Arzneipflanze des Jahres 2024 - Die Blutwurz (Potentilla erecta (L.) RAEUSCHEL )

von Lars Krüger und Matthias Lechtenberg

Mit der Blutwurz hat der Studienkreis der Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde in Würzburg eine Pflanze zur Arzneipflanze des Jahres 2024 gekürt [1], die sich nicht unbedingt sofort in den Blick des Betrachters drängt. Wer die Blutwurz sehen will, muss schon etwas genauer hinsehen.

Abb. 1 Potentilla erecta (L.) RAEUSCHEL
© IPBP/Krüger

Botanische Beschreibung

Die Blutwurz, auch Tormentill oder Aufrechtes Fingerkraut, Potentilla erecta (L.) RAEUSCHEL (syn. P. tormentilla STOKES, Familie Rosaceae) ist eine kleine, höchstens 50 cm hoch werdende Staude.  

Die Wuchshöhe wird in der Regel zwischen 10 und 30 Zentimetern angegeben, es gibt aber auch Quellen, die von 5 bis 50 Zentimetern sprechen. Der Stängel wächst aufrecht bis iederliegend, wurzelt aber nicht. Die Grundblätter sind dreizählig, die Fieder keilförmig, grob gezähnt, wobei der Endzahn hervorsteht. Die Blätter sind beiderseits kahl. Auch die Nebenblätter (typisch für Rosaceae) sind fingerförmig eingeschnitten.

Abb. 2 Blüte in Nahaufnahme
© IPBP/Krüger

Die gelben Blüten (Abb. 2) messen etwa einen Zentimeter im Durchmesser. Die Blütezeit erstreckt sich von Mai bis August [2]. Eine Besonderheit weist die Blüte auf, denn sie hat - für ein Rosengewächs eher untypisch [3] - nur vier Kronblätter, die so lang oder auch etwas länger als die Kelchblätter sind.

Das kräftige Rhizom dieser ausdauernden Pflanze wird als unregelmäßig knollig beschrieben und es weist einen Durchmesser von einem bis drei Zentimeter auf. Wenn es angeschnitten oder verletzt wird, färbt sich die Schnittfläche durch Oxidation blutrot und wird so für die Blutwurz namensgebend.

Die Blutwurz ist in den borealen und gemäßigten Zonen Europas verbreitet, wobei die östliche Verbreitungsgrenze am Altai-Gebirge liegt, im Süden ist sie nur in den Gebirgen zu finden. In Deutschland ist sie in den Alpen bis in 2200 m Höhe zu finden. Sie gilt als Magerkeitsanzeiger und kommt, stets in kleinen Beständen, auf mäßig sauren Böden vor, die bevorzugten Standorte sind dabei in Mischwäldern und auf Heiden, Magerwiesen und Niedermooren zu finden. [4]

Kulturhistorische Bedeutung und volksmedizinische Verwendung

Liest man die verschiedenen Veröffentlichungen zur Blutwurz als Arzneipflanze des Jahres 2024, so trifft man häufig auf den Namen Hildegard von Bingen. Auch sie empfahl die Anwendung von Blutwurz unter anderem gegen Fieber. Hieronymus Bock empfahl Blutwurz in seinem Kräuterbuch von 1551 äußerlich bei Nasenbluten, Menstruationsbeschwerden, Augenleiden und Feigwarzen. Innerlich sollte sie dagegen bei Vergiftungen und Pestilenz (= damals ein Sammelbegriff für alle ansteckenden Krankheiten), dazu bei Fieber, Erbrechen und Durchfall helfen. [6]

Als Vorläufer der Blutwurz wurde in der griechisch–römischen Antike das kriechende Fingerkraut (Potentilla reptans L.) z.B. in der „Materia medica“ des Pedianos Dioskurides und im „Herbarius“ des Pseudo-Apuleios beschrieben. Vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein wurde die Wurzelstöcke der beiden Pflanzen parallel verwendet.

