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Rechtsvorstellungen in "Die Judenbuche". Annette von Droste-Hülshoff zum 175. Todestag

von Claudia Lieb

Vor 175 Jahren starb Annette von Droste-Hülshoff, eine der großen deutschen Autorinnen des 19. Jahrhunderts. Heute gilt sie als Meisterin einer öko-sensiblen Literatur. Ihr Geburtsort Münster in Westfalen wird national und international mit Drostes Namen in Verbindung gebracht. Nicht weit davon, im Paderborner Land, liegt der Schauplatz ihrer berühmten Novelle Die Judenbuche, die im Untertitel als Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen charakterisiert wird. Der Handlungsort wird im Text mit „B.“ abgekürzt, er befindet sich der Erzählung zufolge irgendwo in einem Fürstentum am Teutoburger Wald. Hinter „B.“ verbirgt sich jedoch ein historischer Fall: Im Gutsbezirk von Drostes Großvater hatte ein Knecht aus Bellersen einen Juden erschlagen, war geflohen, zurückgekehrt und starb schließlich durch Selbstmord. Die Judenbuche spielt darauf an.

Krimis

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)
© Public Domain

Als Droste um 1830 an der Erzählung schrieb, gab sie ihr den Arbeitstitel Friedrich Mergel, eine Criminalgeschichte des 18ten Jahrhunderts. Dadurch fügte sie sie unmissverständlich in die zeitgenössische Welle literarisierter Rechtsfälle und Fallgeschichten ein. Das Genre der Kriminalgeschichte explodierte zu Drostes Lebzeiten, und ihre Erzählung befand sich in bester Gesellschaft: Texte wie die von Friedrich Schiller herausgegebene Sammlung Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit (1792–1795), die Christian Heinrich Spieß zugeschriebenen Criminalgeschichten voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu (1802–1804), Carl Friedrich Müchlers Criminalgeschichten  (1828-1833), Theodor Haupts Bibliothek merkwürdiger Criminal- und Rechtsfälle der älteren und neueren Zeiten und aller civilisirten Völker (1830-31) sowie noch stärker auf Unterhaltung zielende Formate wie der Gemäldesaal menschlicher Ungeheuer und Spitzbuben (1839) von Friedrich Spiess ­– sie alle zeugen von der Beliebtheit des Genres.

Angesichts der Fülle von Titeln dieser Art ist anzunehmen, dass die „Criminalgeschichte“ als spannende Unterhaltung verstanden wurde und sich gut verkaufen ließ. Veröffentlichungen, die das Wörtchen „criminal“ im Titel führen, reißen auch in den 1840er Jahren nicht ab. Als Droste ihre Erzählung 1842 schließlich als Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen veröffentlichte, scherte sie aus dieser gängigen Titelei aus. Trotzdem ist Die Judenbuche Teil des kriminalliterarischen Diskurses und bezieht sich von der ersten Seite an auf das damalige Rechtssystem. Zwar hat Droste die Handlung auf die Zeit vor ihrer Geburt datiert und sie in die Mitte des 18. Jahrhunderts verlegt. Das hat die Autorin aber nicht davon abgehalten, drängende zeitgenössische Rechtsprobleme anzusprechen.

Verbrechen und Strafe?

Der eigentlichen Erzählung ist ein Gedicht vorangestellt, das sich gegen die rechtliche Strafverfolgung von Verbrechen zu wenden scheint. Die Waagschale (der Justitia) solle niedergelegt werden, der Stein möge die Täterin oder den Täter nicht treffen – ganz so, wie es im Jesuswort des Johannesevangeliums heißt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ (Joh 8, 7). Droste formuliert: „Leg hin die Waagschalʼ, nimmer dir erlaubt!/ Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt!“[1].

Noch bevor die Handlung beginnt, wird der Anspruch, dass Verbrechen rechtmäßig bestraft werden müssen oder können, radikal in Frage gestellt. So verwundert es nicht, dass Die Judenbuche von Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag erzählt, die weder aufgeklärt noch amtlich bestraft werden. Sie gehen Hand in Hand mit einer mörderischen Umweltzerstörung, der niemand etwas entgegenzusetzen weiß: Die gerodete, geplünderte und zugrunde gerichtete Waldlandschaft des Textes entspricht der verarmten, verwahrlosten und verrohten Dorfbevölkerung. Diese lebt in einer zerstörten Gemeinschaft, wo Lügen, Alkoholexzesse und Gewaltverbrechen auf der Tagesordnung stehen.

Wie eng die Verbrechen an Mensch und Natur verknüpft sind, zeigt sich an räumlichen und motivischen Parallelisierungen: Zuerst wird der Vater der Hauptfigur Friedrich Mergel aus ungeklärtem Grund tot im Wald entdeckt, wenig später liegt auf derselben Waldlichtung eine gefällte Buche wie tot da. Später wird es die titelgebende Judenbuche sein, in deren Umkreis der Förster Brandis gewaltsam getötet, der Jude Aaron ermordet und dessen mutmaßlicher Mörder Friedrich Mergel wiederum mutmaßlich erhängt aufgefunden wird.

