Ria Hänisch
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Idealstadt & Planstadt

Der Typus der Idealstadt umschreibt abstrakte Vorstellungen von Städten, die im Hinblick auf Stadtgestalt und angestrebte Gesellschaftsordnung als mustergültig angesehen werden. In ideeller Hinsicht liegen den Idealstadt-Entwürfen sozialutopische, aber auch religiös, politisch, ökonomisch oder ökologisch motivierte Programme zugrunde. Formal kehren zumeist klare geometrische Strukturen (Kreis, Quadrat, Schachbrettraster) wieder, die ebenso den Typus der Planstadt bestimmen. Die Übergänge zwischen beiden Kategorien sind fließend. Überschneidungen entstehen dort, wo die Utopien der Idealstädte die Formensprache von Planstädten, also von konkreten Stadtbauprozessen, beeinflussen. Äußere Form und Art des Gemeinwesens bedingen sich gegenseitig, so dass Idealstädte sowohl Spiegel der idealisierten Gesellschaftsordnung einer Epoche sind als auch gestaltende Kraft derselben sein sollten. Ausgangspunkt der Projektionen bildet zumeist die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Ebenso gaben aber auch technische Innovationen und Neuentdeckungen in Zeiten des beschleunigten Fortschritts Anstoß für Visionen von der bestmöglichen Stadt.

Philosophisch-theoretische Ideen von Idealstädten lassen sich bis in die Antike nachvollziehen. Die einflussreichsten antiken Autoren sind Platon (DNB), Aristoteles (DNB) (und durch ihn Hippodamus; DNB) sowie Vitruv (DNB). Erster favorisierte u.a. in „Politeia“ einen Stadtstaat, in dem eine an mathematischen Gesetzen orientierte äußere Ordnung das von gesellschaftlichem Gleichgewicht geprägte politische System spiegeln würde. Diese auf soziale Gerechtigkeit abzielenden Ideen finden sich auch bei Thomas Morus‘ (DNB) „Utopia“ von 1516, das als literarisches Hauptwerk und Inspirationsquelle für zahlreiche spätere Idealstadtentwürfe gilt. Die Entdeckung Amerikas bildete den Ausgangspunkt für Morus‘ Projektion von 54, an der Hauptstadt Amaurotum orientierten Städten, die auf einer Insel angelegt und in Bezug auf Kultur sowie Form vollkommen identisch sein würden. Angestrebt wurde die Aufhebung jeglicher Unterschiede, was in der Forderung nach der Errichtung eines Gemeineigentums kulminierte. Das Motiv der gerechten Besitzverteilung kehrt bei zahlreichen neuzeitlichen Autoren wieder (z.B. Phalansterium v. Charles Fourier DNB, um 1814).

Das humanistische Potential der Entwürfe bewirkte eine Blütezeit des Idealstadtgedankens zur Zeit der Renaissance, wobei die antiken Vorbilder aufgegriffen und erstmals in konkrete Stadtpläne umgewandelt wurden. Generell ist dabei die Entwicklung vom Streben nach dem idealen (utopischen) Gemeinwesen hin zu idealen Festungs- oder Residenzstädten, die tatsächlich realisiert wurden und auf Veränderungen in der Kriegsführung reagierten, zu verzeichnen. In Italien setzten sich v.a. Anlagen auf kreis- oder sternförmigem Grundriss durch, so z.B. bei Sforzinda, dem ersten Idealstadtentwurf der Renaissance (1457–64) von Antonio Averlino gt. Filarete (DNB), oder der „Città del Sole“ (1602) von Tommaso Campanella (DNB). Eine solche tatsächlich angelegte, ausschließlich fortifikatorischen Zwecken dienende Planstadt ist Palmanova in Friaul (1593), die u.a. zur Abwehr der Türkengefahr errichtet wurde.
Bei den Idealstädten nördlich der Alpen wie auch in den Kolonien Amerikas setzte sich v.a. die – bereits durch das „Himmlische Jerusalem“ der Apokalypse vorgeprägte – Form des quadratischen Grundrisses durch. Erste theoretische Ansätze finden sich in Albrecht Dürers (DNB) Befestigungslehre (1527). Sein mühlebrettartiger Entwurf einer idealen Festungsstadt wirkte u.a. auf „Christianopolis“ (1619) von Johann Valentin Andreae (DNB) und nahm schließlich in der durch Heinrich Schickhardt (DNB) konzipierten Anlage der Exulantenstadt Freudenstadt im Schwarzwald (1599–1604) Gestalt an. Hier verbinden sich soziale Aspekte (Aufnahme von Glaubensflüchtlingen) mit pragmatischen merkantilistischen Bestrebungen (Bergbau, Handel). Das Motiv religiöser Freiheit bestimmte ebenso die regelmäßigen Planstädte Amerikas, in denen Quäker, Mennoniten, Herrnhuter etc. ihr „Gelobtes Land“ verwirklicht sahen (Wiliam Penn DNB, Philadelphia, 1682).

