähe, die hilft und befreit. Und vor allem: eine Nähe, die einem jeden ohne jede Vorbedingung zuge-sagt ist. Jesus ganzes Leben hatte im Grunde nur die eine und einzige Aufgabe, uns allen bis heute von diesem helfenden und befreienden Gott zu erzählen. Jesu ganzes Leben ist nichts anderes als ein Gleichnis für diese Nähe Gottes, ja ein Gleichnis für Gott selber. In Jesus geht uns auf, wer Gott wirklich ist.

Und wer ist dieser Gott? In allem, was Jesus tut und sagt, kommt unablässig zur Sprache, was diesem Gott am meisten am Herzen liegt, nämlich: dass der Mensch wirklich Mensch sei. Die Mensch-lichkeit des Menschen ist es, was Gott bewegt. Eben deshalb gilt Jesu besondere Zuwendung denen, deren Menschsein gebrochen oder gefährdet ist; deshalb geht er zu den Kranken und Besessenen, die ihres Menschseins nicht mehr mächtig sind; deshalb sucht er die Ausgestoßenen, denen man menschliche Gemeinschaft vorenthält; deshalb tritt er ein für die Opfer der öffentlichen Moral und ihrer Verlogenheit; deshalb wendet er sich besonders den Sündern zu, denen der Lebensfaden zu Gott gerissen ist; und deshalb kommt er zu den Armen, die von sich selbst nichts mehr erwarten können.

IV
Der Gott, den Jesus in Wort und Tat und Leben verkündet und verkörpert, ist also ein auf Menschlichkeit bedachter Gott. Sie ist es, was ein Herz bewegt. Die Nähe dieses Gottes aber – und anders zu behaupten, hieße das Evangelium auf den Kopf stellen –, die Nähe dieses Gottes kann gar nicht anders erfahrbares Ereignis werden als dadurch, dass der Mensch auf den Menschen, auf seinen Bruder und seine Schwester verwiesen wird – dass sich einer dem anderen zuwendet. Unser Rabbi war schon den richtigen Weg gegangen. Im Holzholen und Feuermachen begegnet ihm der nahe Gott. Er hatte den Himmel gefunden. Wo einer sich Gottes Herzensanliegen, das Menschsein des Menschen, zu eigen macht, wird er Gottes Freund, einer, der mit Gott vertrauten Umgang pflegen darf. Im kleinen Bruder trifft er den großen Gott. Um es in Umkehrung einer zur Parole gewordenen Sentenz Jean-Paul Sartres zu sagen: Der Himmel – das sind die anderen. Sartre konnte in den anderen nur die Hölle erblicken. Er war der Überzeugung, dass uns die anderen grundsätzlich zur Pein werden, weil sie von Wesen in den Prozess unserer Selbstwerdung und Selbsterkenntnis verstellend einwirken und uns so niemals zu uns selber kommen lassen.

Anders das Evangelium: Gewiss sind Himmel und Erde unendlich voneinander entfernt. Für die Liebe aber bedeutet diese Unendlichkeit nichts. Denn sie entdeckt, dass der Himmel die Innenseite der Erde ist. Vorbehaltslose Zuwendung zum Menschen, wie sie Jesus selbst in der Geste der Fußwaschung verkündet und am Kreuz verkörpert hat, ist der Weg, auf dem Gott zu uns kommt. Gottes Freund sein, Gottes Nähe ist nicht zu haben ohne Menschennähe. Der Himmel liegt nicht hinter oder vor oder über oder neben dem Bruder oder der Schwester. Sondern anders herum: Der Himmel ist jede und jeder, der mich braucht.

V
Das ist Jesu klare Auskunft, wo Gott wohnt und wer er ist. Und dennoch – die Christengemeinden haben sich mit dieser Antwort schwer getan, schon damals ein paar Jahrzehnte nach Jesu Tod. Es geht uns einfach gegen den Strich, dass wir Gott erst dann in unseren Kirchen finden mit unseren Gebeten und Liedern, wenn wir ihn vorher schon gefunden haben unter denen, die am meisten unsere Hilfe brauchen. Für uns heute sind diese Wege zum Himmel ungeheuer viele und oft ungeheuer schwere geworden. Denn niemals vorher gab es so viele Menschen auf der Erde und niemals vorher so viel Unterdrückung, Ausbeuterei und Not. Und am härtesten trifft es noch immer die, die sich nicht wehren können, die Kinder zum Beispiel.

