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Interview

„Vereinheitlichung war nie ein Ziel des liberalen peruanischen Gesetzgebers"

Interview mit Armando Guevara Gil über die Rechtsgeschichte Perus und das Potenzial mikrohistorischer Analysen

Dr. Armando Guevara Gil
© khk

1821 erlangte Peru die Unabhängigkeit vom spanischen Kolonialreich. Trotz der neuen Gesetzbücher, die die junge Republik erließ, war das Land weiterhin von einer historisch gewachsenen Rechtsvielfalt geprägt. Der Rechtsanthropologe und Historiker Armando Guevara Gil nähert sich der modernen peruanischen Rechtsgeschichte über einen mikrohistorischen Zugriff. Er untersucht das Phänomen entlaufener Nonnen im frühen 19. Jahrhundert – Fälle in der Schwebe zwischen weltlichem und geistlichem Recht. Im Interview äußert er sich zum Stand der peruanischen Rechtsgeschichtsforschung und plädiert dafür, den Mikrokosmos individueller Wahrnehmungen und Handlungsmöglichkeiten nicht außer Acht zu lassen.

Herr Dr. Guevara Gil, Sie untersuchen das Peru des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf Rechtspluralismus – warum erschien es Ihnen lohnend, Ihre Forschungen am Käte Hamburger Kolleg in Münster durchzuführen?

Ich denke, es hat sich sehr gelohnt, denn das Kolleg bietet ein reichhaltiges intellektuelles Umfeld für die diachrone Erforschung des Rechtspluralismus. Die Direktorin und der Direktor sowie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind allesamt in Forschungsprojekte involviert, die das Spannungsverhältnis zwischen rechtlicher Zentralisierung und Standardisierung einerseits und der kontinuierlichen Tendenz zu Pluralität und Fragmentierung andererseits untersuchen. Natürlich laufen diese Prozesse nicht mechanisch oder automatisch ab, da die historischen Ergebnisse immer kontingent sind. Die Herausforderung und das Interesse bestehen also darin, sie jenseits ihrer zeitlichen und räumlichen Spezifik zu vergleichen. Am Kolleg ist dies gerade deshalb möglich, weil jede einzelne Person von uns ein anderes Thema aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven betrachtet, sei es Rechtsgeschichte, Geschichte oder Anthropologie. Infolgedessen ist der interdisziplinäre Dialog anspruchsvoll, lohnend und ergiebig.

Was meinen eigenen Blick auf Rechtspluralismus betrifft, so hat diese Lernerfahrung mein Bewusstsein für die Dialektik zwischen rechtlicher Standardisierung und Pluralismus als einem sich entfaltenden historischen Prozess deutlich geschärft. Die größte Erkenntnis ist für mich daher, dass man zwar die Untersuchung des einen Aspekts dieser Entwicklung betonen kann, aber den anderen nicht ignorieren sollte. Nur so können wir ein besseres Verständnis unserer Forschungsthemen erreichen. Abschließend möchte ich betonen, dass es sich gelohnt hat, an das Kolleg zu kommen, weil ich die freundlichste, menschlichste und erstaunlichste Gruppe von Forschenden vorgefunden habe, die man sich vorstellen kann. Sie sind nicht nur Weltklasse-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler. Sie sind wunderbare Menschen, und ich danke ihnen, dass sie ihre Ideen, Ideale und Freundschaft mit mir geteilt haben.

Welchen methodischen oder praktischen Herausforderungen steht man gegenüber, wenn man sich mit peruanischer Rechtsgeschichte beschäftigt?

In der Praxis sind die größten Herausforderungen der Zustand der Archive und der Mangel an finanzieller Förderung für rechtsgeschichtliche Forschung. Es ist bedauerlich, dass ein Land mit einem so umfangreichen dokumentarischen Erbe nicht in der Lage ist, dieses zu bewahren. Der Aufbau eines nationalen Netzwerks von Archiven zur Bewahrung dieses Erbes wäre auch eine Möglichkeit, Forschende aus dem In- und Ausland anzuziehen. Vielleicht wird die peruanische Rechtsgeschichte auf diese Weise allmählich in die vergleichenden Studien dieser Disziplin aufgenommen. Derzeit ist der Kontrast zur Entwicklung der Rechtsgeschichte in Europa oder den USA sehr groß. Und im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko, Kolumbien, Chile, Argentinien oder Brasilien hinkt die peruanische Rechtshistoriografie weit hinterher.

