Abgeschlossene Forschungsprojekte

‚Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion in Deutschland im internationalen Vergleich‘

Gefördert vom Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘ (Link zu Projekt C23), 2009-2012.

Projektleitung: Frau Prof. Dr. Astrid Reuter

Die Geschichte der modernen Staatsgewalt ist eng mit dem Aufstieg des Rechts zum gesellschaftlichen ‚Leitsystem’ verknüpft. Das Recht spielte eine Schlüsselrolle beim Aufbau des staatlichen Gewaltmonopols; es ermöglichte den reglementierenden Zugriff auf Lebensbereiche, die der Kontrolle der vormodernen Staatsmacht entzogen waren. Auch die religiösen Lebenswelten wurden von dieser Entwicklung erfasst.
Im skizzierten Projekt werden die Folgen dieses Prozesses anhand ausgewählter jüngerer Rechtskonflikte um Religion und der öffentlichen Kontroversen, die diese begleiten, untersucht. Der Fokus der Untersuchung liegt auf Deutschland, doch werden die deutschen Fälle zur deutlicheren Profilierung in den internationalen Kontext (v.a. Frankreich) eingebettet.
Die Fragestellung ist eine religions-, keine rechtswissenschaftliche. In der Religionswissenschaft wurde das Themenfeld ‚Religion und Recht’ lange weitgehend vernachlässigt, findet jedoch neuerdings vermehrt Aufmerksamkeit. Dieser Interessenwandel hat maßgeblich mit der wachsenden öffentlichen Präsenz des Islam in westeuropäischen Staaten zu tun; durch diesen Wandel im religiösen Feld geraten die bestehenden religionsrechtlichen Konstellationen, die anderen religionskulturellen Konfliktgeschichten entsprungen sind, zunehmend unter Druck.
Ziel des Arbeitsvorhabens ist es jedoch nicht, die Anpassungsleistungen des Rechtssystems an den religionskulturellen Wandel zu untersuchen. Die Studie ist vielmehr (a) von der Annahme getragen, dass die Religionsrechtskonflikte im Kern gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatten sind, in denen um die fundamentalen Leitideen der modernen gesellschaftlichen Ordnung gerungen wird: um Freiheit und Gleichheit. Rechtskonflikte um Religion sind demnach symbolische Konflikte. Weiterhin werden die rechtlichen Auseinandersetzungen um Religion und die diese begleitenden öffentlichen Kontroversen (b) als ‚Grenzarbeiten’ am religiösen Feld verstanden. Es wird untersucht, welche Vorstellungen von Religion, religiöser Lebensführung, Gemeinschaft etc. das Recht als gleichsam hintergründige Selbstverständlichkeiten transportiert und wie diese in den Streitigkeiten verändert werden. Dabei soll (c) herausgearbeitet werden, dass das Recht nicht nur eine regulative Instanz ist, sondern performatives Potential hat. So steckt das Religionsrecht das Spektrum der Möglichkeiten ab, Erfahrungen, Vorstellungen und Praktiken überhaupt als ‚religiöse’ zu deuten und gesellschaftlich zu institutionalisieren. Damit wirkt es auf die Selbstwahrnehmung Glaubender und ihre religiöse Lebensführung zurück. Es arbeitet wie eine Art diskursiver Filter: Denn Glaubende, die für ihr Recht auf Religionsfreiheit streiten, müssen ihre religiöse Überzeugung und Lebensführung in den diskursiven Rahmen des Religionsrechts reformulieren und legitimieren. So muss die muslimische Lehrerin, die für ihre Kopfbedeckung das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, diese Kopfbedeckung, die im islamischen Herkunftsmilieu i.d.R. keiner Begründung bedarf, als religiös motiviertes Zeichen und Ausdruck religiöser Freiheit ausweisen. Dieser diskursive Gestus aber bleibt ihrer religiösen Erfahrungswelt nicht äußerlich. Die zahlreichen jüngeren empirischen Studien über die biographischen Erzählungen junger Musliminnen lassen vielmehr den Schluss zu, dass sich mit diesem Gestus die strittige Praktik des Kopfbedeckens aus ihrem zumeist vorreflexiven vorgängigen Bedeutungskontext herauslöst und als Akt individueller Religionsfreiheit gedeutet wird. In diesem Sinne kann das Religionsrecht des modernen Verfassungsstaates mit seinem zentralen Element der Religionsfreiheit als eine Art ‚gouvernementale Technik’ im Sinne Michel Foucaults begriffen werden: als eine Technik der ‚Führung religiöser Lebensführung’.
Im Forschungsprogramm des Exzellenzclusters Religion und Politik liegt das skizzierte Projekt im Schnittfeld der Forschungsfelder ‚Normativität’ und ‚Integrative Verfahren’, ist jedoch auch anschlussfähig an das Feld ‚Inszenierung’ (Gerichte als ‚Bühnen’ religiöser Mobilisierung).