Seit dem Mittelalter werden außerdem die oberirdischen Teile des Gänsefingerkrautes (Argentina anserina (L.) RYDB.; syn: Potentilla anserina L.) erwähnt und seit Hildegard von Bingen wurden die drei Pflanzen in vielen Schriften beschrieben, auch in den Büchern von z.B. Leonard Fuchs oder Hieronymus Bock.

Erwähnenswert ist auch, dass in Bayern die Blutwurz als Bestandteil eines Kräuterschnapses verwendet wird, der als Digestif (der Begriff ist abgeleitet vom lateinischen digestio ‚Verdauung‘ oder vom französischen digestif (-ive)‚ die Verdauung betreffend) nach einer Mahlzeit getrunken wird. 

Inhaltsstoffe

Gerbstoffe

Tormentillwurzelstock enthält 15 bis 22 % Gerbstoffe (Hautpulvermethode, s.u.), von denen 70 bis 80 % zur Gruppe der oligomeren (di- und tri- bis hexameren) Proanthocyanidine (kondensierte Catechingerbstoffe) gehören. Diese Fraktion besteht (je nach Autor) zu 49-62% aus Monomeren, Dimeren und Trimeren, 24-37% aus Tetrameren und 10-15% aus Pentameren und Hexameren. Neben monomeren Flavan-3-olen (Abb. 3, oben links) konnten dimere (Abb. 3, oben rechts) und trimere Proanthocyanidine vom B-Typ isoliert und in Ihrer Struktur aufgeklärt werden. Sie sind in der Regel trans-konfiguriert und über 4,8-, 4,6-, 6,6- oder 6,8-Bindungen verknüpft. Hauptkomponente ist das Procyanidin B3 [7, 8].

Abb. 3 Beispiele für Gerbstoffpolyphenole aus Tormentillwurzelstock
© IPBP/Lechtenberg

Die hydrolysierbaren Gerbstoffe (ja nach Autor bis zu 30%) bilden eine weitere wichtige Gruppe von Verbindungen. Neben Pentadigalloylglucose wurden Ellagitannine isoliert, die durch Hexahydroxydiphensäure-(HHD)-Teilstrukturen (Abb. 3) charakterisiert sind. Nach Hydolyse der Esterbindungen des Gerbstoffmoleküls kann sich aus der freien HHD die (namensgebende) Ellagsäure bilden. Innerhalb dieser Gruppe ist das Agrimoniin die repräsentativste Verbindung (nach [9]: 3,5%). Daneben kommt auch Pedunculagin vor, das in Abb. 3 beispielhaft gezeigt wird. Die beiden HHD-Teilstrukturen sind im Molekül rot markiert.

Bei der Lagerung der Droge polymerisieren die Catechingerbstoffe weiter zu den wasserunlöslichen Phlobaphenen, die die Droge rot färben („Tormentillrot“). [7, 8]. Diese Reaktion ist auch für die an frisch aufgeschnittenem Wurzelstock zusehends auftretende Rotfärbung verantwortlich.

Weitere Verbindungen

Die Droge enthält weiterhin verschiedene Triterpene (z. T. mit Zuckerresten versehen und daher zu den Saponinen gehörig), unter denen Tormentosid auch diagnostisch von Wert ist. Tormentillwurzelstock enthält außerdem kleine Mengen an Flavonoiden, Kaffeesäurederivaten und Spuren von ätherischem Öl [7, 8].

Drogen, Extrakte und Darreichungsformen

Pharmazeutisch genutzt wird das zerkleinerte und in der Sonne getrocknete Rhizom, das bevorzugt im Frühjahr kurz vor der Blüte oder aber im Herbst, kurz nach der Blüte geerntet wird. Im europäischen Arzneibuch wird die Droge Tormentillwurzelstock definiert als das „von den Wurzeln befreite und getrocknete, ganze oder geschnittene Rhizom von Potentilla erecta“ [7].

