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Interview

„Professionelle Dienstleister auf dem maritimen Gewaltmarkt“

Bevor im Spätmittelalter der „Piraten“-Begriff aufkam, war Gewalt nicht per se illegitim – Interview mit Gregor Rohmann

PD Dr. Gregor Rohmann
© khk

Hat es die Piraten jemals gegeben? Sicherlich nicht als das Klischeebild, das die meisten vor Augen haben dürften, wenn sie an den sagenumwobenen Klaus Störtebeker oder gar an Captain Jack Sparrow denken. Beutemachen und gewaltsame Auseinandersetzungen waren auf See aber durchaus an der Tagesordnung und in bestimmten Situationen sogar legitim und normenkonform, sagt der Historiker PD Dr. Gregor Rohmann. Während seines Fellowships am Käte Hamburger Kolleg erforscht er kontroverse Semantiken von maritimer Güterwegnahme im spätmittelalterlichen Nordeuropa. Dabei konstatiert er eine Entwicklung, an deren Ende die begriffliche Herausbildung und gleichzeitige normative Ausgrenzung der „Piraten“ steht. Was das mit Staatsbildung zu tun hat, wer die eigentlichen Akteure hinter den Piraten waren und woher der Störtebeker-Mythos stammt, erklärt Rohmann im Interview.

Herr Dr. Rohmann, Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen intensiv mit der Geschichte des Hanseraums in der Vormoderne. Konkret untersuchen Sie derzeit sich wandelnde Deutungsmuster in Bezug auf die lange Zeit als legitim geltende Ausübung von Gewalt auf See. War das Meer im Mittelalter ein rechtsfreier Raum?

Dass es im maritimen Raum vor dem Anbruch der Moderne kein Recht gegeben habe, ist eine klassische Klischeevorstellung. Für die Hochsee mag das gelten, weil dort ohnehin niemand unterwegs war. Bis zur Durchsetzung mechanischer Hilfsmittel für die astronomische Navigation orientierte man sich in der Schifffahrt in der Regel an Landmarken und Seezeichen, an der mit dem Lot messbaren Tiefe des Wassers und Beschaffenheit des Meeresbodens, wenn möglich auch an Sonne und Sternen. Man betrieb Küstenschifffahrt und bewegte sich insofern fast immer im Einzugsbereich terrestrischer Autoritäten. Städte, Grundherren, Landesherren am Ufer hatten das Recht (und durchaus auch die Pflicht), die Schifffahrt vor ihrer Haustür zu kontrollieren. Die großen Handelsrouten galten als „Strom“, also als – modern gesprochen – Hoheitsgebiet, um das es dann natürlich konkurrierende Ansprüche geben konnte. Zudem gab es unter den See- und Kaufleuten durchaus Rechtsgewohnheiten für den Umgang miteinander. Zu diesen impliziten oder expliziten Normen gehörte aber, dass in bestimmten Situationen – und nur dann! – die Anwendung von Gewalt legitim war. Das heißt nicht, dass man sich auf See dauernd ungestraft erschlagen und beraubt hätte, sondern dass man sich bewaffnet gegenübertrat. Diese tendenziell horizontale Ordnung des Zusammenlebens wurde dann seit dem Spätmittelalter durch eine vertikale ersetzt, knapp gesagt: durch den „Staat“ mit seinem Anspruch auf ein Gewaltmonopol. Ob die maritime Welt dadurch friedlicher wurde, bliebe zu klären.

Sie plädieren für einen begriffsgeschichtlichen Zugang. Wie genau gehen Sie dabei vor, auf welche Quellen stützen Sie sich und worin liegen Ihrer Ansicht nach die Vorteile und Grenzen dieser Methode?

Wir postulieren für das Mittelalter im Allgemeinen und für den maritimen Raum im Besonderen einen Zustand des Rechtspluralismus. Nun haben wir aber das Problem, dass sich ungeschriebene Normen allenfalls indirekt quellenmäßig fassen lassen. Die Variabilität der Normen bildet sich, so meine Überlegung, noch am Ehesten in der Vielgestalt der Begriffe und ihrer Verwendung ab. Das möchte ich untersuchen.

Die historische Semantik bietet dafür einen Werkzeugkasten, der es uns erlaubt, methodisch zumindest leidlich überprüfbare Hypothesen aufzustellen. Vor allem erfordert sie, im ersten Schritt das Vorwissen der Handbücher radikal in Frage zu stellen. Auch das neu zusammengesetzte Bild hat dann freilich Lücken, bedingt durch die einseitige Methode und durch die Quellenlage. Da diese weißen Flecken bewusst sichtbar gemacht werden, ist dieses Bild auf den ersten Blick im Vergleich zum alten Handbuchbefund, der Lücken ja eher in der Makroperspektive auflöst, manchmal unbefriedigend. Und doch ist das Ergebnis hoffentlich quellenkritisch korrekter und insofern auch wissenschaftlich valider.

