Der rettende Hinübergang

15. So A: Mt 13,1-9

I
Es war einmal ein Wunderknabe, so erzählt man, der schon im zarten Alter die Geheimnisse der ganzen Welt erkannt hatte. Unter der Tür des Elternhauses wusste er über alles Bescheid, und von weither kamen die Menschen, um ihn sprechen zu hören und seinen Rat einzuholen. Er war auch ein glänzender Redner und ließ schwierigsten Fragen die größten Worte angedeihen, manchmal auch die längsten. Man wusste nicht, woher er sie hatte, sie lagen ihm einfach im Mund. Sein Ruf ging in die ganze Welt hinaus, und bald wollte man überall aus seinem Wissen Nutzen ziehen.

So machte er sich auf die Wanderschaft und nahm sich vor, die ganze Welt, über die er immer schon gesprochen hatte, nun auch selbst zu berühren. Doch kaum eine Stunde von zu Hause, kam er an einen Scheideweg, der ihn zwang, zwischen drei Richtungen zu wählen, denn nicht einmal ein Wunderkind kann verschiedene Wege zugleich gehen. Er ging geradeaus und musste dabei links ein Tal und rechts ein Tal ungesehen liegenlassen. Auch bei der nächsten Gabelung musste er auf Wege verzichten und bei der dritten und vierten. Immer enger wurde seine Spur. Und wenn er auf Dorfplätzen sprach, wurden seine Sätze immer kürzer. Seine Rede floss nicht mehr so frei wie einst; sie war belastet von der Unsicherheit über das weite Land, das unbefangen für immer hinter ihm lag.

So ging er und wurde älter dabei, war schon längst kein Wunderkind mehr, hatte tausende Wege auslassen müssen. Er setzte sich auf einen Stein und sprach zu sich: Ich habe immer nur verloren: an Boden, an Wissen, an Träumen. Ich bin mein Leben lang klein geworden. Jeder Schritt hat mich von etwas weggeführt. Besser, ich wäre zu Hause geblieben, wo ich alles wusste und hatte. Müde, wie er war, ging er aber dennoch den Weg zu Ende, den er begonnen hatte. Abzweigungen gab es jetzt keine mehr, nur eine Richtung war noch übrig und von allem Wissen und Reden ein einziges letztes Wort, für das der Atem noch reichte. Er sprach dieses Wort, das keiner hörte, und tat den letzen Schritt auf dem Weg. Da sah er sich um und voller Staunen nahm er wahr, dass er auf dem Gipfel eines hohen Berges stand. Der Boden, den er verlassen hatte, lag in Terrassen unter ihm. Er schaute über die ganze Welt, auch die verpassten Täler. Im Kleiner- und Ärmerwerden war er ein Leben lang aufwärts gegangen.

II
Dass jeder Verlust am Ende noch seine Wiedergutmachung hat, jeder Verzicht seinen Lohn, das gilt halt im Märchen nur, möchten Sie jetzt vielleicht einwenden. Das wirkliche Leben, geht das nicht ganz anders? Verluste ja, die gibt es Tag für Tag. Immerzu müssen wir das eine wählen und das andere lassen, drangeben, zurückstecken uns bescheiden Stück für Stück bis zum Wehtun manchmal – aber ohne Gewinn, ohne gutes Ende. Wie viele werden mit jedem Tag, den sie altern, bitterer, enttäuschter über sich und ihr Leben: den ersehnten Beruf nicht erreicht, den Traumpartner nicht gefunden, im Wohlstand nicht zufrieden geworden, statt überschäumender Lust am freien Leben eingesperrt in Banalität des alltäglichen Trotts zwischen Aufstehen und Schlafengehen, Essen und Arbeiten. Was ist geworden aus dem Elan meines Anfangs, der meine Jugend beseelte? Und wenn einer auch gläubig ist: Was ist geworden aus meinem Entschluss, Christ zu sein; wo steht ich jetzt vor Gott?

