Gesprächsabend „Tradition und Konkurrenz“

Reihe „Tradition(en): interdisziplinär und transepochal“

Wer entscheidet, was Tradition ist und überliefert wird? Welche Faktoren sind beim Kampf um die Deutungshoheit maßgebend? Die Geschichte zeigt viele Beispiele für Konkurrenzen um Traditionen. Drei davon haben Forschende des Exzellenzclusters hinsichtlich Tradition und Konkurrenz, Akzeptanz und Durchsetzbarkeit beleuchtet: die Etablierung des Tyrannenmords als Gründungsmythos der Demokratie im antiken Griechenland, das Einschreiben mozarabischer Märtyrer in die kanonisierte Märtyrertradition des frühen Christentums im mittelalterlichen Spanien und den Streit zwischen Papst und Kardinal um das Unfehlbarkeitsdogma im 19. Jahrhundert. Es diskutierten die Historiker Prof. Dr. Peter Funke und Prof. Dr. Wolfram Drews sowie der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf. Ihre einführenden Statements sowie ein Gesamtmitschnitt des Gesprächs lassen sich hier anschauen. Den Abend der Gesprächsreihe „Tradition(en): Interdisziplinär und transepochal“ am 24. Mai 2022 moderierte die Historikerin Prof. Dr. Ricarda Vulpius. (apo/vvm)

Tyrannenmord als Gründungsmythos der Demokratie

Tyrannenmörder-Gruppe Harmodios und Aristogeiton, Archäologisches Nationalmuseum Neapel
© wikimedia (CC BY-SA 3.0)

Tradition und Konkurrenz in der Antike: Althistoriker Prof. Dr. Peter Funke schilderte, wie sich der Tyrannenmord an Hipparchos 514 v. Chr. im alten Griechenland als traditioneller Gründungsmythos der Demokratie etablieren konnte – obwohl der Mord durch Harmodios und Aristogeiton in erster Linie private Motive hatte.

Die griechische Staatenwelt umfasste zu der Zeit mehr als 800 Staaten und Stämme, verbunden durch gemeinsame Sprache und religiöse Vorstellungen, politisch aber divers. „Die sich jeweils als autonom verstehenden Gemeinwesen konkurrierten untereinander. Dabei dienten Traditionen der Legitimierung dieser pluralen Staatenwelt, wobei Mythos und Geschichte gleichermaßen als historische Tatbestände galten“, so Funke. Die Ermordung des Tyrannen Hipparchos, dessen Bruder und Nachfolger Hippias nur vier Jahre später 510 v. Chr. durch die Athener mit Unterstützung Spartas gestürzt wurde, markiert den Beginn der Demokratisierung Athens und wird zur zentralen Tradition.

Die Stilisierung der beiden Mörder zu Freiheitskämpfern prägte entscheidend das Geschichtsbild Athens. Kleisthenesʼ neue Verfassung, nach der alle Bürger vor dem Gesetz gleich waren, ging rasch mit einer Mystifizierung und Ideologisierung des Tyrannenmordes einher: „Trotz Berichten etwa des Geschichtsschreibers Thukydides, nach denen das Mordmotiv vor allem in einer homoerotischen Beziehung lag und daher privater Art war, sowie Spartas für den Sturz ausschlaggebende Intervention wurde diese Erzählung unverändert tradiert. Die Ideologie einer Befreiung von Tyrannis aus eigener Kraft setzt sich durch und wird zur zentralen Identifikationsfigur im traditionellen Geschichtsbild der Athener“, erläuterte der Althistoriker.

Dass der Tyrannenmord nicht in Vergessenheit geriet, wurde auch durch eine Statuengruppe von Harmodios und Aristogeiton sichergestellt, die schon wenige Jahre später auf der Agora errichtet und unmittelbar nach deren Raub durch die Perser im Jahre 480 v.Chr. durch eine neue Statuengruppe der Tyrannenmörder ersetzt wurde. Für Harmodios und Aristogeiton entstand an ihren Gräbern auf dem Kerameikos ein eigener Opferkult, und die Nachfahren der Tyrannenmörder erhielten besondere Ehrenrechte. „Die Tradition konnte sich so gegen alle anderen Deutungen durchsetzen und ihre normative Kraft für politisches Handeln behaupten“, so Funke. (apo/vvm)

Christliche Traditionsbildung unter islamischer Herrschaft

Martyrium des Saint Eulogius, 17. Jh., Kathedrale von Córboda
© Anonymous, Andalusian, Public domain, via Wikimedia Commons

„Tradition ist, was dazu gemacht wird, und was als Tradition akzeptiert wird“, sagte Mittelalter-Historiker Prof. Dr. Wolfram Drews zu Beginn seines Beitrags, der anhand von christlichen Klostergründungen und von Versuchen, unter islamischer Herrschaft im mittelalterlichen Spanien einen Kult um christliche Märtyrer zu etablieren, Konkurrenzverhältnisse von Traditionen aufzeigte – innerhalb und zwischen Religionen.