Die Fragen stellte Lennart Pieper.

Alexander und der Pirat Diomedes: "Was Ihr mit einer Flotte tut, tue ich mit einem Nachen. Darum nennen die Leute Euch einen König und mich einen Piraten."
© Source gallica.bnf.fr / BnF

„Der ‚Pirat‘ wird zum ‚Feind Aller‘, der außerhalb des Rechtsraumes steht“

Sie konstatieren einen grundlegenden Umdeutungsprozess von einer großen begrifflichen Vielfalt hin zu einer semantisch wie rechtlich bedeutsamen Vereinheitlichung: Am Ende stehen sich der als legitim empfundene „Kaperfahrer“ und der kriminell handelnde „Pirat“ gegenüber. Zeitlich können Sie diesen Prozess recht präzise auf die Jahre zwischen 1370 und 1435 datieren. Was genau geschah in dieser Zeit?

1370 (Frieden von Stralsund) und 1435 (2. Frieden von Vordingborg) waren zunächst einmal nur pragmatisch gewählte Daten für Anfang und Ende der Untersuchungszeit. Bis zur Durchsetzung des typisch frühneuzeitlichen Prisenrechts dauert es im Nord- und Ostseeraum länger, bis etwa 1470. Die Jahrzehnte um 1400 interessierten mich aber besonders, weil hier eben noch nicht so viel von „Piraten“ und „Kaperfahrern“ (letzteres ohnehin eine moderne Vokabel) die Rede ist, sondern eine große Variabilität von Begriffen durchgespielt wird, um maritime Gewaltakteure und ihre Handlungen zu bezeichnen. Grob gesagt: Bis 1370 gibt es außer „zeerovere“ und „soldenere“ kaum generische Benennungen solcher Akteure. Dann entstehen in kurzer Zeit sehr viele. Und ab 1435 nimmt diese Vielfalt sukzessive wieder ab, bis am Ende nur noch die idealtypische Dichotomie von angeblich böse und angeblich normenkonform übrigbleibt.

Folgte der semantischen Ausgrenzung auch ein rechtliches Verbot der Piraterie? Ist diese Entwicklung vergleichbar mit der Verkündung des Ewigen Landfriedens von 1495, der dem Adel das Fehdeführen untersagte?

Beide Verbote mussten ja erst einmal durchgesetzt werden, was bekanntlich dauerte. Im terrestrischen Raum hatte man mit dem Landfrieden eine Norm gesetzt, deren Bruch dann zum Straftatbestand werden konnte. Das Seerecht interessiert sich bis weit ins 16. Jahrhundert für „Piraterie“ nur im Zusammenhang mit Haftungs- und Schadensersatzfragen. Es wird kein Gesetz erlassen, sondern diskursiv eine gesellschaftliche Totalexklusion durchgesetzt: Der „Pirat“ wird zum „Feind Aller“, der außerhalb des Rechtsraumes steht, für dessen Tötung man deshalb eben gar keine Verbote braucht. Die Sanktion ist also theoretisch viel stärker. In der Praxis aber blieb sie mindestens ebenso sehr wie an Land der Aushandlung im konkreten Fall unterworfen. Über den Akteuren hing von nun an das Damoklesschwert des Piraterie-Vorwurfes. Dieses traf im Zweifel aber nur die Subalternen, diejenigen, deren soziale Verhandlungsbasis aus welchen Gründen auch immer schwach war.

Wer waren eigentlich die Akteure, die sich erfolgreich des Piraten-Narrativs bedienten, und aus welchen Interessen heraus taten sie dies?

Zunächst einmal wendeten alle politischen und wirtschaftlichen Akteure im maritimen Raum Gewalt an, um ihre Interessen zu verfolgen, sei es als Drohung, sei es als Praxis. In der Regel blieb das Schwert in der Scheide, weil alle eines hatten. Aber weil alle eines hatten, waren auch alle bereit, es zu ziehen. Nun gibt es stärkere und schwächere Akteure, und die stärkeren beginnen, ihre Position diskursiv zu unterfüttern, indem sie für sich den Anspruch auf Normensetzung und -durchsetzung entwickeln. Indem ich dann meinem Konkurrenten vorwerfe, er sei ein Pirat (oder er habe solche engagiert und gefördert), kann ich meine eigene Gewaltanwendung gegen diesen legitimieren. Das Narrativ dient also wie die Gewalt selbst der Durchsetzung meiner eigenen Ansprüche. Im Nachhinein nehmen wir diese hegemonialen Akteure dann als Protagonisten der Staatsbildung wahr. Dabei sind sie einfach nur diejenigen, die gewonnen haben.