Identität: Die Prüfung erfolgt makroskopisch und mikroskopisch. Per Dünnschichtchromatographie werden zusätzlich Gerbstoffe detektiert. Die wasserlöslichen Gerbstoffe werden dazu zunächst mit Wasser aus der Droge extrahiert, nach Fitration wird die Wasserphase dann mit Ethylacetat ausgeschüttelt. Die Ethylaceatatphase, in der sich nun hauptsächlich die monomeren Flavan-3-ole befinden, wird gegen Catechin als Referenzsubstanz an Kieselgel chromatographisch untersucht. Echtblausalz B dient als Detektionsreagenz.

Gehalt: Gefordert werden mindestens 7 Prozent Gerbstoffe, berechnet als Pyrogallol unter Verwendung der Methode „Gerbstoffe in pflanzlichen Drogen“ (Hautpulvermethode). Bei dieser photometrischen Differenzmessung werden Aliquote wässriger Drogen-Auszüge vor („Gesamtphenole“) und nach („Restphenole“) der Behandlung mit Hautpulver mit Molybdat-Wolframat-Reagenz umgesetzt. Die durch die reduktiven Eigenschaften der Polyphenole entstehenden Farbprodukte (z.B. Molybdänoxidhydroxide = „Molybdänblau“) werden photometrisch vermessen. Die Differenz beider Messungen (Gesamtphenole – Restphenole) entspricht dem Anteil der durch Hautpulver adsorbierbaren Polyphenole und somit den Gerbstoff-Polyphenolen. Gemessen wird gegen Pyrogallol als Referenzsubstanz. Die Berechnung erfolgt als Pyrogallol was eine reale Vergleichbarkeit der Gerbstoffgehalte mit anderen Gerbstoffdrogen erschwert. Heinrich Glasl erarbeitete deshalb für die Gerbstoffdrogen des Arzneibuchs ein Analysenverfahren, das drogenabhängige Extinktionsfaktoren berücksichtigt und somit den wahren Gerbstoffgehalt besser abbildet [10]. Diese verbesserte Methode hat bislang allerdings (noch) keinen Eingang ins Arzneibuch gefunden.

In der Ph. Eur. findet sich auch die Monographie Tormentilltinktur (Tormentillae tinctura). Definitionsgemäß wird sie aus Tormentillwurzelstock hergestellt und enthält mindestens 1,5 Prozent (m/m) Gerbstoffe (berechnet als Pyrogallol, Hauptpulvermethode s.o.) [11].

Der Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) der EMA beschreibt neben der Droge noch weitere Darreichungsformen [12]:

  • Tinktur (1:5), Extraktionslösungsmittel Ethanol 70% (V/V)
  • Tinktur (1:5), Extraktionslösungsmittel Ethanol 45% (V/V)
  • Flüssigextrakt (DER 1:1), Extraktionslösungsmittel Ethanol 25% (V/V)
  • Trockenextrakt (DER 3,5-4,5:1), Extraktionslösungsmittel Ethanol 60% (V/V)

Die Droge selbst kommt dabei in Form eines Kräutertees zum oralen Gebrauch zum Einsatz sowie als Aufguss oder Dekokt-Zubereitung zur oromukosalen Anwendung. 

Therapeutische Anwendung

Tormentillwurzelstock wird aufgrund seines hohen Gerbstoffgehalts als lokales Adstringens bei Schleimhautentzündungen im Mund- und Rachenraum oder bei Entzündungen des Zahnfleisches sowie innerlich bei Durchfallerkrankungen eingesetzt. Ebenfalls in der Droge enthaltene Triterpene können möglicherweise ähnlich wie Corticoide (z.B. Hydro-„cortison“) wirken und somit zu den weiteren beobachteten Effekten beitragen: In vitro und im Tierversuch wirkten Extrakte aus Tormentillwurzelstock antiallergisch, antihypertensiv, antiviral, antiinflammatorisch, antioxidativ, immunstimulierend und Interferon-induzierend. [7]

Die Schlussfolgerungen des HMPC zur Verwendung von tormentillhaltigen Arzneimittel beruhen auf ihrer "traditionellen Verwendung". Trotz unzureichender Belege aus klinischen Studien, ist die Wirksamkeit dieser pflanzlichen Arzneimittel plausibel und es gibt Hinweise darauf, dass sie seit mindestens 30 Jahren (davon mindestens 15 Jahre in der EU) auf diese Weise sicher verwendet werden [12].

