CiM
|

Das Nervenkostüm der Drosophila

CiM-Nachwuchsgruppenleiter Dr. Sebastian Rumpf forscht mit Fruchtfliegen
Erforscht mit eigener Nachwuchsgruppe das Nervenkostüm der Fruchtfliege: Entwicklungsbiologe Dr. Sebastian Rumpf von „Cells in Motion“
© CiM - Heiner Witte

Wenn Doktorandin Sandra Rode morgens das Fruchtfliegenlabor an der Badestraße betritt, greift sie zu einem der zahlreichen Plastikröhrchen mit den bunten Deckeln. In diesen mit Nährböden ausgestatteten Kulturgefäßen wird ein Tier gehalten, das landläufig als Fruchtfliege bekannt ist ‒ Drosophila melanogaster, so der lateinische Name der Taufliege, ist einer der beliebtesten Modellorganismen in der Entwicklungsbiologie und hält mit über 100 Jahren Erforschungshistorie ideale Erfahrungswerte für die Wissenschaft bereit.

Kennt man die kleine Fliege meist nur als unliebsamen Bewohner des sommerlichen Obstkorbes, so liefert ihr Innerstes Erkenntnisse zur Entstehung und Aufrechterhaltung eines Organismus. Wichtige und weithin gültige Prinzipien der Entwicklungsbiologie wurden durch Forschung an Drosophila gefunden. „Drosophila melanogaster eignet sich für die Forschung hervorragend, da ihr Genmaterial komplett bekannt ist“, erläutert Dr. Sebastian Rumpf vom Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie der WWU. Die Forschung mit dem kleinen Insekt ist besonders praktisch: Die Fliege ist klein und vermehrt sich schnell, und ihr Lebenszyklus, also die Zeit bis zur nächsten Generation, ist mit zwei Wochen sehr kurz. Außerdem ist Drosophila genügsam: Ein wenig Apfelsaft-Agar und ein paar Körner Trockenhefe reichen als Futter für die mehr als 100 Fliegen im Röhrchen für mehrere Wochen.

Sebastian Rumpf hat sich durch Fördermittel des WWU-Exzellenzclusters „Cells in Motion“ (CiM) – Zellen in Bewegung – eine Nachwuchsgruppe aufgebaut und erforscht gemeinsam mit den Doktorandinnen Sandra Rode und Svende Herzmann das sprichwörtliche Nervenkostüm der Fliege. Dieses ist tatsächlich ‚in Bewegung‘: Gerade in der Puppenphase der Metamorphose, wenn sich die Larve, eine kleine weiße Raupe, zur flugfähigen Fliege entwickelt, ist das Nervensystem im ständigen Wandel. Die bevorzugten Forschungsobjekte der Gruppe sind sensorische Nervenzellen in der Haut der Larve. Mit ihren langen verzweigten Fortsätzen, den sogenannten Dendriten, können sie äußere Reize wie Schmerz oder Temperaturschwankungen wahrnehmen. In der Puppenphase strukturieren die Nervenzellen sich gezielt um und passen sich an die Haut der erwachsenen Fliege an.

Mit dieser Umstrukturierung einher geht ein programmierter Abbauprozess. Dabei degenerieren die Teile des Nervensystems, die die erwachsene Fliege nicht mehr benötigt. Bei den sensorischen Nervenzellen sind dies die langen Dendriten. „Die Degeneration von Nervenzellen wird meist nur im Zusammenhang mit Krankheiten wie Demenz oder der Amyotrophen Lateralsklerose, die jüngst durch die Ice-Bucket-Challenge Aufmerksamkeit bekam, erwähnt. Bei diesen Krankheiten ist durch den Verlust von Nervenzellen die korrekte Weitergabe von Reizen beeinträchtigt“, erklärt Drosophilist Rumpf. „Dass aber die Degeneration auch ein Teil der normalen Entwicklung des Nervensystems ist, wurde bisher nicht so sehr beachtet.“

Am Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie steht alles im Zeichen der Fruchtfliege. Die Arbeitsgruppe von Prof. Christian Klämbt erforscht beispielsweise das Zusammenspiel von verschiedenen Zelltypen im Gehirn. Auch in der Arbeitsgruppe von Dr. Sven Bogdan wird die Zellwanderung unter die Lupe genommen – an der Fruchtfliege lässt sich einschätzen, welche Rolle das Zellskelett für die Bewegungsdynamik spielt. Beide Forscher sind Gruppenleiter bei „Cells in Motion“. Die Nachwuchsgruppe Rumpf fügt sich nicht nur inhaltlich in das Haus und den Exzellenzcluster ein, sondern profitiert auch von der hochwertigen gemeinsamen Ausstattung in den Laboren.

Schwere Vorhänge verdunkeln den Mikroskopraum im Erdgeschoss. Das technisch hochmoderne konfokale Mikroskop steht auf einem speziellen Tisch, der Erschütterungen im Boden durch hydraulische Füße abfangen kann. Svende Herzmann bereitet gerade die Mikroskopuntersuchung einer verpuppten Fliege vor, vorsichtig platziert sie sie auf dem Objektträger und schiebt ihn unter das Objektiv. Da die sensorischen Nervenzellen dicht unter der Haut liegen, kann man sie unter dem Mikroskop durch den Kokon hindurch sehen. „Mit Hilfe spezifischer Farbstoffe wie dem ‚Grün fluoreszierenden Protein‘ (GFP) erreichen wir, dass die sensorischen Nervenzellen grün zurückstrahlen, wenn wir sie im Mikroskop mit blauem Licht beleuchten”, so Svende Herzmann zum Prinzip der Fluoreszenz-Mikroskopie. Auf diese Weise kann man das Nervensystem der Fliege „live“ bei seiner Entwicklung beobachten. „Im Grunde ist die Ausgabe der gewonnenen Bilder nur noch digital. Wir können in größter Präzision die Fliege von unten nach oben abrastern, und der Computer montiert uns daraus ein 3-D-Bild. Das ist wirklich klasse.“

Der Aufbau eines geeigneten Fliegenstamms für Untersuchungen verlangt viel Fingerspitzengefühl. Innerhalb von zehn Tagen entwickeln sich die Eier zu geschlechtsreifen Tieren, unter denen Sandra Rode nun die Jungfrauen heraussucht: Mit einem feinen Pinsel trennt sie jeden Morgen aufs Neue die frisch geschlüpften, jungfräulichen Fliegen-Weibchen von den Männchen, denn für die Simulation verschiedener Gendefekte sollen sie sich ausschließlich mit ausgewählten Fliegen-Männchen aus einem anderen Röhrchen paaren. „Ich erkenne das Weibchen an seinem etwas runder zulaufenden Hinterteil. Manchmal komme ich aber zu spät – das Weibchen wurde bereits befruchtet“, erläutert Sandra Rode die Prozedur, während sie mit zügigen Pinselstrichen die narkotisierten Fliegen sortiert.

Der Aufwand mit dem Modellorganismus Drosophila melanogaster ist überschaubar. Zugleich verspricht die Kombination von moderner Mikroskopietechnik und dem seit knapp 15 Jahren komplett sequenzierten Erbmaterial neue Einsichten, auch für die Betrachtung der Entwicklung des menschlichen Nervensystems. „Wir erforschen an der Fliege zunächst nur die Grundlagen der Neurodegeneration in der Entwicklung. Dennoch ist es möglich, dass dieses Wissen in Zukunft neue Perspektiven auf Nervenkrankheiten wie Demenz liefern könnte“, prognostiziert Entwicklungsbiologe Sebastian Rumpf.