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Münster (upm/ch)
Der Edelstahl-Tank (das Spektrometer), ein zentraler Bestandteil von "KATRIN", im Jahr 2006. Damals wurde der Aufbau mit einem spektakulären Transport am KIT-Campus in Eggenstein-Leopoldshafen bei Karlsruhe angeliefert.© Karlsruher Institut für Technologie
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Teilchenphysiker der WWU bauen weltweit einzigartiges Großexperiment zur Bestimmung der Neutrino-Masse mit auf

"Eine ganz besondere Kleinigkeit" / Entwicklung aus Münster ist jetzt Teil von "KATRIN"

Wie ein Luftschiff ragt der riesige Edelstahl-Tank in einer Halle am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) vor Besuchern auf. Mit mehr als 23 Metern Länge, einem Durchmesser von rund zehn Metern und einem Volumen von 1400 Kubikmetern scheint er die Decke über ihm fast zu sprengen. Der Tank ist kein gewöhnlicher Tank. Er ist Teil des Experiments "KATRIN", mit dem Physiker messen wollen, was noch niemand gemessen hat: die Masse von Neutrinos. Diese "Geisterteilchen" wimmeln laut Standardmodell der Teilchenphysik millionenfach um uns herum, durchdringen die dickste Mauer mühelos – und wiegen so gut wie nichts. Sie sind die leichtesten Teilchen, die es im Universum gibt. Gelänge es den Forschern, ihre Masse genau zu bestimmen, hätten sie eines der größten Rätsel der Teilchenphysik gelöst.

Der riesige Tank am KIT ist das zentrale Spektrometer des KATRIN-Experiments, das nach rund 20 Jahren Planungs- und Bauzeit 2018 seine Messungen aufnehmen soll. Im Inneren des Tanks herrscht eine Atmosphäre wie auf dem Mond: Ultrahochvakuum. Dort werden Elektronen in einem elektromagnetischen Feld auf die richtige Flugbahn gebracht, nach ihrer Energie selektiert und in einem Detektor am Ende des Spektrometers registriert.

Hinter dem Edelstahl-Tank ermöglicht ein Fenster in der Hallenwand den Blick in ein angrenzendes riesiges Labor. Es ist gefüllt mit unüberschaubaren Apparaturen und technischem Gerät, das ein gewaltiges Stahlrohr ummantelt. Hier steht der Teil von KATRIN, der es überhaupt erst möglich macht, dass im Detektor am gegenüberliegenden Ende des Tanks Elektronen ankommen: die Tritium-Quelle. Tritium ist "superschwerer Wasserstoff": Es hat als sogenanntes Isotop des Wasserstoffs zwei zusätzliche Teilchen – Neutronen – im Atomkern und ist im Gegensatz zu Wasserstoff radioaktiv. Beim Betazerfall des Tritiums, einem radioaktiven Zerfall, entstehen Elektronen und die mindestens 250.000 Mal leichteren Neutrinos. Die Elektronen mit der höchsten Energie schaffen es, das Spektrometer zu passieren, und erreichen den Detektor. Da die Zerfallsenergie sich auf Neutrinos und Elektronen verteilt, erlaubt die Messung der Elektronen Rückschlüsse auf die Masse der Neutrinos.

Dieser Apparat ist in dem Experiment von der Größe her eine Kleinigkeit, aber eine ganz besondere"
Prof. Dr. Christian Weinheimer

An einem Mittwoch im August sitzt Stephan Dyba rittlings auf dem Stahlrohr, das die Tritium-Quelle mit dem Spektrometer verbindet. Am Ende des Labors, dort wo die Spektrometer-Halle anschließt, schraubt der münstersche Doktorand aus der Arbeitsgruppe von Astroteilchenphysiker Prof. Dr. Christian Weinheimer an einer Apparatur, die noch vor wenigen Wochen im Labor des Instituts für Kernphysik an der WWU stand. Jetzt ist sie Teil von KATRIN. Angesichts des gigantischen Versuchsaufbaus könnte man sie glatt übersehen, obwohl ein Mensch hinter ihr verschwindet. "Dieser Apparat ist in dem Experiment von der Größe her eine Kleinigkeit, aber eine ganz besondere", betont Christian Weinheimer, der schon Anfang der 1990er-Jahre versuchte, das Rätsel der Neutrinomasse zu lösen. Damals war er an dem Vorgängerexperiment von KATRIN an der Universität Mainz beteiligt.

Die in Münster entwickelte "Kr-83m-Konversionselektronenquelle", der Stephan Dyba mit viel Herzblut, physikalischem Know-how und tüftlerischem Geschick seine Doktorarbeit gewidmet hat, dient der Kalibrierung des Spektrometers. Durch den Zerfall eines speziellen Isotops des Edelgases Krypton produziert sie Elektronen mit genau bekannter Energie. 14 Jahre Entwicklungsarbeit von Physikern und Ingenieuren aus der Gruppe von Christian Weinheimer stecken in diesem weltweit einmaligen Präzisionsgerät. Generationen von Abschlusskandidaten und Doktoranden vor Stephan Dyba haben mitgeholfen, außerdem die Teams der Feinmechanischen Werkstatt und der Elektronik-Werkstatt der Kernphysik. Heute baut Stephan Dyba ein Lasergehäuse aus, um es noch einmal in die Werkstatt an die WWU zurückzubringen. Dort wird die Passform überarbeitet, bevor das Bauteil endgültig seinen Platz im KATRIN-Experiment findet.