Nicht minder gewaltsam als Mord und Totschlag muten die Taten einer Bande von Holzdieben an, die dem Ökosystem des Waldes schweren Schaden zufügen. In einer schauerlichen nächtlichen Szene wird das Ausmaß der Umweltzerstörung deutlich, als Friedrich mit seinem Onkel die Waldlichtung betritt: „Der Mond schien klar […] und zeigte, daß hier noch vor Kurzem die Axt unbarmherzig gewüthet hatte. Ueberall ragten Baumstümpfe hervor, manche mehrere Fuß über der Erde, […] die verpönte Arbeit mußte unversehens unterbrochen worden seyn, denn eine Buche lag quer über dem Pfad, in vollem Laube, ihre Zweige hoch über sich streckend und im Nachtwinde mit den noch frischen Blättern zitternd.“[2] Die Buche erscheint ebenso brutal aus dem Leben gerissen wie die menschlichen Figuren. Indessen wird betont, dass die Naturzerstörung „auf gesetzlichem Wege“ nicht gestoppt werden könne[3]. Da Droste diesen Zusammenhang anprangerte, sprach sie sich indirekt für einen besseren Schutz der Natur aus – auch rechtlich.   

Kritik am Recht

Schon in den einleitenden Sätzen wird ein dysfunktionales Rechtssystem skizziert. „Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung gerathen, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachläßigung entstandenen Verjährung.“[4]

Welche Rechtsvielfalt ist hier gemeint? Die Passage lässt allgemein an den Gegensatz zwischen schriftlich fixiertem Recht und ungeschriebenem Gewohnheitsrecht denken. Möglicherweise verweist das „zweite Recht“ auch auf dörfliche Gepflogenheiten wie solche, dass der älteste Sohn einer Familie der Hoferbe ist. Als Anspielungsfolie für die „unzulänglichen Gesetze“ kommt das heterogene Strafrecht in Frage, das angesichts der erzählten Verbrechen wie Mord und Totschlag eigentlich zu konsultieren wäre. Strafgesetzbücher existierten zu unterschiedlichen Zeiten des Alten Reichs auf territorialer Ebene, doch überregional hatte die Constitutio Criminalis Carolina (dt. Peinliche Gerichts- oder Halsgerichtsordnung) Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1532 noch eine gewisse Bedeutung. Überdies galt in Preußen seit 1794 das Allgemeine Landrecht mit seiner Strafordnung. Die unterschiedlichen Rechtsquellen führten in der historischen Praxis zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit vor Gericht.

Dass in der Judenbuche die „gerichtliche Verhandlung“[5] über den Mord an Aaron ohne Ergebnis bleibt, liegt daran, dass die Aufklärung der Delikte der Patrimonialgerichtsbarkeit überantwortet wird. In Drostes Text heißt es dazu eingangs lapidar: „Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht“[6]. Diese zu Drostes Lebzeiten ausgeübte Rechtspraxis war hochumstritten, da sie besonders für Abhängige wie Leibeigene problematisch war. Dementsprechend zeigt der Gang der Ereignisse in der Judenbuche, dass weder der Gutsherr von S. noch sein Gerichtsschreiber Kapp in der Lage sind, die Verbrechen aufzuklären und zu bestrafen – da können noch so viele Verhöre und Untersuchungen angestellt werden.

Jüdisches Recht

In der Judenbuche wird der Bankrott der Patrimonialgerichtsbarkeit aufgewogen durch die Solvenz eines anderen Rechts, nämlich des jüdischen. Es beruht auf der Tora und anderen Büchern der hebräischen Bibel, so den fünf Büchern Moses. Droste zitiert die Bücher Moses, indem sie die Frau des erschlagenen Juden Aaron sagen lässt: „Aug um Auge, Zahn um Zahn!“[7]. Dieses Bibelwort ist im zweiten und dritten Buch Moses überliefert. Im dritten Buch heißt es: „Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. Wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s ersetzen, Leben um Leben. Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun. […] Es soll ein und dasselbe Recht unter euch sein für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der HERR, euer Gott.“ (3. Mo 24, 17-22) In der christlichen Theologie wird dieses Rechtsdenken als ius talionis oder Talionsprinzip bezeichnet. Es meint das Prinzip der gleichartigen Vergeltung und beruht auf einer wörtlichen Auslegung der Bibelstellen. Wie Simon Grundwald schreibt, wurde das Talionsprinzip historisch oft „als Inbegriff des Unterschieds zwischen Juden- und Christentum angesehen.“ Allerdings geht die jüdische Auslegung der Bibelstellen davon aus, dass diese auf ein „Entschädigungsrecht“ zielen und nicht auf das Recht auf Rache oder „körperliche Vergeltung an einem Straftäter.“ Grunwald führt aus:

„Die talmudische Auslegung geht also davon aus, dass das Talionsprinzip nicht wörtlich ausgelegt werden kann. Rache und Vergeltung haben keinen Platz im jüdisch-talmudischen Denken, denn Rache ist stets Gottes Sache (5. Mose 32,35). Der Talmud fordert, das Talionsrecht durch eine materielle Entschädigung auszuführen. Man soll also keine Körperstrafen auferlegen; stattdessen stellt der Talmud ein System aus Schadenersatz, Schmerzensgeld, Kurkosten (Arztgeld), Versäumnisgeld (Ersatz für den Arbeitsausfall) und Beschämungsgeld auf. Das sollte dem Talionsprinzip Genüge tun.“[8] Einzig bei Mord oder Totschlag fordert das dritte Buch Moses den Tod des Täters.

Zurück zur Judenbuche und ihrer Autorin. Möglicherweise war Droste das jüdische Rechtsdenken durch ihren Freundes- und Bekanntenkreis vertraut, da auch der Orientalist Anton Lutterbeck und der hebräischkundige Arzt Alexander Haindorf zu ihm zählten. Drostes Erzählung jedenfalls nimmt eine Rochade vor, die sowohl zum Entschädigungsprinzip als auch zum Vergeltungsprinzip passt: Nach der gescheiterten Gerichtsverhandlung erwerben Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Herrn von S. diejenige Buche, wo der Mord an Aaron stattfand, mit der Maßgabe, dass sie nicht gefällt werden darf. Später wird in derselben Buche ein weiterer Leichnam gefunden – wahrscheinlich ist es der Mörder Aarons, der sich selbst das Leben genommen hat.

Indessen wird die Buche in Drostes Text von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde mit hebräischen Zeichen beschriftet. Deren deutsche Übersetzung lautet: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir gethan hast.“[9] Es handelt sich offenbar um eine Reformulierung der genannten Talionsstelle aus dem dritten Buch Moses: „wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat“ (3. Mo 24, 19), wörtlich übersetzt: „Fügt jemand seinem Nächsten einen Schaden zu: Wie er getan hat, so wird ihm getan“[10]. Es scheint, dass Droste die Straftatbestände der Bibel – erschlagenes Vieh, erschlagene Menschen und Körperverletzung – um geschlagene Bäume ergänzt hat.

Demnach kann die Judenbuche als symbolischer Ersatz für die Naturzerstörung angesehen werden, während der Leichnam des mutmaßlichen Mörders den Tod des Menschen vergilt. Bleibt noch der Zusatz, den Droste der Prophezeiung vorangestellt hat: „Wenn du dich diesem Orte nahest“. Offenbar kannte Droste das Wort „Halacha“, die Bezeichnung für jüdisches Recht. „Halacha“ leitet sich von dem hebräischen Verb „halach“ (gehen) ab und meint wörtlich „der zu gehende Weg“[11].  Wer sich dem Tatort der Judenbuche nähert, begibt sich folglich auf den Weg des Rechts.

 

Anmerkungen

[1] Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. Studienausgabe. Paralleldruck der Handschriften H2 und H8 mit dem Text des Erstdrucks. Hg. v. Bernd Kortländer. Stuttgart 2016, S. 7.

[2] Ebd., S. 53.

[3] Ebd., S. 21.

[4] Ebd., S. 19.

[5] Ebd., S. 157.

[6] Ebd., S. 19.

[7] Ebd., S. 151.

[8] Simon Grundwald: Auge um Auge? Zur jüdischen Rezeption des Vergeltungsprinzips. https://www.israelogie.de/dialog-zwischen-juden-und-christen/auge-um-auge-zur-juedischen-rezeption-des-vergeltungsprinzips/ am 24.04.2023.

[9] Droste-Hülshoff: Die Judenbuche, S. 183.

[10] Grundwald: Auge um Auge?

[11] Walter Homolka: Das Jüdische Recht: Eigenart und Entwicklung in der Geschichte. In: Humboldt Forum Recht 17 (2009), S. 1-33, hier S. 2. https://www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/hfr/deutsch/2009-17.pdf am 24.04.2023.

© khk / Heiner Witte

Über die Autorin

Dr. Claudia Lieb ist Germanistin und forscht an der Schnittstelle von Germanistik und Rechtswissenschaften. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Käte Hamburger Kolleg beschäftigt sie sich mit Praktiken des Sammelns und Ordnens von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert.

Mit Studierenden der Universität Münster hat Claudia Lieb eine digitale Ausstellung zum bildkünstlerischen Werk Droste-Hülshoffs erarbeitet: „Aus der Feder, mit der Feder. Collagen, Zeichnungen und Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff“.

Zitieren als:

Lieb, Claudia, Rechtsvorstellungen in "Die Judenbuche". Annette von Droste-Hülshoff zum 175. Todestag, EViR Blog, 16.05.2023, https://www.uni-muenster.de/EViR/transfer/blog/2023/20230516judenbuche.html.

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