Konkurrenzen zeigten sich etwa innerhalb des westlichen Christentums, als vom 11. bis zum 13. Jahrhundert vermehrt neue institutionalisierte Orden entstanden, häufig ausgehend von Wanderpredigern, die zahlreiche Anhänger beiderlei Geschlechts um sich scharten. „Die Orden konkurrierten untereinander um Mitglieder und Spenden. Dabei griffen sie auf unterschiedliche Traditionen zurück“, sagte Drews. So schrieben die Zisterzienser eine besonders strenge Lebensweise vor, was sie als Rückkehr zur ursprünglichen Strenge der Benediktregel propagierten, in Übereinstimmung mit der Tradition des heiligen Benedikt. „Der Bettelorden der Karmeliter hingegen behauptete, vom alttestamentlichen Propheten Elia gegründet worden und damit der älteste Orden überhaupt zu sein.“ Dieser Rückbezug auf erfundene Traditionen sollte Akzeptanz sichern.

Zur Konkurrenz zwischen Religionen kam es im Spanien des 9. Jahrhunderts, das unter islamischer Herrschaft stand. „Die Propagandisten der Bewegung der sogenannten mozarabischen Märtyrer wollten die vermeintlichen Glaubenszeugen in der Tradition des frühchristlichen Märtyrertums verankern. Diese lehnten sich gegen die islamische Herrschaft auf, während die christliche Bevölkerungsmehrheit den Islam als eine dem Christentum verwandte, monotheistische Religion weitgehend akzeptierte und sich von Extremisten gestört fühlte“, so der Historiker.

Die Traditionsbildung nach frühchristlichem Vorbild verfing allerdings innerhalb der Gruppe der mozarabischen Märtyrer, obwohl sie selbst, im Unterschied zu den Märtyrern der Spätantike, weder verfolgt wurden noch Wunder vollbrachten, wie ihre Gegner aus der Mehrheitsgesellschaft anführten: „Dass sich die Tradition der angeblichen Bewegung der Märtyrer dennoch etablieren konnte, ist vor allem das Verdienst ihrer Propagandisten und der Verschriftlichung ihrer Argumentation, etwa durch Aufnahme in Heiligenlisten nach spätantikem Vorbild. Auch durch Praktiken wie Reliquienverehrung kann eine neue Tradition in einen etablierten Kanon aufgenommen werden.“

Mit einem solchen Einschreiben in eine kanonisierte Tradition kann sich langfristig eine Deutung gegen konkurrierende Interpretationen durchsetzen; materielle Zeugnisse der Verehrung der andalusischen Märtyrer wie das Gemälde „Martyrium des Eulogius“ gibt es aber fast nur aus der Neuzeit: „Die Märtyrer wurden nachträglich dazu gemacht“, bilanziert Wolfram Drews. (apo/vvm)

Traditionskämpfe um die päpstliche Unfehlbarkeit

Papst Pius IX
© Adolphe Braun, Public domain, via Wikimedia Commons

Steht das Unfehlbarkeitsdogma von Papst Pius IX. in Einklang mit der kirchlichen Tradition? Über diese Frage kam es 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zwischen Papst Pius IX. und Kardinal Guidi zum Eklat, wie Kardinal Tizzani in seinem Diarium über die Privataudienz festhielt. Der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf schilderte am Gesprächsabend „Tradition und Konkurrenz“ das Geschehen und zeigte an diesem Beispiel Deutungskämpfe um Traditionslinien in der katholischen Kirche auf.

„Laut Kardinal Guidi kann der Papst nicht im Alleingang Glaubenssätze definieren. Bevor er ein Dogma verkündet, muss er der Tradition folgend zunächst den Rat der Bischöfe einholen, die für die Tradition der Kirche stehen“, erläuterte Wolf. Guidi berief sich im Sinne der klassischen Dogmatik auf den Kirchenlehrer Thomas von Aquin, wie Hubert Wolf ausführte. „Papst Pius IX. hingegen setzt sich selbst an die Stelle der Tradition.“

Beide berufen sich interessanterweise nicht auf die Heilige Schrift als Referenzquelle, sondern nur auf die Tradition. Dabei hatte das Trienter Konzil (1545-1563) festgelegt, nur was in Schrift und Tradition gleichermaßen bezeugt sei, könne zum Dogma erhoben werden. „Mit diesem Traditionsverständnis“, so der Kirchenhistoriker, „setzte sich der Katholizismus vom sola-scriptura-Prinzip des Protestantismus ab.“

Dies hatte weitreichende Folgen: „Im 19. Jahrhundert kam es zur katholischen Vorstellung eines lebendigen Traditionsstroms, der Innovationen in der Kirche durch stete Aktualisierungen des 2.000 Jahre alten Textes der Heiligen Schrift ermöglicht – in polemischer Abgrenzung vom Protestantismus, dem aufgrund des reinen Schriftbezugs ein fundamentalistisches Traditionsverständnis unterstellt wird.“

„Sowohl Pius IX. als auch Guidi argumentieren also mit der Tradition und legitimieren damit ihr durchaus unterschiedliches Handeln“, so Wolf. „Zwei unterschiedliche Verständnisse von Tradition treten hier in direkte Konkurrenz.“ (apo/vvm)