III
Solcher Selbstbefragung entgeht keiner, der je als freier Mensch sein Leben in die Hand genommen hat und darüber zu sinnen beginnt. So wird uns nicht überraschen, dass, was uns Menschen so radikal, so schmerzlich auch, in Frage zu stellen vermag, seinen Widerhall auch im Evangelium, im großen Buch vom Mensch-Werden gefunden hat. Jesus hat in seiner Kenntnis des Menschlichen gewusst, wie sehr Enttäuschung und Resignation ein Menschenleben – jedes – durchziehen. Deshalb hat er der Frage, wie wir den faktischen Gang unserer Lebtage menschlich bestehen können, ein eigenes Gleichnis gewidmet. Vorhin haben wir es gehört. Es steht am Beginn der dritten großen Rede Jesu im Matthäusevangelium. Ähnlich wie in der Bergpredigt, wo der Evangelist den Herrn vom Berg, also vom Ort der besonderen Nähe Gottes her, das Portrait des erlösten Menschen zeichnen lässt, so zeigt er uns hier den Herrn gleichsam bei der Seepredigt, von einem Boot aus redend – will sagen: Jetzt predigt der Herr über das, was im Letzten trägt über dem Abgründigen, ungesichert Schwankenden unseres Daseins.

Im Gleichnis selbst lenkt Jesus den Blick seiner Hörerinnen und Hörer auf einen schlichten Vorgang, den jeder kennt: die Aussaat des Getreides im November vor der Regenzeit. Disteln und verdorrte Sommerpflanzen stehen noch auf dem Feld, Trampelpfade führen durch die steinigen Äcker. Der Bauer kommt und streut das Saatgut aus, ruhigen Schrittes, Hand um Hand, um es dann unter die Erde zu pflügen. Ein Teil der Körner fällt auf den Weg; bis er zum Pflügen kommt, haben die Vögel die Körner entdeckt und gefressen. Ein anderer Teil gerät dorthin, wo der Humus nur dünn ist und die Steine darunter den Boden undurchdringlich machen, so dass die Saat nicht Wurzel fassen kann; andere Körner fallen zwischen die Dornsträucher und Disteln und kommen nicht hoch zwischen all dem Unkraut. Also: nicht Optimismus und nicht einmal Trost führen dem Gleichnis das Wort. Im Gegenteil: Jesus bestätigt ohne Wenn und Aber den resignativen Verdacht, dass vieles, ja das meiste im Leben umsonst ist: die Vögel, die Steine, die Sommerhitze, die Dornen – eine ganze Kette von Misserfolgen weiß er aufzuzählen. Dreiviertel des kostbaren Saatguts gehen verloren, 75 % der besten Lebenskräfte verbrauchst und vergeudest du, ohne dass das Geringste herauskäme dabei. So viel vertane Mühe, begrabene Hoffnung.

Wenn Sie sich selbst fragen: Wo sind in meinem Leben die Einbrüche der Vergeblichkeit passiert? Die Kinder denken und leben ganz anders als erhofft – entgegen all Ihren Idealen vielleicht; die Gefühle dem Ehepartner gegenüber sind eher temperiert geworden und nichts anderes Großes, Einendes, Beglückendes ist bisher an ihre Stelle getreten; die berufliche Tüchtigkeit hat nur Durchschnittsmaß erreicht; die Vitalität lässt nach, beunruhigende Ahnungen, einmal auf andere angewiesen zu sein, melden sich… Das sind die Saatkörner auf dem Weg und zwischen den Steinen und unter den Dornen, von denen der Herr redet. Schonungslos deckt er damit das Lebensgefühl der Enttäuschung auf, das irgendwann jeden einholt. So ist das Leben. Aber das ist noch nicht alles. Das Gleichnis hat noch einen Vers: Ein anderer Teil schließlich fiel auf guten Boden und brachte Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach.

Wie kann einer so unbestechlich die Verwerfungen des Menschseins wahrnehmen und dennoch zu diesem Schlusswort finden? Wie um das Enttäuschtwerden, ja die Verzweiflung auch über sich selbst wissen – und trotzdem allem – am Ende gut sein? Das kann sich keiner einreden und ausdenken. Glauben an die hundertfache Ernte kann es nur dort geben, wo einer mit einem unbedingten Vertrauen in den letzten Grund seines Daseins zu leben riskiert: also dass es Gott möglich ist, am Ende unser Leben trotz aller Rückschläge und Vergeblichkeit – trotz all des Verdorrten und Erstickten, von anderen Gestohlenen und Weggefressenen – für sich als wertvoll, ja als kostbar zu betrachten. Bis zum Bodensatz der Kapitulation hat Jesus sich eingefühlt in uns mit seiner Litanei des Scheiterns – aber eingefühlt dazu, uns mit dem Wort von der hundert-, sechzig, dreißigfachen Ernte hinaufzuführen zu der Hoffnung, dass Gott aus unserem Leben etwas zu machen weiß, und zwar in jedem Fall mehr, als wir uns träumen lassen.