Zur Zeit des Barock wurde die Stadt zunehmend zur Projektionsfläche absolutistisch-herrschaftlicher Inszenierungen. Diese fanden in den Stadtplänen durch Zentralisierung der Schlossanlage Ausdruck, auf die alle Straßen zuführen (Versailles, ab 1661). Auch in Mannheim wurde die sternförmige Festung (1606) durch ein Schloss (ab 1720) ersetzt, das nun eine direkte Verbindung zum rasterartigen Straßensystem der Bürgerstadt bildete. Eine vollständig neu erschaffene Planstadt nach idealtypischem Vorbild ist zudem Karlsruhe (1715), dessen Stadtgründer im sog. „Privilegienbrief“ wesentliche Grundrechte der Bürger festhielt. Eine weitere Stadtanlage zwischen Utopie und konkreter Planstadt stammt von Claude-Nicolas Ledoux (DNB), die er für die Region um die Saline in den Wäldern von Chaux (1775–78) konzipierte. Das nie realisierte Modell verkörpert sowohl die barocke Monumentalität eines hierarchischen Gesellschaftssystems als auch Ideen der Französischen Revolution.

Mit dem Aufbruch in die Moderne führten im 19. und 20. Jh. v.a. die Folgen der Industrialisierung (Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, Metropolenbildung, Mobilisierung) zu neuen Stadtutopien wie -dystopien und schließlich zu neuen Medien, mit denen die Visionen repräsentiert wurden (Fritz Lang DNB, Metropolis, 1925/26). Einerseits wirkte sich das bereits bestehende Vokabular an Musterstädten auf den Um- und Ausbau der Großstädte aus, deren beengte Strukturen modifiziert werden sollten (Umgestaltung von Paris durch Georges-Eugène Baron Haussmann DNB 1853–70; Ringstraße in Wien 1857–65). Andererseits entstanden u.a. als Reaktion auf die zunehmende Verdichtung in den Städten völlig neue Ideale, die zunächst horizontal, und später verstärkt vertikal ausgerichtet wurden. Sowohl bei dem Konzept der Bandstadt (v. Arturio Soria y Marta DNB, 1882) als auch bei der Gartenstadt (Ebenezer Howard DNB, 1898) ging es darum, das immer größer werdende Gefälle zwischen Stadt und Land aufzuheben und die Vorzüge beider Bereiche (Arbeit, Verkehr vs. Freizeit, Erholung, Natur) miteinander zu verbinden. Ansätze der Gartenstadt-Idee wurden u.a. in Letchworth (1903) oder Dresden-Hellerau (1909) realisiert und wirken durch Anlage von Grüngürteln um Metropolen auch in den modernen Städtebau. Die italienischen Futuristen sahen in den Umbrüchen des beginnenden 20. Jahrhunderts die Chance zur Tabula rasa, die das Entstehen völlig neuer, v.a. durch Beschleunigung gekennzeichneter Städte ermöglichte (Antonio Sant’Elia DNB, Die neue Stadt, 1914). Auch Tony Garnier DNB pries in seinen funktionsgerechten Industriestädten (1917) die Vorzüge der Moderne. Weitergeführt wurden diese Ansätze von Le Corbusier (DNB, der in der Charta von Athen (1933/43) mit Wohnen, Arbeit, Kultus und Mobilität die wesentlichen Funktionen der modernen Stadt festhielt (“Eine zeitgenössische Stadt für 3 Mio. Einwohner“, 1922). Die Diktaturen des 20. Jh. brachten jeweils ihre eigenen „idealen“ Stadtentwürfe hervor. Während sich im Faschismus der Hang zu unverhältnismäßiger Monumentalität und politischem Größenwahn abzeichneten, („Welthauptstadt Germania“ 1935–43), drückte sich in den sozialistischen Arbeiterwohnstädten das Streben nach Uniformität aus (Eisenhüttenstadt ab 1950). Nach einer Phase der Anti-Utopien zielen die Konzepte des Globalisierungs-Zeitalters z.B. durch Agenda 21-Projekte oder in Form von Experimentalstädten (Auroville, 1968) v.a. auf die Beseitigung der negativen Folgen der Industrialisierung, um langfristig ein ökonomisches wie ökologisches Gleichgewicht herzustellen.

Ria Hänisch (1.9.2014)

Literaturhinweise

  • Ruth Eaton: Die ideale Stadt. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2001.
  • Hanno-Walter Kruft: Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, München 1989.
  • Georg Münter: Idealstädte. Ihre Geschichte vom 15.–17. Jahrhundert, Berlin 1957.
  • Bernd Pastuschka: Die Idealstadt im Spiegel der Zeit, in: Ideale Stadt – Reale Projekte, hg. v. Winfried Nerdinger, Ostfildern 2005, S. 24–39.
  • Eva-Maria Seng: Stadt-Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts, München/Berlin 2003.

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