„Kirchliche Dogmen können sich weiter entwickeln“

Katholischer Theologe Michael Seewald hebt „vergessenen theologischen Schatz“ – Neue Studie über Theorien dogmatischer Entwicklung von der Antike bis heute – „Es eröffnen sich viele Spielräume für Kirchenreformen – Diskurse ohne Denkverbote nötig“

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 25. Juni 2018

Prof. Dr. Michael Seewald
© privat

Die Dogmen der katholischen Kirche haben sich nach Untersuchungen des Theologen Prof. Dr. Michael Seewald historisch viel stärker gewandelt als gedacht und bieten weit mehr Spielraum für Reformen als angenommen. „Dogmen sind nichts vom Himmel Gefallenes und nichts Abgeschlossenes, auch wenn in kirchenpolitischen Debatten jeder Wandel schnell als ‚inakzeptabler Bruch‘ mit der Tradition dargestellt wird. Eine solch enge Denkweise richtet unnötige Blockaden in vielen Bereichen auf, in denen Reformen nötig wären: von der Suche nach einer gerechten Beteiligung von Frauen an kirchlichen Ämtern bis zur Ökumene, zuletzt sichtbar geworden im Streit um die Kommunion für evangelische Ehepartner“, so der Dogmatik-Professor vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. Unter dem Titel „Dogma im Wandel“ hat er jetzt eine neue Geschichte dogmatischer Entwicklungstheorien von den Anfängen des Christentums bis heute im Verlag Herder vorgelegt. Das Ergebnis: Denker von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, von Augustinus bis zu Karl Rahner, Joseph Ratzinger und Walter Kasper haben die Wandelbarkeit von Dogmen untersucht, begründet und für legitim erklärt. „Die Kirche könnte aus dieser reichen Tradition heraus weit reformfreudiger sein. Der Schatz theologischer Entwicklungstheorien schlummert unbeachtet vor sich hin.“

Dogmatische Aussagen lassen sich in der heutigen Zeit nach Seewalds Einschätzung nicht mehr autoritativ verordnen: „Wenn die Aufklärung eine Veränderung gebracht hat, dann doch diese: Der Mensch reagiert auf Autorität, die sich nicht durch Argumente ausweist, heute nicht mit Glauben, sondern mit Skepsis.“ Die Kirche brauche angesichts vieler Reformverlangen Diskurse ohne „Angst, Denkverbote und Scheuklappen“.

„Tradition ist nichts objektiv Gegebenes“

Der Theologe führt aus, jede Religion gebe sich verbindliche Glaubensaussagen. Solche Wahrheitsansprüche seien nötig, damit Menschen sie diskutieren, zurückweisen oder annehmen könnten. „Eine Kirche ohne Dogma wäre intellektuell unterbelichtet und könnte sich und anderen nicht sagen, was sie glaubt.“ Allerdings lehrten die Entwicklungstheorien, „dass sich das Dogma wandeln kann und man in der Vergangenheit oft weniger Probleme hatte, diesen Wandel zuzugeben als heute. Das ist kein Relativismus, sondern geschichtlicher Realismus.“ Die Kirche sei von Anfang an eine „hoch dynamische Gemeinschaft“ gewesen, die versucht habe, das Evangelium für die je eigene Zeit als „Frohe Botschaft“ zu verkünden. „Tradition ist nichts objektiv Gegebenes, das man einfach auffinden könnte. Tradition ist das, was eine Gegenwart an der Vergangenheit als bleibend gültig erachtet. Und das war zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches“, so der Theologe.

Niemand kann laut Seewald daran vorbeisehen, dass die Kirche das, was sie heute verbindlich lehrt, nicht zu allen Zeiten gelehrt habe – die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes etwa sei verbindlich erst 1870 festgeschrieben worden. Michael Seewald: „Selbst die heutige lehramtliche Vorstellung davon, was ein Dogma überhaupt ist, verdankt sich einer Dynamik, die auf das 19. Jahrhundert zurückgeht und im Katechismus von 1992 ihren vorerst letzten Schliff erhalten hat.“ Manche dogmatischen Vorstellungen, die irgendwann nicht mehr haltbar erschienen, habe die Kirche in ihrer Geschichte „schlicht nicht weiterverfolgt und auslaufen lassen“. Papst Pius XII. habe noch 1950 gelehrt, die Evolutionstheorie gelte nur, wenn die Lehre der biologischen Abstammung aller Menschen von Adam und Eva davon unberührt bleibe. „Davon spricht heute in der Kirche niemand mehr – ein Beispiel für die häufigste Form der Lehrentwicklung: nicht Selbstkorrektur, sondern gewolltes Vergessen.“

