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Der Vertrag und das Selbstverständnis des modernen Menschen

Literaturwissenschaftlerin untersucht Umgang mit dem Recht
Koehler
Dr. Sigrid G. Köhler

"Knebelvertrag" - das Wort legt schon nahe, dass Verträge häufig als unangenehmes Zwangsinstrument empfunden werden. Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Sigrid G. Köhler von der Universität Münster aber meint mit Verweis auf das Bürgerliche Gesetzbuch: "Ohne Vertrag wäre die Privatautonomie des Bürgers nicht zu denken." Fünf Jahre kann sie sich mit Unterstützung der VW- und der Fritz-Thyssen-Stiftung im Rahmen eines "Dilthey Fellowships" ganz auf die Frage konzentrieren, was einen Vertrag ausmacht und welche gesellschaftlichen Konsequenzen er haben kann.

Warum aber beschäftigt sich eine Literaturwissenschaftlerin mit Verträgen? Sind die nicht eher Gegenstand der Untersuchungen von Juristen und Ökonomen? "Es handelt sich dabei auch um explizit kultur- und literaturwissenschaftliche Fragen. Es geht um die Bedeutung des Vertrags für die Selbstbeschreibung des modernen Menschen. Verträge tauchen in der Moderne überall auf, auch in der Literatur. Umgekehrt ist es auch spannend zu sehen, welche Semantiken in dieser Zeit in rechtsphilosophischen Texten zum Tragen kommen", erklärt die Germanistin.

Eine moderne Sicht auf Verträge entwickelte sich im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts, einer Zeit der Umbrüche, in der vor allem das Bürgertum neues Selbstvertrauen entwickelte. Exemplarisch steht dafür die Kleist-Novelle "Michael Kohlhaas". Am Beginn des Konflikts steht ein Pfandvertrag, so zumindest die Perspektive von Kohlhaas. Sein Verständnis des Staates ist das eines Rechtsstaats, in dem jeder Rechte durch einen Vertrag übertragen und zugleich auf die Einhaltung dieser Verträge pochen kann. "Der moderne Vertrag geht immer von Rechtsgleichheit aus. Das heißt, man muss von allem abstrahieren, was uns unterschiedlich macht", sagt Sigrid Köhler.

Schillers "Wilhelm Tell" ist ein Beispiel dafür. Bevor der Bund, also ein Vertrag geschlossen wird, werden zuerst die Standesgrenzen der künftigen Eidgenossen verhandelt. "Freiheit" und "Gleichheit", die Schlagworte der Französischen Revolution werden so nicht durch Gewalt, sondern durch eine Rechtsform, den Vertrag, verwirklicht. "Über den Vertrag wird Einheit hergestellt und die Differenzen ausgehebelt", urteilt die Germanistin. Sie untersucht auch, wie das gelingen kann, und welche Strategien in der Darstellung es gibt, über Differenzen hinweg zu kommen. Raumstrukturen, Zeitstrukturen, Metaphoriken lassen sich dafür identifizieren.

"Erst über den Vertrag kann man als handelndes Wesen in der modernen Gesellschaft aktiv werden", so Sigrid Köhler. "Das ist ein sehr idealisierendes Gesellschaftsprogramm." Und so wird die Frage nach dem Vertrag zu einer Antwort auf die Frage nach dem Verständnis unserer Kultur.