• 1. Grundsätzliches

  • 2. Der höfische Reimpaarvers

  • 3. Strophik
  • 3.1 Die Reimpaarstrophe (Reichston)
  • 3.1.1 Strophe 3, Vers 1
  • 3.1.2 Strophe 3, Vers 2
  • 3.1.3 Strophe 3, Vers 3
  • 3.1.4 Strophe 3, Vers 4
  • 3.1.5 Strophe 3, Vers 5
  • 3.1.6 Strophe 3, Vers 6
  • 3.1.7 Übung: Strophe 3, Vers 7 - 14
  • 3.1.8 Strophe 3, Vers 15
  • 3.1.9 Lyrische Kadenzen I.
  • 3.1.10 Übung: Strophe 3, Vers 16 - 20
  • 3.1.11 Strophe 3, Vers 21
  • 3.1.12 Übung: Strophe 3, Vers 22 - 25
  • 3.1.13 Versübergreifende Aspekte
  • 3.1.14 Übung: Strophe 1
  • 3.1.15 Strophe 2, Vers 1
  • 3.1.16 Der übervolle Takt
  • 3.1.17 Übung: Strophe 2, Vers 2 - 25
  • 3.1.18 Die Waisenzeile
  • 3.1.19 Die Strophenformel
  • 3.1.20 Lyrische Kadenzen II.
  • 3.2 Exkurs: Metrik und Zahlen
  • 3.3 Die Reienstrophe (Neidhart SL 3)
  • 3.4 Die Kanzone (Neidhart WL 1)
  • 3.5 Reimformen
  • 3.6 Daktylische Strophen (Morungen L1)
  • 3.7 Die Kürenbergerstrophe
  • 3.8 Epische Strophen
  • 3.9 Weitere Übungen

  • 4. Der Leich
  • 3.1.8 Reichston - Strophe 3, Vers 15

    Anhand des 15. Verses der dritten Strophe des ›Reichstons‹ lernen Sie nun zwei neue metrische Phänomene, die beschwerte Hebung und die männlich zweisilbige Kadenz, kennen.

    Lesen Sie sich den Vers zunächst unbefangen laut vor:

         15     diu swert legten si dâ nider,

    Vergleichen Sie ihre Lesung mit der einer geschulten Sprecherin:

    Falls Sie abweichend von der Lesung der Sprecherin die erste Hebung dieses Verses auf dem Artikel 'díu' platziert haben sollten, so waren Sie sicher von dem Bestreben geleitet, im vorliegenden Vers einen alternierenden Rhythmus zu erzeugen. Die Lesung 'díu swert' wirkt, inhaltlich gesehen, aber etwas sinnwidrig, so dass nach den Maßstäben der klassichen Dichtung um 1200 die Lesung 'diu swért' mit einem Auftakt vorzuziehen ist:

                            o     o        o       o
         15     diu swert legten si dâ nider,

    So kommt es beim Übergang vom ersten zum zweiten Takt zu einem Hebungsprall (d.h. zwischen den betonten Silben des ersten und zweiten Taktes findet sich keine unbetonte Silbe), was allerdings nicht gegen die Regeln der mhd. Metrik verstößt. In metrischer Umschrift stellt sich der Anfang des Verses dann so dar:

                            o     o        o 
         15     diu swert legten si dâ ...
                   r ° i °t  r °t  r° ...

    Beschwerte Hebung

    Diese metrische Konstruktion im ersten Takt nennt man eine „beschwerte Hebung"; damit ist gemeint, dass ein Takt mit nur einem Element gefüllt ist, das dann notwendig doppelt so lang gesprochen wird wie das reguläre Element r. Man stellt eine beschwerte Hebung nach Heussler so dar: °i°. Da dieses Zeichen einen ganzen Takt füllt, trägt es selbstverständlich immer eine Betonung.