Störtebeker-Denkmal in Hamburg (Foto: Soenke Rahn, Klaus Störtebeker Statue (Hamburg), CC BY-SA 3.0)
© Wikimedia

„Das Problem war, dass alle Seiten diese Leute anheuerten“

Ein besonderer Fokus Ihrer Forschungen liegt auf den sogenannten „Vitalienbrüdern“, die durch ihren legendären Anführer Klaus Störtebeker vielen Menschen ein Begriff sind. Vieles, was wir über Störtebeker und seine Seeräuber zu wissen glauben, beruht letztlich allerdings stärker auf Legenden als auf historischen Tatsachen. Woher stammen eigentlich diese Mythen und was macht sie bis heute so erfolgreich?

Das Wort „Vitalienbrüder“ bezeichnet ab ca. 1390 Gruppen von professionellen Dienstleistern auf dem Gewaltmarkt, der durch die vielen Kriege ab den 1360er Jahren in Nordeuropa entstanden war. Das Problem war nun (ähnlich wie bei den Söldnern an Land), dass alle Seiten diese Leute anheuerten, man aber zugleich das von ihnen ausgehende Gewaltpotential fürchtete. Auf die Imagination einer Kompanie von geradezu mythischen Outlaws konnte man diese Bedrohung projizieren, während man im echten Leben selbstverständlich weiter mit den konkreten Gewaltunternehmern kooperierte.

Hinzu kamen in den sogenannten Wendischen Städten (Lübeck, Hamburg, Rostock, Wismar, etc.) um 1400 innere Krisen, in denen es sich für die von den Kaufleuten dominierten Räte anbot, eine äußere Bedrohung zum Feindbild zu stilisieren, um die Durchsetzung der eigenen Interessen zu rechtfertigen. Ab 1427 mussten sich Lübeck und Hamburg dann vor dem König und den anderen Hansestädten dafür rechtfertigen, dass sie offen „Vitalienbrüder“ für sich kämpfen ließen. In dieser Zeit entsteht die Störtebeker-Legende, mit der man den eigenen heldenhaften Kampf drei Jahrzehnte zuvor ins rechte Licht rücken konnte, gerade weil man über die aktuellen Allianzen nicht sprechen wollte.

Störtebeker bot sich dazu an, weil sein Name („Deckelkrug“) für Assoziationen dionysischer Grenzüberschreitung in jeder Form offen war. Schon der antike Dionysos war ja zeitweise Pirat gewesen, und die gelehrten Chronisten gingen nun daran, den Danziger Kapitän Johannes Storcebechir mehr und mehr zu einem Dionysus redivivus zu stilisieren: rücksichtslos, aber gerecht, trinkfest, mit Schlag bei den Frauen, in der Lage, zur Not auch ohne Kopf zu laufen, etc. All das kommt aus dem antiken Dionysos-Mythos, und all das schwingt noch heute mit, wenn Ausflugslokale nach ihm benannt werden.

Sehen Sie es als Historiker auch als Ihre Aufgabe an, derlei Mythen zu dekonstruieren?

Sicherlich! Aus akademischer Sicht hat die Befassung mit solchen Legenden ja hartnäckig den Ruch des Populären, also Unwissenschaftlichen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass unsere Arbeit dazu beitragen könnte, die Welt zumindest ein kleines bisschen vernünftiger zu machen. Dennoch hier die Warnung an junge Forscher:innen: Renommée erlangt man damit nicht. In der Öffentlichkeit steht man als Spielverderber da. Und manche Kolleg:innen fühlen sich auf den Schlips getreten, weil sie nicht selbst darauf gekommen sind.

Sie sind bereits seit Juli als „Digital Fellow“ ins Kolleg eingebunden und werden ab November für einige Monate auch vor Ort in Münster arbeiten und forschen. Wie haben Sie das digitale Fellowship bislang erlebt und was erhoffen Sie sich von der Präsenzphase?

Das digitale Fellowship war ja zunächst nur ein Notbehelf, da die Pandemie Treffen vor Ort unmöglich machte. Es entwickelte aber schnell einen eigenen Reiz, mit so vielen verschiedenen Kolleg:innen ohne großen Aufwand aus dem Homeoffice heraus sprechen zu können. Nach meinem Eindruck wurde das auch sehr schnell sehr ertragreich. Aber der persönliche, zufällige Austausch im Alltag fehlt schon. Insofern freue ich mich sehr auf die Präsenzzeit. Dann werden viele Ideen für eine produktive Zusammenarbeit auch sicherlich schnell konkreter werden.

Die Fragen stellte Lennart Pieper.

Über den Autor

PD Dr. Gregor Rohmann ist Mittelalter-Historiker und Spezialist für die Geschichte der Hanse. Zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten zählen religiöse Vorstellungen und Praktiken, Körper- und Medizingeschichte sowie Erinnerungskulturen. Zurzeit ist er Fellow am EViR Kolleg.