Auch an den peruanischen Hochschulen sind die Herausforderungen enorm. Nach der brillanten Forschung von Jorge Basadre, Fernando de Trazegnies, Luis Pásara und Carlos Ramos in den letzten achtzig Jahren sind keine Nachfolgerinnen oder Nachfolger auf den Plan getreten. Ein Teil des Problems besteht darin, dass Rechtsgeschichte aufgrund der sogenannten Modernisierung der juristischen Ausbildung kein Pflichtfach an den Rechtsfakultäten ist. Dieser konzeptionelle Fehler kommt uns teuer zu stehen. Es besteht keine Nachfrage nach Spezialisten auf diesem Gebiet, und nur sehr wenige Studierende belegen diesen Kurs oder interessieren sich dafür. Die Folge ist, dass die Forschung von Professorinnen und Professoren oder Studierenden von vorherein zu einem aussichtslosen Unterfangen wird. Wie man sich vorstellen kann, ist ohne eine lebendige epistemische Gemeinschaft kein nennenswerter theoretischer und methodischer Fortschritt möglich. Darüber hinaus schenken peruanische und peruanistische Historikerinnen und Historiker der rechtlichen Dimension des gesellschaftlichen Lebens wenig Aufmerksamkeit. Das Fehlen innovativer theoretischer und methodischer Ansätze zum peruanischen Recht des 19. Jahrhunderts ist ein blinder Fleck in der aktuellen peruanischen Geschichtsschreibung.

„Jedes Gericht wandte ein anderes Gesetzbuch an“

Nach der Unabhängigkeitserklärung Perus entstanden in der jungen Nation verschiedene Rechtskodizes, die in der Forschung bisher vor allem als Ausdruck einer Zentralisierung und Vereinheitlichung des Rechts beschrieben wurden. Was halten Sie von dieser Interpretation?

Meiner Meinung nach ist dies eine oberflächliche Einschätzung der Entwicklung des peruanischen Rechts im 19. Jahrhundert. Die um die Jahrhundertmitte erlassenen Zivil-, Handels- und Strafgesetzbücher sind Beispiele dafür, dass alter Wein in neue Schläuche gegossen wurde. Das Zivilgesetzbuch von 1852 folgt beispielsweise angeblich den liberalen Idealen des napoleonischen Gesetzbuchs von 1804 und stellt einen radikalen Bruch mit dem spanischen Kolonialrecht dar. Tatsächlich aber hielt es sich an Las Siete Partidas von Alfons X. von Kastilien (1256-1265) und die Novísima Recopilación des spanischen Zivilrechts von 1805. Außerdem wurde es als eine Zusammenfassung des Ius Commune bezeichnet. Das Buch über den Personenstand nimmt beispielsweise eine statusbasierte Klassifizierung vor, die sich auf römisches, kanonisches und kastilisches Recht stützt. So genossen Kleriker einen besonderen Status und eine besondere Rechtsprechung mit unterschiedlichen zeitlichen, räumlichen und Verhaltensregeln, darunter eine, die sie an den zivilen Tod ohne Eigentums- oder Vertragsrechte band, während sie heilige Personen blieben.

In ganz anderer Weise wurden auch Sklavinnen und Sklaven in die rechtliche Einordnung von Personen einbezogen. Obwohl die Sklaverei zwei Jahre später abgeschafft wurde, zeigt die Einbeziehung dieser Kategorie, dass die alten Gesetze und Bräuche, in denen ein normativer Pluralismus vorherrschte, angesichts der den „Herren“ übertragenen Macht, das Leben ihrer Sklavinnen und Sklaven zu organisieren und zu regeln, weiter Bestand hatten.

