Vom Risiko der Sünde in der Rechtsprechung

Islamwissenschaftler Oberauer zur Geschichte des rechtlichen Entscheidens im Islam

Prof. Dr. Norbert Oberauer
Prof. Dr. Norbert Oberauer
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Über rechtliche Entscheidungen und ihre religiösen Voraussetzungen in vormodernen islamischen Gesellschaften hat der Islamwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Oberauer vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in der Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ des Exzellenzclusters und des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Kulturen des Entscheidens“ der WWU gesprochen. „Die zentrale Problematik juristischen Entscheidens im klassischen Islam liegt in seiner Heilsrelevanz“, erläuterte er. „Da Normen als Ausdruck des göttlichen Willens aufgefasst werden, ist ihre Ermittlung eine Form der Gotteserkenntnis.“ Urteilen heiße somit, das Risiko einer Sünde auf sich zu nehmen. Der Vortrag trug den Titel „Wahrheitssuche und der ‚Mut zur Hölle‘. Zum Problem juristischen Entscheidens im klassischen Islam“. Er zeichnete den historischen Weg von der Individualisierung rechtlicher Erkenntnispflicht über die Herausbildung verschiedener Rechtsschulen bis zu einer Zentralisierung und Kodifizierung des Rechts nach.

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Ton-Mitschnitt des Vortrags

„Diese Entwicklung führte am Ende zum Abschied vom Konzept der subjektiven Erkenntnispflicht des Gelehrten“, sagte Prof. Oberauer. „Sie bedeutete aber zugleich die Überführung islamischen Rechts in ein modernes institutionelles Arrangement.“ Erhalten geblieben sei das Verständnis der Normen als religiöses, überpositives Recht. „Das findet heute seinen Ausdruck auch darin, dass in den Verfassungen mancher Staaten explizit auf den Islam als Quelle des nationalen Rechts verwiesen wird.“ Aus dieser Verschränkung von „positivem und überpositivem Recht“ entstehe eine neuartige und einzigartige Konstellation normativer Deutungsansprüche, erläuterte der Wissenschaftler. „Die Rechtsetzungskompetenz des Staates wird durch das konstitutionelle Erfordernis begrenzt, dass Gesetze nicht ‚unislamisch‘ sein dürfen.“ Ob das der Fall sei, entschieden am Ende wieder Gelehrte – „heute allerdings in Gestalt von Verfassungsgerichten und anderen konstitutionellen Gremien.“

Vielfalt von Rechtsauffassungen

Zur historischen Entwicklung führte der Professor für Islamisches Recht aus, dass die Vorstellung von der Heilsrelevanz des juristischen Entscheidens zu einer grundlegenden Prämisse bei der Verhandlung rechtlicher Deutungsmacht wurde. „Sie führte zu einer Entmündigung der Laien, da nur Experten als so trittsicher in ihrer Erkenntnis galten, dass sie das Wagnis des Entscheidens eingehen konnten.“ Gleichzeitig wiesen diese Experten jedoch jede Form der Zentralisierung rechtlicher Deutungshoheit zurück, sei es in Form eines „Papsttums“ oder einer staatlichen Rechtssetzungskompetenz, wie der Islamwissenschaftler ausführte. „Auch dabei spielte der Gedanke der Heilsrelevanz des Entscheidens eine zentrale Rolle: Für den Gelehrten – so die Argumentation – ist Erkenntnis nicht weiter delegierbar. Sie bleibt seine individuelle Pflicht.“

Diese Individualisierung rechtlicher Erkenntnispflicht erwies sich den Ausführungen zufolge zwar zunächst als erfolgreich darin, Zentralisierung zu verhindern, doch untergrub sie die gesellschaftliche Regelungsfunktion des Rechts. „Sie führte zu einer Vielfalt von Rechtsauffassungen, die im Prinzip alle gleich gültig waren – und also zu Rechtsunsicherheit.“ Wohl auch deswegen sei es innerhalb des Gelehrtendiskurses mit der Zeit zu einer Hierarchisierung rechtlichen Wissens gekommen, indem sich Rechtsschulen herausbildeten. „Innerhalb der Schultradition entstand bei aller Meinungsvielfalt eine ‚herrschende Meinung‘“, so Prof. Oberauer.

Zentralisierung unter Osmanischer Herrschaft

Diese Stabilisierung und Verfestigung schuf den Ausführungen zufolge die Voraussetzung dafür, dass am Ende doch Zentralisierungsbestrebungen Fuß fassten. Dies geschah in Form einer Kodifizierung des Rechts: zunächst unter Osmanischer Herrschaft und dann in sehr viel größerem Umfang mit der kolonialen und postkolonialen Staatenbildung. Islamisches Recht wurde, soweit es nicht ganz abgeschafft wurde, in Form staatlicher Gesetzgebung implementiert.

In der Ringvorlesung „Religion und Entscheiden“ spricht am Dienstag, 29. November, der Landeshistoriker Prof. Dr. Werner Freitag über „Entscheiden und Bekenntnis. Überlegungen zur Reformationsgeschichte Westfalens“. Der Vortrag ist um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 zu hören. (ill/vvm)