"Wir entwickeln Algorithmen, aus denen andere etwas Sinnvolles und Nützliches kreieren."

Prof. Stanley Osher von der University of California in Los Angeles hält im Rahmen des Workshops “Variational Methods for Dynamic Inverse Problems and Imaging” an der WWU einen Vortrag. Der Carl-Friedrich-Gauß-Preisträger erklärt im Interview, wie seine Mathematik Hollywood hilft und Verbrecher hinter Gitter bringt.
Prof. Stanley Osher

Prof. Osher, Sie haben in den vergangenen Jahren mit Ihrer Level-Set-Methode bewiesen, dass Mathematik keine rein theoretische Wissenschaft, sondern höchst praxisrelevant ist. Mit ihr beschreiben Sie mathematisch bewegte Flächen dreidimensional. Geografen nutzen die Methode, um den Ursprung von Erdbeben zu identifizieren. Ärzte treffen damit Vorhersagen für das Wachstum von Tumoren. Und Filmstudios wie Pixar oder Dreamworks nutzen sie für die Animation von Wasser, Schnee oder Feuer. Was haben diese Anwendung alles mit Mathematik zu tun?

Stanley Osher: Sehr viel sogar. Die Basis aller Anwendungen der Level-Set-Methoden ist die Physik. Andere Anwendungen stammen von Nutzern. Bei Animationen in einem Hollywood-Studio geht es zum Beispiel darum, wie genau Wasser fließt, Eis schmilzt oder Feuer brennt. Mit der Level-Set-Methode lassen sich Formen und Bewegungen sehr akkurat und realitätsnah berechnen und dadurch auch darstellen. Im Disneyfilm „Frozen – Die Eiskönigin“ sieht man das: Eis, Schnee oder Wasser bewegen sich nach den realen Regeln der Physik. Mein früherer Doktorand Ronald Fedkiw hat für seine Animationen zwei Oscars bekommen, und sein Student, Joseph Teran, hat den Schnee in „Frozen“ animiert. Das Wasser im Film „Titanic“ hat sich dagegen wenig realistisch bewegt. Für uns Mathematiker war die Animation damals schon überholt. Ich selbst bin bei Hollywood-Projekten nicht mehr so sehr involviert. Ich bin der Mann für Algorithmen, sorge für grundlegende Methoden und bin außerdem zu alt zum Programmieren. Das übernehmen meine tollen Studenten und Doktoranden.

Die Anwendungen für Ihre Level-Set-Methode sind sehr vielfältig. Hatten Sie damit gerechnet, dass so viele Bereiche sich für Ihre Arbeit interessieren?

Nein, wir hatten Glück. Die Methode schien für mehr Anwendungen nützlich zu sein als wir uns hätten vorstellen können. Mittlerweile ist die Level-Set-Methode etabliert. Es kommen kaum noch Leute auf uns zu und bitten um Hilfe. Wir kümmern uns um neue mathematische Probleme. Vor einiger Zeit habe ich etwa mit Leonid Rudin vom California Institute of Technology eine Methode entwickelt, wie man verschwommene Bilder klar macht. Auch sie hat wieder viele Anwender gefunden. Die Polizei überführt mit ihr zum Beispiel Verbrecher, indem sie Ausschnitte aus Videos heranzoomen und die dadurch entstandenen Verschmierungen herausrechnen kann.

Martin Burger, Professor für Angewandte Mathematik an der WWU, arbeitet auch daran, Bilder schärfer zu machen. Sein Steckenpferd ist die medizinische Bildgebung. Im Rahmen des Exzellenzclusters „Cells in Motion“ arbeitet er mit seiner Arbeitsgruppe und Medizinern daran, MRT-Bilder möglichst klar zu machen. Wie viel hat ihre Arbeit mit seiner gemeinsam?

Wir arbeiten sogar zusammen. Schließlich beschäftigen wir uns mit den gleichen mathematischen Problemen. Martin macht tolle Dinge, die ich sehr interessant finde. Er beschäftigt sich mehr mit der computergestützten Bildgebung von Anatomie oder Biologie. Unsere Forschung geht in eine etwas andere Richtung. Wir wollen MRT-Bildgebungsverfahren schneller machen. Mit unserer Technik und unserem Algorithmus müssen Ärzte weniger Daten aufnehmen, um ein ebenso klares Bild zu erhalten wie bisher. Patienten müssen damit auch weniger lang in einem MRT-Scan liegen oder sie werden bei einem CT-Scan von weniger Strahlung "vergiftet".

Und an welchem wissenschaftlichen Projekt arbeiten Sie gerade?

Wir haben gerade erst ein Kontroll-Theorie-Papier veröffentlicht, unter dem Namen „Overcoming the Curse of Cimensionality“. Unser Algorithmus vereinfacht Probleme mit mehreren Dimensionen und findet dadurch schnell eine Lösung. Wir können zum Beispiel berechnen, dass sich Flugzeuge im Luftraum nicht zu nah kommen. Sie könnten sich in alle möglichen Richtungen bewegen. Der Algorithmus kommt mit so vielen Parametern klar und findet eine optimale Lösung. Bisher dauerten Berechnungen mit so vielen Variablen zu lang und ließen sich nicht praxistauglich nutzen. Unser Algorithmus funktioniert sogar, wenn hundert verschiedene Parameter ein Problem beschreiben. Ich bin gespannt, welche Anwendungen andere für unseren Algorithmus finden. Ich finde es toll, dass unsere mathematischen Methoden immer auf ein so großes Interesse stoßen. Wir entwickeln Algorithmen, aus denen andere etwas Sinnvolles und Nützliches kreieren. Daran bin ich sehr interessiert.