Rund 150 Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Studierende aus zwölf Einrichtungen in Deutschland, Frankreich, Spanien, Russland, Tschechien und den USA sind an KATRIN beteiligt. Dass das KIT als Standort gewählt wurde, ist kein Zufall. "Durch das ehemalige Forschungszentrum Karlsruhe, das dann später zusammen mit der hiesigen Universität zum KIT wurde, gibt es hier eine einzigartige Expertise zur Handhabung von Tritium", erläutert Dr. Beate Bornschein, Leiterin des Tritiumlabors Karlsruhe. Ohne das Tritiumlabor, ursprünglich für die Kernfusionsforschung gebaut, wäre die Vermessung der Neutrinos nicht möglich.

Blick ins Innere des Spektrometers, aufgenommen während des Aufbaus des Experiments<address>© Michael Zacher</address>
Blick ins Innere des Spektrometers, aufgenommen während des Aufbaus des Experiments
© Michael Zacher
Doktorand Stephan Dyba ist fasziniert von den Geisterteilchen: "Dadurch, dass sie so leicht und nicht geladen sind, gibt es kaum Wechselwirkungen zwischen ihnen und anderen Teilchen. Das heißt beispielsweise, dass Neutrinos, die aus dem Inneren der Sonne stammen, unverändert auf der Erde ankommen. Sie sind die einzige Möglichkeit, Informationen aus dem Inneren der Sonne zu erhalten." Andere Neutrinos stammen beispielsweise aus dem Urknall, aus schwarzen Löchern oder aus dem Inneren der Erde. Im Weltbild der Physik sind sie ein entscheidender Baustein. Möglicherweise sind sie die Teilchen, aus denen Dunkle Materie besteht. Sie könnten erklären, warum es so viel mehr Materie als Antimaterie im Universum gibt, obwohl beim Urknall beides zu gleichen Anteilen entstanden sein müsste.

Technik "Made in Münster" gibt es nicht nur im Tritium-Labor, sondern auch in der Halle nebenan: Die 24.000 Hochspannungsdrähte, die das Innere des Spektrometers wie Gitarrensaiten überziehen, hat ebenfalls die Arbeitsgruppe von Christian Weinheimer eingebaut – und zwar so präzise, dass im Spektrometerinnern ein Hochspannungspotenzial von 18.600 Volt mit einer Genauigkeit von 0,02 Volt herrscht und gleichzeitig geladene Teilchen von der Spektrometerwand abgeschirmt werden. Keine Firma der Welt bietet so etwas an.

"Der Tank ist ein Unikat – der größte Ultrahochvakuumtank, den es gibt", berichtet Prof. Dr. Guido Drexlin vom KIT, neben Christian Weinheimer einer der beiden Sprecher von KATRIN. Und überhaupt: Nicht nur der Tank, sondern das gesamte Experiment ist einzigartig. Christian Weinheimer unterstreicht: "KATRIN steht für Hightech in der Forschung. Wir haben hier an vielen Stellen technologisches Neuland betreten. Wenn wir durch KATRIN nur eine einzige fundamentale Neuigkeit herausfinden, hätten sich all die Jahre der Mühen mehr als gelohnt. Das wäre grandios."

Autorin: Christina Heimken


Das "Karlsruhe Tritium Neutrino experiment"

Die Abkürzung "KATRIN" steht für "Karlsruhe Tritium Neutrino experiment". Zahlreiche Technologien und Komponenten spielen laut Angaben des Karlsruher Instituts für Technologie hierbei zusammen: Auf dem 70 Meter langen Weg eines Elektrons durch das gesamte Experiment liegen supraleitenden Magnete und Kältefallen, gasgefüllte Bereiche und Vakuum, Zonen mit Temperaturen unter vier Kelvin (minus 269 Grad Celsius) und mit Raumtemperatur. Ihr Betrieb muss optimal aufeinander abgestimmt werden, damit die Elektronen nach einer Flugzeit von wenigen Millionstel Sekunden auf den Detektor treffen. Der Detektor aus Silizium-Halbleitermaterial besitzt einen Durchmesser von rund 125 Millimetern und beinhaltet 148 Pixel, die ähnlich einer Dartscheibe angeordnet sind und damit einen räumlichen "Blick" in die Welt von KATRIN ermöglichen. Das internationale Experiment KATRIN wird die Neutrinomasse mit einer Genauigkeit eingrenzen, die mehr als eine ganze Größenordnung besser sein wird als bislang. Dazu werden ab 2018 Elektronen aus dem Beta-Zerfall von Tritium, in dem Neutrinos eine tragende Rolle spielen, in einem mehr als 23 Meter langen Spektrometer exakt vermessen. Für die Bewältigung dieser Jahrhundertaufgabe haben die Forscher in den vergangenen Jahren zahlreiche wissenschaftliche Herausforderungen gelöst – zum Beispiel, ein Ultrahochvakuum von zehn hoch minus elf Millibar (14 Größenordnungen unter dem normalen Luftdruck) in einem Volumen von 1240 Kubikmeter (die Größe eines Einfamilienhauses) über fünf Jahren zu halten.

Rund 150 Wissenschaftler aus sechs Ländern sind an KATRIN beteiligt. Die Investitionskosten betragen mehr als 60 Millionen Euro. Erste interessante Ergebnisse zur Neutrinomasse werden bereits nach wenigen Monaten Messzeit erwartet. Dann wird die Mess-Empfindlichkeit von KATRIN bereits deutlich besser sein als die von allen anderen Tritiumzerfallsexperimenten der letzten drei Dekaden zusammen. Die endgültige, geplante Sensitivität erreicht KATRIN aber erst nach fünf Jahren Messzeit.

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