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Münster (upm)
Prof. Dr. Norbert Sachser und Prof. Dr. Helene Richter<address>© Lucas Wahl</address>
Prof. Dr. Norbert Sachser und Prof. Dr. Helene Richter
© Lucas Wahl

"Wir können die Tiere leider nicht fragen"

Prof. Helene Richter und Prof. Norbert Sachser über Entwicklungen und Schwerpunkte in der Tierwohl-Forschung

HELENE RICHTER ist neue Professorin für Verhaltensbiologie und Tierschutz am Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie der WWU. CHRISTINA HEIMKEN sprach mit ihr und mit dem Verhaltensbiologen Prof. NORBERT SACHSER, geschäftsführender Direktor des Instituts, über die Bedeutung der Tierwohl-Forschung und über die Entwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft beim Tierschutz.

Frau Richter, Sie sind Verhaltensbiologin und haben bei Herrn Sachser gelernt. Was war Ihre Motivation, sich dem Thema Tierschutz zuzuwenden?

Helene Richter: Ich habe Herrn Sachser bereits als Schülerin kennengelernt. Damals hörte ich beim Hochschultag eine Vorlesung von ihm. Seit dieser "Einführung in die Verhaltensbiologie" wusste ich, dass ich Verhaltensbiologie studieren möchte, deswegen bin ich gezielt an die WWU gegangen. In meiner Diplomarbeit wollte ich zu einem Tierwohl-Thema arbeiten und habe mich Verhaltensstörungen bei Mäusen gewidmet. Das hat mich in meinem Wunsch bestärkt, zum Thema Tierschutz zu forschen. Während meiner Doktorarbeit in Gießen konnte ich mich erneut auf versuchstierkundliche Fragen fokussieren, sodass sich die Richtung weiter gefestigt hat.

Welche Forschungsziele haben Sie?

Helene Richter: Ich möchte zwei wesentliche Punkte nennen: Zum einen das Thema "refinement" in der Versuchstierkunde. Dabei geht es darum, die Haltungsbedingungen und den Umgang mit Tieren sowie die Versuchsmethoden in der tierexperimentellen Forschung zu verbessern. Der zweite wichtige Punkt ist die Wohlergehens-Diagnostik. In diesem Forschungsbereich suchen wir nach neuen Methoden, um das Wohlergehen von Tieren objektiv zu ermitteln. Da wir die Tiere leider nicht fragen können, müssen wir bestimmte Faktoren identifizieren, mit deren Hilfe wir auf das Wohlergehen rückschließen können. Zusätzlich geht es um die Frage, welche Umweltbedingungen das Wohlergehen des Tiers beeinflussen – mit dem Ziel, dafür zu sorgen, dass es dem Tier besser geht.

Die tierexperimentelle Forschung ist in einen Umbruch geraten."
Helene Richter

Herr Sachser, war Tierwohl zur Zeit Ihrer Promotion Mitte der 1980er-Jahre in der Verhaltensbiologie ein Thema?

Norbert Sachser: Damals standen andere Themen im Vordergrund. Fragen waren beispielsweise: Wie leben Schimpansen in freier Natur? Wie finden Zugvögel ihren Weg? Die begabten jungen Leute haben sich auf Themen wie diese konzentriert. Nicht nur in der Forschung, auch in der Gesellschaft hat das Thema Tierwohl heute eine viel größere Bedeutung. Natürlich gab es auch damals Menschen, die sich für Tierschutz interessierten. Aber es hat sich fast niemand Gedanken darüber gemacht, ob man Meerschweinchen alleine halten darf, und in den Zoos gab es jede Menge Gitterstäbe.

Frau Richter, Sie haben in NRW die erste Professur für Tierschutz. Ist die Zeit reif – ist der Bedarf für die Expertise auf diesem Gebiet da?

Helene Richter: Ja, die Zeit ist reif, gerade weil sich die gesetzlichen Grundlagen in den vergangenen Jahren geändert haben. Ausschlaggebend war die Novellierung der EU-Richtlinie 2010, die das wissenschaftliche Arbeiten mit Tieren reguliert und die sich 2013 im deutschen Tierschutzgesetz niederschlug. Die tierexperimentelle Forschung ist in einen Umbruch geraten. Der Fokus liegt auf dem sogenannten 3R-Prinzip – benannt nach den englischen Begriffen "replace, reduce, refine", also vermeiden, verringern und verbessern. Es gibt einen großen Bedarf für Forschung in diesem Bereich. Man merkt übrigens auch, dass sich in der öffentlichen Debatte viel tut. Natürlich wurde das Thema schon immer sehr emotional und kontrovers diskutiert. Aber die Wissenschaft reagiert zunehmend darauf und versucht, für mehr Transparenz zu sorgen.

Norbert Sachser: International betrachtet gibt es in Deutschland Nachholbedarf. In Ländern wie England und Kanada wurden schon vor etwa 20 Jahren Professuren für Tierschutz eingerichtet.