‚Religion und Politik in Brasilien und Deutschland. Asymmetrische Vergleichsperspektiven‘

Anbahnungsprojekt für deutsch-brasilianische Kooperation (Institut für Religionswissenschaft/WWU; Departamento Ciências da Religião/PUC São Paulo). Workshop in São Paulo, geplant für 9/2020, aufgrund aktueller Pandemielage verschoben auf voraussichtlich 3/2021.

Gefördert vom Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) São Paulo [Link zum DWIH]; in Kooperation mit dem Brasilienzentrum der WWU  [Link zum Brasilienzentrum] und dem Centrum für Religion und Moderne [Link zum Centrum für Religion und Moderne].

Projektleitung: Frau Prof. Dr. Astrid Reuter

Das ‚religiöse Feld‘ hat sich in den letzten Jahrzehnten weltweit erheblich gewandelt: Eine Erosion herkömmlicher christlicher Kirchenstrukturen und eine nachhaltige gesellschaftliche Säkularisierung gehen Hand in Hand mit einer (in Europa v.a. migrationsbedingten) Pluralisierung des religiösen ‚Angebots‘ sowie einer wachsenden Individualisierung im Bereich des Religiösen. Dies gilt für Deutschland ebenso wie für Brasilien – aber auf jeweils sehr verschiedene Weise.
In Brasilien vollzieht sich seit den 1970er Jahren im Kontext sozialer, ökonomischer und politischer, auch rechtlicher Transformationen ein rapider religiöser Wandel: Neben dem weiterhin majoritären (allerdings rasant an Rückhalt verlierenden und zunehmend polymorphen) Katholizismus sind eine Vielzahl protestantischer Denominationen (v.a. pfingstlicher Natur), verschiedene afroamerikanische Religionen, der Spiritismus, Religionen mit indigenem Ursprung, jüdische Gemeinden, außerdem der Islam sowie Buddhismus und Hinduismus präsent; auch die Gruppe der Konfessionslosen wächst zusehends. Der wohl grundlegendste Wandel vollzieht sich durch den Erfolg des pfingstlich bewegten evangelischen Christentums, das der katholischen Kirche nicht nur ihre spirituelle Vorrangstellung, sondern auch ihre herkömmliche politische Macht streitig macht; und auch intern verlieren angesichts einer gleichsam ‚nachholenden‘ ‚Charismatisierung‘ (‚Pentekostalisierung‘) im katholischen Milieu die hergebrachten kirchlichen Autoritätsstrukturen an Plausibilität.
In Deutschland stellt sich die Situation vor dem Hintergrund historisch anderer Konstellationen verschieden dar: Hier ist das religiöse Feld seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert v.a. durch die migrationsbedingte Präsenz des Islams in Bewegung geraten; zu gesellschaftlicher Irritation und wachsender politischer Aufmerksamkeit sowie politischem Steuerungsinteresse führt diese Situation nicht zuletzt deshalb, weil die zunehmende Vitalität des Islams zeitgleich zur wachsenden Säkularisierung der Mehrheitsgesellschaft verlief und verläuft.
Sowohl in Brasilien als auch in Deutschland sind die jüngeren gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozesse eng mit diesem religiösen Wandel verzahnt: Religionen und religiöse Wandlungsprozesse werden politisch und rechtlich reguliert – und umgekehrt nehmen die Religionen teils offensiv Einfluss auf politische Entscheidungen und Strukturbildungen. Man denke für Ersteres etwa an die Deutsche Islam Konferenz. Letzteres wird in Brasilien in der jüngsten Zeit wieder offenkundig, wurde doch Jair Bolsonaro nicht zuletzt von evangelikalen Kräften ins Amt getragen.
Um zu verstehen, welche Rolle Religion in gesellschaftlichen und politischen Umbruchprozessen spielt, sind vergleichende Perspektiven sinnvoll, da sie den Blick auf die jeweiligen Besonderheiten der Vergleichsländer schärfen können. Das anvisierte Projekt soll einen solchen Vergleich zwischen Brasilien und Deutschland initiieren. Der Fokus soll auf der religionspolitischen Dynamik in Brasilien liegen, d.h. der Vergleich ist zunächst asymmetrisch angelegt. Im Zentrum sollen Fallstudien aus Brasilien stehen, die typische Konstellationen im Verhältnis von Religion und Politik in Brasilien herausarbeiten. Diese sollen mit exemplarischen Studien zum Verhältnis von Religion und Politik in Deutschland gleichsam kontrastiert werden. Mögliche Themenfelder sind: das Religionsrecht; allgemeine politische Strukturen und die aktuelle (religions)politische Lage; die Rolle religiöser pressure groups; die empirische Situation der Religionen unter Berücksichtigung interreligiöser Konflikte (etwa zwischen neopentekostalen Kreisen und afrobrasilianischen Religionen) ebenso wie interreligiöser Dialogkonstellationen (etwa für Deutschland: christlich-jüdisch-muslimisch); besondere Konfliktfelder wie z.B. Religion und Flucht (v.a. in Deutschland), Religion und Umwelt, Religion und Sexualität.