    Wie der Name „beschwerte Hebung" nahelegt, wird durch diese metrische Erscheinung das Wort, in dem sie vorkommt, mit einem besonders starken Nachdruck versehen. Daher wird die beschwerte Hebung bei „sinnschweren Wörtern“ verwendet, nicht also bei Artikeln, Präpositionen oder Hilfsverben. Darüber hinaus muss eine Silbe mit beschwerter Hebung aber noch eine weitere Bedingung erfüllen: Sie muss phonetisch schwer sein. Was heißt das?

    Phonetisch schwer ist eine Silbe, wenn sie eine der folgenden Bedingungen erfüllt.
    (1) Die den Ton tragende Silbe enthält einen langen Vokal (lang sind alle Vokale, die in den modernen Textausgaben mit dem Accent circonflexe bezeichnet sind: â, ê, î, ô, û sowie alle Diphthonge ei, ou, öu, uo, üe und die langen Umlaute æ, œ, iu ).
    (2) Der silbenbildende Vokal ist kurz, ihm folgen aber zwei Konsonanten (z.B. 'lf' wie bei 'helf-en', aus sprachhistorischen Gründen aber auch 'ch' wie bei 'sac-hen'!). Auch dies bedeutet, dass eine phonetisch schwere Silbe vorliegt, da die Silbe konsonantisch „geschlossen" ist. Das trifft z.B. für das Wort 'swert' zu: Auch hier ist die Silbe ungeachtet des kurzen Vokals wegen der Deckung durch die beiden Konsonanten phonetisch schwer.

    Beschwerte Hebungen °i° können bei Silben mit langem Vokal oder mit kurzem Vokal gefolgt von einer Doppelkonsonanz angenommen werden!

    Männlich zweisilbige Kadenz:

    Wenden wir uns nun der Kadenz des Verses zu und lesen ihn dafür noch einmal laut vor:

                            o     o        o       o
         15     diu swert legten si dâ nider,
                   r ° i °t  r °t  r°t r °

    Der Strophenformel folgend, sollte in den vierhebigen Versen des ›Reichstons‹ eine männlich einsilbige Kadenz vorliegen und nicht eine weibliche. Hat Walther seine Strophenformel also doch nicht konsequent durchgehalten? Um diese Frage mit „nein“ beantworten zu können, lernen Sie nun eine weitere Kadenz kennen, nämlich die männlich zweisilbige.

    Ist in einem Vers die vorletzte Silbe betont, muss daraus nicht zwangsläufig eine weibliche Kadenz folgen. Wenn die betonte Silbe nämlich kurz und offen ist, wie in diesem Beispiel, ist eine männlich zweisilbige Kadenz (Notation: °wq ^°) anzunehmen. Mit männlich zweisilbiger Kadenz sieht die metrische Analyse des 15. Verses der dritten Strophe dann endgültig wie folgt aus:

                            o     o        o       o
         15     diu swert legten si dâ nider,
                   r ° i °t  r °t  r°wq ^ °

    Vergleichen Sie die bisher als weiblich identifizierten Kadenzen mit der vorliegenden, um sich den Unterschied klarzumachen:
    'ni-der' mit kurzer, offener Tonsilbe, im Gegensatz zu den langen betonten oder durch Konsonant gedeckten Vokalen der Wörter 'ou-gen' (Str. 3 V. 1), 'tou-gen' (Str. 3 V. 2), 'sê-re' (Str. 3 V. 13), 'zwei-en' (Str. 3 V. 9), 'wol-ten' (Str. 3 V. 17).

    Die weibliche Kadenz enthält an vorletzter Stelle immer eine schwere (lange oder geschlossene), die männlich zweisilbige Kadenz eine leichte (kurze und offene) Tonsilbe.

    Die männlich zweisilbige Kadenz ist, wie die ›Reichston‹-Strophen zeigen, mit der männlich einsilbigen austauschbar, das heißt, beide Varianten der männlichen Kadenz sind zur Einhaltung der Strophenformel zulässig. Deshalb empfiehlt es sich, bei der Erstellung von Strophenformeln nicht zwischen männlich ein- und zweisilbigen Kadenzen zu unterscheiden, sondern nur ein "m" für "männlich" zu notieren.






    Die Reichskrone
    
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