Welche Rolle spielte und spielt die Verhaltensforschung für den Tierschutz?

Norbert Sachser: Der Raum, der heute mein Büro ist und in dem wir gerade sitzen, gehörte vor 60 Jahren zur Arbeitsgruppe von Bernhard Rensch. Er war damals Direktor des Zoologischen Instituts der WWU und machte sich Gedanken über die Kognition der Tiere. Aber er war einer der wenigen, die sich damit beschäftigten – die meisten Menschen interessierte das nicht. Bernhard Rensch fragte sich: Kann ein Schimpanse denken? Kann er vielleicht sogar Bilder malen? Dort drüben an der Wand hängt übrigens noch ein Bild, dass eine Schimpansin damals hier am Institut gemalt hat.

Aber erst seit den 1980er-Jahren fragen sich viele Wissenschaftler: Können Tiere denken und sich vielleicht sogar in andere hineinversetzen und danach ihr Verhalten ausrichten? Heute gehen wir davon aus, dass einige Tiere dies tatsächlich können, wie Menschenaffen und Delfine, aber auch einige Rabenvögel.

Nach der Kognitionsforschung kam das nächste Thema in Mode: "Emotionen". In den Anfangszeiten der Verhaltensforschung wurden Emotionen bei Tieren ausgeklammert. Es herrschte die Meinung vor, diesen Aspekt könne man wissenschaftlich nicht ergründen. Daran wurde lange nicht gerüttelt – erst seit zehn, fünfzehn Jahren wird nach Wegen gesucht, wie man über die Emotionen der Tiere wissenschaftliche Aussagen treffen kann. Dadurch, dass man sich mit Kognition und Emotion bei Tieren auseinandersetzt, schafft man die Grundlage dafür, evidenzbasierte Aussagen zum Thema Tierwohl zu machen. Heute kann man sehr gut beurteilen, was tiergerecht ist und was nicht.

In der Abteilung für Verhaltensbiologie an der WWU sind wir sehr breit aufgestellt. Unser Forschungsspektrum reicht von Sozialsystemen bei Säugetieren über die hormonelle Steuerung des Verhaltens und die Rolle der Gene bis hin zur Frage, wie sich das Verhalten im Laufe des Lebens entwickelt. In den letzten 25 Jahren haben wir mit rund 20 verschiedenen Tierarten gearbeitet. Man braucht diesen breiten Hintergrund aus unserer Sicht, um kompetent Konzepte dazu entwickeln zu können, was tiergerecht heißt. Viele meiner ehemaligen Doktorandinnen und Doktoranden arbeiten mittlerweile erfolgreich auf dem Gebiet des Tierschutzes.

Frau Richter, Sie haben auch die biomedizinische Forschung an Tieren kennengelernt …

Helene Richter: Ja, nach meiner Promotion habe ich drei Jahre lang in der vergleichenden psychiatrischen Forschung gearbeitet. Diese Erfahrung war für mich sehr hilfreich, um mich dem Thema Tierversuch von verschiedenen Seiten nähern zu können. So habe ich zum Wohlergehen von Versuchstieren geforscht und habe mitbekommen, wie gute biomedizinische Forschung funktioniert.

Sie zweifeln Dogmen der gängigen Laborpraxis an. Sie  haben beispielsweise mit Ihrer Doktorarbeit an einem Gebot der tierexperimentellen Forschung gerüttelt: an der Standardisierung der Versuchsbedingungen und der Versuchstiere. Die Standardisierung soll eigentlich dafür sorgen, dass Ergebnisse reproduzierbar sind. Schaut man in die wissenschaftliche Literatur, stellt man jedoch fest, dass viele Ergebnisse trotz der standardisierten Versuchsansätze nicht reproduziert werden können. Wie reagieren Wissenschaftler auf kritische Nachfragen und alternative Vorschläge?

Helene Richter: Die Reaktionen heute und während meiner Doktorarbeit sind sehr unterschiedlich. Damals war das Feedback eher emotional und ablehnend. Heute habe ich das Gefühl, dass sich die Reaktionen ins Positive verschoben haben. Mittlerweile sind sich alle einig, dass das Problem der eingeschränkten Reproduzierbarkeit besteht, dass also Ergebnisse trotz möglichst gleichen Versuchsbedingungen oft nicht wiederholt werden können. Das ist inzwischen in der Literatur gut dokumentiert und wird in vielen wichtigen Fachzeitschriften diskutiert. Die Wissenschaftler sind sich einig, dass sich etwas ändern muss. Es geht darum, Lösungsansätze zu finden. Momentan favorisieren wir eine größere, aber kontrollierte Heterogenität der Versuchstiere und der Haltungsbedingungen. Es muss aber noch gezeigt werden, dass dieser Ansatz in der Praxis tatsächlich zum Ziel führt.

Sie sind eine gefragte junge Wissenschaftlerin, die sicherlich an vielen Hochschulen und Forschungseinrichtungen willkommen ist. Was hat Sie dazu bewogen, sich für die WWU zu entscheiden?