Auch die Ehe war ein deutliches Beispiel für die Einbeziehung des traditionellen normativen Rahmens, der die kurze Lebensdauer der neuen liberalen Vertragsordnung weit überstieg: „Die Ehe wird in der Republik nach den von der Kirche auf dem Konzil von Trient festgelegten Formalitäten geschlossen“, heißt es im Zivilgesetzbuch von 1852. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass Zentralisierung und Vereinheitlichung nie ein Ziel des liberalen peruanischen Gesetzgebers waren. Ganz im Gegenteil, Gerichtsvielfalt und Rechtspluralismus waren die Regel. Während die Kirchengerichte über Fälle von Ungültigkeitserklärungen und kanonischen Ehescheidungen entschieden, befassten sich die Zivilgerichte mit Streitigkeiten über Verlobung, Unterhalt, Kinderbetreuung, Gerichtskosten und Rückgabe von Eigentum, und die Strafgerichte klärten Fälle von Ehebruch, Körperverletzung und Straftaten. Es versteht sich von selbst, dass jedes Gericht ein anderes Gesetzbuch anwandte.

Schließlich sind die Eigentumsverhältnisse ein weiterer Bereich, in dem das Zivilgesetzbuch Beispiele für verschiedene Regelungssysteme bietet, die gleichzeitig und im Widerspruch zu den liberalen Grundsätzen des napoleonischen Gesetzbuchs wirkten, das die Eigentumsrechte zu konsolidieren und zu vereinheitlichen suchte. Neben der typischen Form des konsolidierten liberalen Eigentums regelte das Gesetzbuch drei Formen von geteiltem Eigentum, die auf der Unterscheidung zwischen dominium directum (Eigentum) und dominium utile (Besitz, Nutzung und Nießbrauch) beruhten. Kurzum, die Vorstellung, dass die liberalen Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts die Flaggschiffe der normativen Monopolisierung und Standardisierung waren, ist unhaltbar. Der neue liberale Nomos konnte in der damaligen sozio-rechtlichen Menschenwelt eine dauerhafte und tief verwurzelte Rechtskultur, die sich durch Komplexität und Vielfalt auszeichnete, unmöglich per Dekret auslöschen.

Das Kloster in Arequipa, aus dem Dominga Gutierrez de Cossio in spektakulärer Weise entfloh.
© Diegolazoh (Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0

In Ihrem Projekt erforschen Sie das faszinierende Schicksal einer Nonne, die ihr Kloster verlassen will. Könnten Sie den Fall von Schwester Dominga in ein paar Sätzen zusammenfassen?

Ich untersuche das Leben und die Taten von monjas cimarronas (entlaufenen Nonnen) im Peru des frühen 19. Jahrhunderts. Mein Ziel ist es, die Auswirkungen des liberalen Rechts auf ihre Bemühungen zu bewerten, das Kirchenrecht anzufechten, sich von ihren ewigen Gelübden zu befreien und ein weltliches Leben zu beginnen. Von all diesen Fällen ist der von Dominga Gutierrez de Cossio in der Tat der dramatischste. Sie trat 1821 im Alter von 16 Jahren in ein Kloster im peruanischen Arequipa ein. Nachdem ihr die Aufhebung der ewigen Gelübde verweigert worden war, gelang ihr 1831 auf spektakuläre Weise die Flucht. Mit Hilfe ihrer Dienerinnen schmuggelte sie einen weiblichen Leichnam in ihre Zelle, legte ein Feuer, das das Gesicht entstellte, und suchte Zuflucht auf dem Anwesen ihres Onkels. Als ihre Mitschwestern die verbrannte Leiche fanden, trauerten sie um Dominga und begruben sie. Doch die Wahrheit kam bald ans Licht: Dominga war nicht tot, sondern gesund und munter, wenngleich sie für den Rest ihres Lebens tödlich stigmatisiert sein würde.