Selbstverständlich gilt dieses seltsame Gleichnis des Menschlichen nicht nur für alles Mögliche im Leben, sondern auch dort, wo es um das Ganze geht – in unserem Verhältnis zu Gott. Und haben wir nicht gerade da mehr als sonst wo Grund, enttäuscht zu sein über uns? Wie viele gute Vorsätze haben wir gefasst und bald wieder fallenlassen? Wie oft begonnen, an uns zu arbeiten – und nach dem zweiten, dritten Hindernis die Zügel wieder schleifen lassen? Wie oft uns eingestanden, dass wir uns eigentlich ändern müssten – und dann doch das meiste beim Alten gelassen? Wie überscharf die Konsequenzen ernst genommenen Glaubens gesehen – und sind doch Gott – gerade im Kleinen – viel schuldig geblieben? Wie viele sind – gerade weil ihnen an Gott liegt – manchmal über die Zähigkeit der Widerstände gegen ein geistliches Leben mutlos geworden, vielleicht an der Unausrottbarkeit ihrer Zweifel verzweifelt. Das alles noch ist mitgemeint im Wort von der vielfachen Ernte. Starrt nicht auf Erfolg und Fortschritt – auch im geistlichen Leben nicht, sagt uns der Herr damit. Da werdet ihr ohnehin nie etwas finden, worauf ihr stolz sein könntet. Gesteht euch auch noch eure Leere vor Gott ein; dann werden eure Augen frei, überhaupt erst das zu sehen, was verborgen vor eurem Wägen mitten unter dem Unkraut auf dem dürren, steinigen Acker eurer Seele zu wachsen vermag. Die wortlose, demütige Treue etwa, die uns Tag für Tag beten lässt, auch dann, wenn wir müde sind und keine Lust haben – woher wissen wir, dass sie – diese Treue – weniger wertvoll ist als das Gebet, das sich irgendwann aus dem Überschwang der Gefühle einem auf die Lippen drängt? Jesu Gleichnis heißt diesbezüglich gewiss nicht die Schludrigkeit gut – und ist doch ein Trostwort, das uns mit der Macht seiner gottvertrauenden Hoffnung aus dem Würgegriff des Erfolgszwangs erlöst.

IV
Und noch eins: Dieses ganze Gleichnis mit seiner befreienden Kraft hat uns der Herr nicht einfach als Lehrstück menschlicher Weisheit geschenkt. Es steht vielmehr betont am Anfang seiner großen Rede über das Gottesreich – und das will sagen: Gottesreich also: dass es wieder stimmt zwischen Gott und uns und untereinander und dass ich wieder ja sagen kann zu mir selbst, – dieses Gottesreich bereitet seinen Anbruch dort vor, wo einer im Hören dieses Gleichnisses sein eigenes Fühlen bis zum Bitteren der Enttäuschung über sich selbst hinab vom Mitgefühl Jesu ergreifen und dann hinüberführen lässt dorthin, wo die Hoffnung stärker zu sein vermag als jede Vergeblichkeit: in den Raum grenzenlosen Vertrauens in Gott. Dieses Gleichnis immer wieder lesen und hören und ihm nachlauschen, was es zum Klingen bringt, damit begänne für uns dieses rettende Hinübergeführtwerden.

Dass es das wirklich gibt, das hat uns Jesus nicht nur gesagt. Das hat er an sich selbst erlebt und wir an ihm. Denn nur getröstet, dass selbst Aussichtslosestes vor Gott von Sinn sein könnte, – nur so konnte er den Karfreitag bestehen, sonst hätte er vor ihm fliehen müssen. Das war sein Hinübergang, den wir Ostern nennen – und den wir jetzt in Zeichen begehen, damit auch wir dorthin finden, wo Trost und Hoffnung unbesiegbar sind.