Weltweit müssen heute ca. 150 Millionen Kinder schwere Arbeit leisten: Neunjährige drehen in indischen Fabriken Zigaretten, Zwölfjährige pflügen Felder in Brasilien. In Kolumbien schuften Minderjährige in Bergwerken und in Bangkok werden Kinder an Fabriken und Bordelle verschachert. 300 Millionen Kinder auf Erden sind unterernährt, 40 000 verhungern täglich.

In Neu Delhi sticht man Kindern und Alten die Augen aus, damit sie beim Betteln mehr Mitleid erregen und so die Einnahmen stei-gen. Da versteht man, was zerbrochenes, niedergetrampeltes Menschsein heißt.

Alle diese Menschen, gerade sie, sind heute Adressaten Jesu. Und deshalb auch Adressaten derer, die Jesu Freunde sind, weil sie sich zu ihm bekennen. Gott hat Jesus zu diesen Menschen gesandt und Jesus hat uns mit dieser Sendung beauftragt. Die einzige Aufgabe dieser Sendung ist: den Menschen zum Mensch sein zu helfen, die Menschlichkeit des Menschen Gegenwart werden zu lassen. Was Jesus einst getan hat, ist jetzt den christlichen Gemeinden aufgetragen: ein leibhaftiger, greifbarer Christus sollen sie sein. Darin – und nur darin – liegen auch der Sinn und das Existenzrecht der Kirche. In dem Maß, in dem sie nicht eintritt für das Herzensanliegen Gottes, für die gottgewollte Menschlichkeit des Menschen –, im selben Maß gehört die Kirche auf den Schutthaufen der Geschichte. Wenn das Zweite Vatikanische Konzil eindringlich daran erinnert, dass die Kirche ihrem ganzen Wesen nach missionarisch sei, dann sagt es mit anderen Worten genau dasselbe. Mission ist ja nur ein anderes Wort für Sendung – Sendung, im Auftrag und Namen Jesu für die Menschlichkeit des Menschen einzutreten, erfinderisch und phantasievoll auf alle erdenkliche Weise. Und im Extremfall auch um den Preis des eigenen Lebens – Oscar Arnulfo Romero, der erschossene Erzbischof von San Salvador war ein solcher Extremfall, dem doch nur geschah, was auch Jesu Schicksal war. Es heißt, seit Amtsantritt von Papst Franziskus sei in den seit Jahren stockenden Seligsprechungsprozess von Romero wieder Bewegung gekommen.

VI
Wir brauchen auch keine Angst zu haben, dass bei dieser Sendung die Verkündung des Glaubens zu kurz käme. Denn wenn die Christinnen und Christen selber Jesu Auftrag ernst nähmen, würden sie sehr schnell gefragt nach dem Grund ihres Tuns, das sich so sehr von allem Treiben ringsum unterschiede. Dann könnten sie – gefragt und ohne sich aufzudrängen – Zeugnis geben von dem, der sie befreit hat zur Menschlichkeit, auf den sie bauen, zu dem sie gehören. Wenn auch manchmal kirchliche Würdenträger ängstlich mahnen, bei solcher Mission käme das Heil der Seele zu kurz und dazu auf dem unglücklichen Wort Papst Benedikts von der „Entweltlichung der Kirche“ herumreiten, dann ist das wohl Ausdruck von großem Unverstand und kleinem Glauben. Denn der Herr selber hat denen, die das Anliegen Gottes weitertragen, verheißen, der Vater werde ihnen alles geben, worum sie ihn in seinem Namen bitten – auch die offenen Ohren und Herzen derer, die Christus noch nicht kennen.

Und außerdem: wir sind ja nicht allein bei unserer Sendung. Denn Gott ist immer schon mit im Spiel, weil er in jedem Menschen, der uns braucht, schon auf uns wartet. Der Himmel – das sind ja die anderen. Manchmal liegt der Himmel nur um die Ecke. Und unsere Sendung ist der kürzeste Weg zu diesem Himmel.