Ihre Taten waren der Auslöser für mehrere Rechtsstreitigkeiten zwischen den weltlichen und kirchlichen Behörden, die so weit gingen, dass sowohl der Oberste Gerichtshof der jungen Republik als auch der Papst in Rom über ihren Fall urteilten. Vor dem weltlichen Gericht focht die Stadtverwaltung von Arequipa die Autorität des Bischofs an und forderte den zivilrechtlichen Schutz ihrer Freiheit. Während das Regionalgericht zugunsten der Gemeinde urteilte, entschied der Oberste Gerichtshof Perus schließlich, dass der Bischof die volle Autorität über Dominga hatte. Wie die Überlieferung zeigt, war dies eine politische Entscheidung, um eine Konfrontation mit der katholischen Kirche zu vermeiden. Auch wenn sie durch die liberalen Reformen geschwächt wurde, war die Kirche immer noch eine wichtige politische und ideologische Akteurin. Vor dem kirchlichen Gericht klagte der Bischof Dominga der Apostasie an, begnadigte sie aber nahezu umgehend und gewährte ihr den Austritt aus dem Kloster. Der letzte Schritt, die Aufhebung von Domingas ewigen Gelübden, wurde 1839 von Rom genehmigt. Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch bereits nach Lima umgezogen, um dem sozialen Stigma in Arequipa zu entgehen, war mit einem Arzt verlobt und hatte weder den Willen noch die Mittel, diesen letzten Schritt zu tun. So verblieb sie für den Rest ihres Lebens in einem Schwebezustand. Faszinierend an diesem Fall ist die Art und Weise, wie Dominga und ihre rechtlichen und politischen Fürsprecher in der normativen Pluralität und juristischen Komplexität des Peru des frühen 19. Jahrhunderts manövrierten, einem sozio-rechtlichen Kontext, der gerade erst begann, den alten kolonialen Nomos aufzugeben.

Bericht über den Rechtsstreit des Bischofs von Arequipa mit dem Obersten Gericht von Arequipa in Sachen der Dominga Gutierrez.
© archive.org

Inwieweit liefern mikrohistorische Analysen solcher Einzelfälle neue Erkenntnisse für die Rechtsgeschichte?

Meiner Meinung nach sind mikrohistorische Analysen eine hervorragende Möglichkeit, um unser Verständnis der Rechtsgeschichte zu erweitern. Sie geben einen Einblick in die Erfahrungen der Menschen mit dem Recht, den Gerichten und den Institutionen im weitesten Sinne. Wenn man sich auf ein einzelnes Ereignis, eine Praxis oder eine Leistung konzentriert, um eine intensive Untersuchung durchzuführen, wird vieles sichtbar: das soziale Leben des Rechts, die Wahrnehmung eines bestimmten Nomos durch die Menschen, die menschlichen Dramen, die durch das Recht verarbeitet werden, und die Handlungsmöglichkeiten der Akteure, mit denen sie sich in ihrer Rechtswelt zurechtzufinden.

Wichtig ist, dass sich diejenigen, die sich mit Mikrohistorie befassen und über die Aufzeichnung charmanter Anekdoten oder das Verfassen reiner dichter Beschreibungen hinausgehen wollen, auch mit den allgemeineren Fragen ihrer Disziplin, in diesem Fall der Rechtsgeschichte, auseinandersetzen sollten. Im Idealfall ist die Darstellung eines kleinen Themas repräsentativ für die Gesamtheit, die wir verstehen wollen. In jedem Fall gibt sie zumindest einen Hinweis auf die vielfältigen Dimensionen der von uns erforschten Rechtswelt. Letztlich ist der Mikrokosmos ebenso komplex wie der Makrokosmos, und wir verstehen beide noch nicht vollständig. Deshalb ist das Spannungsverhältnis zwischen Mikrogeschichte und großen Erzählungen sehr ergiebig für die Weiterentwicklung der Rechtsgeschichte.

Die Fragen stellte Emily Todt.

Über den Autor

Dr. Armando Guevara Gil ist Rektor der Universidad para el Desarrollo Andino in Lircay/Peru und war 2023 Fellow am Käte Hamburger Kolleg. In seiner Forschung beschäftigt sich der Anthropologe vor allem mit Rechtspluralismus, kolonialem und republikanischem Recht im Andenraum.