Das „Ich“ im Buddhismus

Indologe über Aneignungs- und Transferprozesse unter den indischen Religionen

Prof. Dr. Michael Zimmermann
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Über Aneignungs- und Transferprozesse zwischen dem Buddhismus und anderen Religionen im alten Indien hat der Indologe Prof. Dr. Michael Zimmermann von der Universität Hamburg in der Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“ gesprochen. Im Mittelpunkt standen buddhistische Konzeptionen vom Wesen des Menschen in den ersten 1.000 Jahren seiner Geschichte in Südasien. Der Referent legte in der Reihe des Exzellenzclusters und des Centrums für religionsbezogene Studien (CRS) der WWU dar, wie sich die buddhistische Anschauung, dass der Mensch „kein eigentliches wahres ,Ich‘“ habe, in die Vorstellung einer „Buddha-Natur“ wandelte. In seinem Vortrag stellte er charakteristische Merkmale dieser Lehre aus frühen Texten der Jahrhunderte nach Christus vor und verdeutlichte die Nähe zu überlieferten Vorstellungen aus den Upanischaden, einer Sammlung philosophischer Schriften des Brahmanismus beziehungsweise Hinduismus.

Ein zentraler Punkt, um den es in den Gesprächen und Darlegungen geht, die in den Upanischaden beschrieben werden, ist Professor Zimmermann zufolge die wiederkehrende Frage, wie das Wesen des Menschen gestaltet sei. „In den hinduistischen Texten wird die Idee einer Weltseele oder brahman beschrieben, aus der alles hervorgeht und zu der die individualisierten Seelen – ātman – wieder zurückfinden müssen, wenn sie es geschafft haben, sich vom Rad der Wiedergeburten loszureißen und den Weg zurück zur ewigen Seligkeit zu finden.“

In den folgenden Jahrhunderten hätten die meisten Schulen des Buddhismus ein „Ich“ im Sinne des ātman geleugnet, so der Indologe, und ein das Wesen des Menschen konstituierendes zentrales Element gänzlich ausgeschlossen. „Mit ihrer unorthodoxen Lehre haben die buddhistischen Vertreter quasi ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen, das sie für bestimmte weniger religiös-konservative Segmente der Gesellschaft womöglich attraktiv machte und ihnen eine doktrinäre Abgrenzung von anderen religiösen Gemeinschaften ermöglichte.“ Angesichts des religiösen Wettbewerbs in Südasien sei ein solches Merkmal von großer Bedeutung gewesen.

Die Vorstellung von der Buddha-Natur aller Lebewesen, die bis heute die bedeutendste Anschauung des Buddhismus Ost- und Zentralasiens sei, habe sich schließlich im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus entwickelt. Prof. Zimmermann: „Nach dieser Vorstellung tragen alle Lebewesen einen Buddha in sich, erkennen es jedoch nicht, da sie im Normalfall nicht über ein übersinnliches Auge verfügen. Erst dann, wenn die Lebewesen Glaube und Vertrauen in ihn und seine Lehre gefunden haben, beginnen sie, entsprechend seinen Darlegungen zu leben und erlangen schließlich das volle Erwachen.“

Verschiedene Modelle können nach Aussage des Indologen für die Entstehung der Lehre von der Buddha-Natur in Betracht gezogen werden. „Die Modelle reichen von einer bewussten und modifizierten Übernahme eines hinduistischen Konzepts in das buddhistische Lehrgebäude bis hin zu dem Ansatz, der die Entstehung der Lehre von der Buddha-Natur als eine organisch aus dem Buddhismus des ,Großen Fahrzeugs‘ – Mahāyāna – hervorgegangene Idee sieht.“

Bei der Analyse und Bewertung des Prozesses müssten spezielle Rahmenbedingungen wie das hochgradig multireligiöse Umfeld im klassischen Indien berücksichtigt werden, führte Prof. Zimmermann aus. „Das Konzept von brahman-ātman könnte deshalb angeeignet und ,buddhisiert‘ worden sein, weil es auf diese Weise möglich wurde, eine religiös überlegene Klassifikation zu entwickeln und dadurch einen eigenen, umfassenderen ātman-Begriff über den der nicht-buddhistischen Schulen zu setzen.“ Andere Lehren hätten untergeordnet und in das  eigene Lehrgebäude integriert werden können.

Plakat der Ringvorlesung

Plakat

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Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“

Der Vortrag trug den Titel „Vom Nicht-Selbst zur Buddha-Natur? Buddhistische Vorstellungen vom Wesen des Menschen in Wechselwirkung mit anderen indischen Religionen“. Michael Zimmermann hat die Professur für indischen Buddhismus am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg inne. Zu seinen Forschungsinteressen gehören der indische Mahāyāna-Buddhismus und Fragen buddhistischer Ethik, etwa das Verhältnis des Buddhismus zu Staatsführung und Gewalt.

Am Dienstag, 16. Juni, spricht der evangelische Theologe Dr. Görge Hasselhoff aus Dortmund über „Ein neues Bild vom Judentum? Maimonides im Paris des 13. Jahrhunderts“. Der Vortrag beginnt um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22. Die Vortragsreihe „Transfer zwischen Religionen. Wenn religiöse Traditionen einander beeinflussen“ untersucht, wie es zwischen Religionen in verschiedenen Kulturräumen und Epochen zu vielfältigen Formen des Austauschs religiöser und kultureller Traditionen kam. Am Exzellenzcluster werden Transfer-Phänomene seit 2012 im Forschungsfeld „Integration“ untersucht. (ska/vvm)