„Kirche heute darf sich nicht in eine Nische verziehen“

Dogmenwandel bedeutet nach Seewald nicht, „alles Unbequeme aus der Lehre zu entfernen“ oder jedes Dogma unter ein Verfallsdatum zu stellen. Er habe auch keine persönliche Wunschliste für dogmatische Veränderungen. „Das kann nur in moraltheologischen, dogmatischen und pastoralen Einzeldiskursen debattiert werden.“ Die Kirche dürfe sich dabei nicht in Diskursnischen verziehen, die für viele Menschen keine Relevanz und Strahlkraft mehr hätten. „Wir haben es ohnehin mit getrennten Wirklichkeitswahrnehmungen zu tun: einer hoch dogmatisierten Welt des Lehramtes und einer Welt von Menschen, die ihren Glauben im Heute leben wollen und für viele Streitereien in der Kirche kein Verständnis mehr haben.“

Gegenwärtig besteht dem Wissenschaftler zufolge eine „paradoxe Situation“: Selten habe das Christentum in seiner Geschichte so heftig über Veränderungen gestritten wie heute. Zugleich sei aber auch selten zuvor so wenig darüber nachgedacht worden, wie Entwicklung theologisch zu deuten sei. „Umso dringender sollten wir uns anhand der dogmatischen Entwicklungstheorien die historische Dynamik der Glaubenslehre bewusst machen. Sie schwankt zwischen dem Anspruch auf Kontinuität, um den Ursprüngen treu zu bleiben, und faktischen Diskontinuitäten, die nötig sind, um das Evangelium zeitgemäß zu verkünden.“ (sca/vvm)

Das Buch „Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln“

Buchcover
© Verlag Herder

Michael Seewalds Studie über dogmatische Entwicklungstheorien beginnt mit einer Geschichte der Begriffe „Dogma“ und „Entwicklung“, die selbst immer wieder dem Wandel ausgesetzt waren. Sprach noch das Mittelalter kaum vom „Dogma“, so stieg der Begriff im 19. Jahrhundert unter Pius IX. zu einer Leitidee des kirchlichen Lehramtes auf.

Im Mittelteil untersucht der Autor die unterschiedlichen dogmatischen Entwicklungstheorien, beginnend mit der Bibel und der Alten Kirche. Für das Mittelalter, das häufig als allem theologisch Neuen abgeneigt dargestellt wird, sieht Seewald hoch innovative Ansätze. Die Entstehung systematischer Entwicklungstheorien verortet er zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor allem in den Schriften der Tübinger Schule um Johann Sebastian von Drey (1777-1853) und Johann Adam Möhler (1796-1838) sowie bei dem Engländer John Henry Newman (1801-1890). Die Theologie sah sich durch die aufklärerische Geschichtsschreibung herausgefordert, mit Brüchen in der Entwicklung der Glaubenslehre umzugehen. Für die Hochphase der Entwicklungstheorien zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils erörtert Seewald Ansätze von Karl Rahner und Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI.

Im Schlussteil arbeitet der Autor elf Typen theologischer Entwicklungstheorien heraus. In einem Ausblick fordert Seewald eine offene Diskussion darüber, wie die katholische Lehre heute so gefasst werden kann, dass sie das Evangelium zeitgemäß verständlich mache.

Der Autor nennt verschiedene Beispiele für den Wandel von Dogmen, etwa die Frage, wer Jesus Christus sei. Das Konzil von Nicäa im Jahr 325 nennt Jesus „wesensgleich“ mit dem Vater, ein der Bibel fremder Begriff. Für Augustinus (354-430) war dieser sprachliche Bruch nötig, um das Evangelium zeitgenössisch verständlich zu machen. Michael Seewald: „Wenn sich Glaubenslehren entwickeln, tritt eine Neuerung auf, die als Bruch erscheint. Sie erhebt aber den Anspruch, Kontinuität in höherem Maße zu garantieren. Ob sie das tatsächlich tut und welcher Preis dafür zu bezahlen ist, ist Gegenstand des Streits.“ (sca/vvm)

Hinweis: Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg im Breisgau: Herder 2018.