In der heutigen rationalen Phytotherapie, die auf den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin beruht, haben Tormentillwurzelstock und seine Zubereitungen nur noch eine geringe Bedeutung. Melzig und Böttger begründen diese Tatsache damit, dass trotz interessanter Einzelergebnisse umfassende Untersuchungen fehlen [8]. Die vorliegenden in vitro- und in vivo-Untersuchungen unterstützen die traditionelle Verwendung zur Behandlung von Durchfall und Schleimhautentzündungen zwar, es fehlt allerdings an ausreichenden klinischen Studien. Zudem führt die unspezifische Wechselwirkung der verschiedenen Polyphenole mit Proteinen zur Hemmung mehr oder weniger aller biologischen Aktivitäten in pharmakologischen Modellsystemen. Vergleiche dazu auch [13]. 

Das Hauptproblem scheint also die Unterscheidung zwischen unspezifischen und spezifischen pharmakologischen Wirkungen der Arzneimittelzubereitungen zu sein. Die Situation könnte sich mit den jüngsten Erkenntnissen über die Wechselwirkung zwischen Mikrobiom und Ellagitanninen ändern: die beobachteten spezifischen entzündungshemmenden Wirkungen werden offensichtlich durch definierte Gerbstoffmetabolite induziert [8].    

Quellen

[Hinweis: Die angegebenen Internetlinks wurden zuletzt überprüft am 10.04.2024]

[1] Mitteilung des Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde: Blutwurz ist die Arzneipflanze des Jahres 2024. https://www.klostermedizin.de/index.php/h eilpflanzen/arzneipflanze-des-jahres/73-arzneipflanze-des-jahres-2024-blutwurz-potentilla-erecta 

[2] Flora von Deutschland, Schmeil-Fitschen, Verlag Quelle und Meyer, 92. Auflage 2003

[3] Grundkurs Pflanzenbestimmung, Rita Lüder, Verlag Quelle und Meyer, 2. Auflage 2005

[4] Wikipedia-Eintrag zu Blutwurz: https://de.wikipedia.org/wiki/Blutwurz

[5] Blutwurz – Arzneipflanze des Jahres 2024. DAZ.online vom 03.01.2024. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2024/01/03/blutwurz-arzneipflanze-des-jahres-2024

[6] Blutwurz ist die Arzneipflanze des Jahres. Autorin: Wiebke Gaaz. PZ.online vom 05.01.2024. https://www.pharmazeutische-zeitung.de/blutwurz-ist-die-arzneipflanze-des-jahres-144623 

[7] Tormentillwurzelstock, Tormentillae rhizoma, Monographie Ph. Eur. 11.0/1478 mit zugehörigem Kommentar.

[8] Melzig MF, Böttger S (2020) Tormentillae rhizoma – Review for an Underestimated European Herbal Drug. Planta Med 86, 1050–1057. https://DOI.org/10.1055/a-1129-7214

[9] Scholz E, Rimpler H (1994) Phytochemie der Gerbstoffdrogen der deutschsprachigen Arzneibücher. ÖAZ 48 138-141.

[10] Glasl H. (1983) Zur Photometrie in der Drogenstandardisierung. 3. Gehaltsbestimmung von Gerbstoffdrogen. Deutsche Apotheker Zeitung 123 (42) 1979-1987.

[11] Tormentilltinktur, Tormentillae tinctura, Monographie Ph. Eur. 11.0/1895.

[12] EMA/HMPC/5513/2010. Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC), Community herbal monograph on Potentilla erecta (L.) Raeusch., rhizoma. https://www.ema.europa.eu/en/medicines/herbal/tormentillae-rhizoma

[13] Baell, J., Walters, M. (2014) Chemistry: Chemical con artists foil drug discovery. Nature 513, 481–483. https://doi.org/10.1038/513481a