Helene Richter: Es könnte für mich keinen besseren Standort geben. Ich habe hier die Anbindung an die Biologie und speziell an die Verhaltensbiologie. Das ist für mich sehr wichtig, denn das Thema Tierschutz ist sonst häufig in der Tiermedizin verortet. Darüber hinaus habe ich die Anbindung an den Sonderforschungsbereich 58 "Furcht, Angst, Angsterkrankungen"  und an das Graduiertenkolleg "Evolutionäre Prozesse in Adaptation und Krankheit". Diese Netzwerke, in die ich eingebunden bin, schaffen eine hervorragende Grundlage, um mit meiner Arbeit zu starten ...

Norbert Sachser: … Helene Richter wird in eine gut aufgestellte Verhaltensbiologie integriert und hat gleichzeitig eine starke Verbindung in den biomedizinischen Bereich hinein – aber auch in die Geisteswissenschaften. Zum Beispiel gibt es in dem genannten Graduiertenkolleg Kooperationen mit Philosophen, die sich auf Bioethik spezialisiert haben. Wenn man das Thema Tierschutz bearbeitet, ist es wichtig, dass dieses interdisziplinäre Umfeld da ist. Es gibt neben Münster nicht viele derartige Standorte in Deutschland.

Es ist sehr erschöpfend und frustrierend, wenn man alle Probleme im Tierschutz auf einmal in den Blick nimmt."
Helene Richter

Stichwort Studium: Wie sieht es mit dem Lehrangebot zum Thema Tierschutz aus?

Norbert Sachser: Es gibt bereits seit etwa zehn Jahren eine Vorlesung zum Thema "Ethologie und Tierschutz", und es gibt auch ein Studien-Modul "Ethologie und Tierschutz" im Bachelor-Studium. Das Angebot wird nun wesentlich verstärkt werden. Helene Richter und ihre künftigen Mitarbeiter werden in dem Bereich Tierwohl forschen und sich auch in der Lehre engagieren. Außerdem werden Abschlussarbeiten in diesem Bereich stattfinden, und wir wollen unter Federführung von Helene Richter neue Module im Masterstudium etablieren.

Kommen wir noch einmal zur Bedeutung des Themas Tierschutz zurück. Einerseits haben wir die Versuchstiere in der Forschung – knapp 2,8 Millionen waren es nach offiziellen Angaben in 2015, der größte Teil davon Mäuse. Aber schauen wir auch über den Tellerrand der Wissenschaft hinaus: 2016 wurden in Deutschland zum Beispiel mehr als 59 Millionen Schweine geschlachtet und über 1,5 Millionen Tonnen Geflügelfleisch produziert. Und laut Schätzungen gibt es 30 Millionen Haustiere in Deutschland – Sie bezweifeln, dass die alle tiergerecht gehalten werden, Frau Richter. Ist Ihre Arbeit nicht eine Sisyphusaufgabe?

Helene Richter: Vielleicht, aber ich denke an die Figur Beppo Straßenkehrer aus Michael Endes Roman "Momo". Er sagt: Man darf nie an die ganze Straße denken, die vor einem liegt, sondern nur an den nächsten Schritt. Es ist wichtig, jeden einzelnen kleinen Teilerfolg zu betrachten. Es ist sehr erschöpfend und frustrierend, wenn man alle Probleme im Tierschutz auf einmal in den Blick nimmt.

Norbert Sachser: Manchmal muss man auch in langen Zeiträumen denken. Heute weiß jedes Kind, dass man Meerschweinchen nicht alleine halten soll. Das hat viel damit zu tun, dass wir vor 25 Jahren Grundlagenforschung über die soziale Organisation von Hausmeerschweinchen betrieben haben. Damals haben wir gar nicht daran gedacht, durch unsere Forschung irgendwann die Tierhaltung zu verbessern, es hat sich daraus ergeben.

Ich erinnere mich auch daran, dass vor etwa 25 Jahren ein Professor für Versuchstierkunde bei Konferenzen für seine Idee ausgelacht wurde, Mäusekäfige stärker zu strukturieren. Mittlerweile ist dies sogar in Verordnungen verankert, sodass keine Labormaus mehr allein in einem unstrukturierten Käfig gehalten werden darf.

Wichtig ist, dass wir gute Wissenschaft machen und dass unsere wissenschaftlichen Aussagen in den Bereichen Tierschutz und Wohlergehen fundiert und reproduzierbar sind. Dann verändern sich viele Dinge – langsam, aber sie verändern sich.

 

Dieses Interview erschien in gekürzter Fassung in der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 2, 26. April 2017.

 

Zum Hintergrund:

Die Professur für Verhaltensbiologie und Tierschutz wird für fünf Jahre vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen finanziert und wurde mit Unterstützung des Rektorats an der WWU eingerichtet. Sie ist NRW-weit die einzige Professur für Tierschutz und gehört zum Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie am Fachbereich Biologie an der WWU.

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