VORTRAG RIKE SZILL, M.Ed.
RIKE SZILL, M.Ed. (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
Mittwoch 23. Oktober 2019, 18-20 Uhr
Raum F 3, Fürstenberghaus (Domplatz 20-22, 48143 Münster)
Titel: "Spätbyzantinische Perspektiven auf die Einnahme Konstantinopels 1453"
Forschungskolloquium 400-1500. Mittelalter
Unter den Diskursen über das Ende einer Herrschaft rief in der spätmittelalterlichen christianitas kaum ein Ereignis eine ähnlich große Resonanz hervor wie die Einnahme Konstantinopels 1453. Besonders für die Byzantiner bedeutete dies eine tiefgreifende Sinnkrise, welche aus der Assoziation mit dem Untergang des letzten der vier Weltreiche gemäß der Traumdeutung des alttestamentlichen Propheten Daniel (Kap. 2 und 7) und sich nun bewahrheitender Endzeitvorstellungen ihre vorstellungsgeschichtliche Brisanz bezog. In allzu starkem Fokus auf die Perspektive der ‚Eroberten‘ und ‚die Stimme der Verlierer‘ gerät dadurch jedoch zumeist aus dem Blick, dass gerade die spätbyzantinischen Historiographien, die den Hauptüberlieferungsstrang zu den historischen Vorgängen bilden, die Geschehnisse durchaus mit den neuen Machtverhältnissen in Einklang zu bringen versuchten und damit eine pragmatische Lösung für den Herrschaftswechsel von den Byzantinern auf die Osmanen überlieferten. Die Einnahme Konstantinopels wird dabei nicht allein als Ende oder Neubeginn, sondern auch als Fortführung etablierter Herrschaftsstrukturen verstanden. So ist diesen Werken folglich ein Diskurs inhärent, in dem das Verhältnis zwischen Alt und Neu, zwischen Kontinuität und Umbruch ausgehandelt wird: Etablierte Erklärungsmodelle, denen ob der jüngsten Ereignisse keine stabile Deutungsinstanz mehr zugewiesen werden kann, werden durch Umformung, Verschiebung oder Abwandlung einzelner Elemente neu erfunden und so restabilisiert.
Das Dissertationsprojekt widmet sich dezidiert den unterschiedlichen Sinnstiftungsstrategien der Einnahme Konstantinopels 1453 in den Hauptwerken der spätbyzantinischen Historiographie: den Geschichtswerken des Sphrantzes (*1401, † 1477/1478), des Dukas (*um 1400, † nach 1462), des Laonikos Chalkokondylas (*um 1423/1430, † um 1490) und des Kritobulos von Imbros (*1400–1410, † nach 1468). Dabei vertritt die Arbeit die These, dass bereits in diesen zeitgenössischen Historiographien ein Kontinuitätsgedanke greifbar wird, der über innovative Geschichtskonzepte plausibel gemacht wird und einen produktiven Umgang mit den neuen Herrschaftsverhältnissen propagiert. Der Rekurs auf Ansätze aus den trauma studies verspricht dabei einen besonders strukturierten Zugriff auf die in den Werken offerierten Deutungs- und Bewältigungsstrategien, da so nicht nur Passagen aus dem unmittelbar erzählenden Kontext der militärischen Einnahme Konstantinopels, sondern auch andere Abschnitte in den Blick geraten, die ähnliche Aussagegehalte diskutieren.
Der Vortrag fragt den Leitlinien des Projektes entsprechend explizit danach, wie die Zeitgenossen in solch einem „Moment der weitgehenden Desorientierung“ (Jussen, um 567 2005, S. 25) wie der Einnahme Konstantinopels mit dem obigen Paradoxon von Orientierungslosigkeit und produktivem ‚Vakuum‘, Vergessen und Verdrängen sowie Erinnern und Verarbeiten in ihren Werken umgehen. Dabei gilt es nach einer kurzen Vorstellung des übergeordneten Forschungsdesigns zu untersuchen, inwiefern sich in Momenten der Sprachlosigkeit, die aus der Erschütterung etablierter Erklärungsmuster resultierten, eine semantische Restabilisierung vornehmen, mithin das Un-denkbare und doch Eingetretene in Worte fassen und beschreibbar machen lässt. Exemplarisch dienen dazu zwei ausgewählte, prominente Textpassagen aus dem Geschichtswerk des Dukas. Inwiefern wird die aus den jüngsten Ereignissen resultierte Erschütterung in den Erzählstrukturen des Verfassers greifbar? Welche sprachlichen Muster lassen sich nachweisen, um die geschilderten Handlungen zu strukturieren und so zu restabilisieren?