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Münster (web)
Von Syrien nach Deutschland: Najeeb Shammaa, Ranim Alaannan und Ilias Said (von links) berichteten über ihre Flucht, ihre Ankunft in Deutschland und ihre Wünsche für die berufliche Zukunft.<address>© WWU/Friederike Stecklum</address>
Von Syrien nach Deutschland: Najeeb Shammaa, Ranim Alaannan und Ilias Said (von links) berichteten über ihre Flucht, ihre Ankunft in Deutschland und ihre Wünsche für die berufliche Zukunft.
© WWU/Friederike Stecklum

„Sprachkurse sind genau die richtige Hilfe“

Drei junge Erwachsene aus Syrien im Gespräch

Die WWU engagiert sich auf vielfältige Weise für Flüchtlinge. Beispielsweise vergibt sie Stipendien für Sprachkurse am Sprachenzentrum. Davon haben auch Ilias Siad, Ranim Alaannan und Najeeb Shammaa aus Syrien profitiert. Norbert Robers sprach mit ihnen über die Motive für ihre Flucht und ihr Studium in Deutschland.

Herr Said, Sie haben Syrien bereits 2010 verlassen. Warum?

Ilias Said: Ich liebe mein Land und meine Heimat. Aber ich konnte mir schon damals nicht vorstellen, die arabische Mentalität, die eben auch mit Korruption und Bürokratie verbunden ist, ein Leben lang erleben zu müssen. Mit 15 Jahren stand daher mein Entschluss fest: Nach der Schule gehe ich ins Ausland, nach Kanada, Frankreich oder Deutschland beispielsweise.

Wie hat Ihre Familie auf diesen Plan reagiert?

Said: Das war eine schwierige Phase. Meine Eltern fanden meine Entscheidung nicht richtig, zumal das Leben damals in Syrien normal verlief. Aber ich bleibe dabei: Obwohl ich meine Familie vermisse, war es der richtige Weg.

War es auch für Sie, Frau Alaannan, die genau richtige Entscheidung – nur unter anderen Vorzeichen?

Ranim Alaannan: Ich wollte mein Medizin-Studium in Aleppo abschließen und mich danach in einem anderen Land spezialisieren. Aber irgendwann ließ es der Krieg nicht mehr zu. Es wurde wegen der vielen Bombenangriffe zu gefährlich, manche Straßen waren gesperrt, die Bomben fielen auch direkt neben der Universität. Es war nicht einfach, vier Semester einfach hinter mir zu lassen, die Heimat, die Familie und alle Freunde zu verlassen. Aber ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Gleichzeitig wusste ich um die gute Studienqualität in Deutschland. Das hat mich ermutigt, mein Land zu verlassen.

Sie, Herr Shammaa, haben Syrien auch während des Krieges verlassen. Aus ähnlichen Gründen wie Frau Alaannan?

Najeeb Shammaa: Das stimmt. Ich habe 2014 mein Abitur gemacht und mich danach gefragt, vor welcher Zukunft ich in diesem Kriegsland stehe. Unser Haus steht in einem sehr gefährlichen Viertel von Aleppo.

Sind Sie aus Syrien einfach ausgereist oder geflüchtet?

Shammaa: Ich bin von Aleppo mit einem Bus nach Tartus gefahren, einer syrischen Stadt am Mittelmeer. Von dort aus ging es weiter in den Libanon und von dort aus mit dem Schiff in die Türkei. Bis dahin verlief alles weitgehend normal und legal. Erst danach wurde es gefährlich.

Warum?

Shammaa: Aus verschiedenen Gründen. Ich musste zu einem bestimmten Küstenabschnitt in der Nähe von Izmir, von wo aus es mit einem kleinen Boot zu einer griechischen Insel weiterging. Ich hatte sehr viel Angst, denn ich kann nicht schwimmen. Danach ging es zunächst zu Fuß weiter. In einem Fall bin ich fast 65 Kilometer am Stück gelaufen – das war schrecklich. Mit Bussen und oft zu Fuß kam ich bis nach Deutschland, wo ich nach insgesamt 15 Tagen ankam.

Mussten Sie auch mit Schleppern kooperieren?

Shammaa: Natürlich, sonst wäre es noch schwieriger geworden. Das hat meine Familie auch viel Geld gekostet.

Wie viel Gepäck hatten Sie dabei?

Shammaa: Nur einen Rucksack, aber den haben den Schlepper schnell ins Meer geworfen, damit sie mehr Menschen in die Boote bekommen.

Und damit waren auch Ihre Papiere weg?

Shammaa: Nein, die hatte ich einem Freund anvertraut, der sie mir nach meiner Ankunft in Deutschland zugeschickt hat.

Kommt Ihnen diese Art der Flucht bekannt vor, Frau Alaannan?

Alaannan: Ja, das erinnert mich sehr an meine eigene Flucht, die insgesamt elf Tage gedauert hat. Ich bin im September 2015 mit meiner Familie in einem Bus in den Libanon gefahren und von dort aus nach Istanbul geflogen. Wir haben uns schnell mit Helfern von Schleppern getroffen, die uns beispielsweise empfohlen haben, Rettungsringe zu kaufen. Zwei Tage nach unserer Ankunft sind wir zu einem verabredeten Punkt an der Küste gefahren, wo sich viele Flüchtlinge versammelt hatten.

Wie viele waren es?

Alaannan: Es gab fünf Gruppen, wir mussten einen ganzen Tag warten, bis wir dran waren. Unsere Gruppe bestand aus 57 Personen. Der Schmuggler hatte uns aber belogen: Das Boot erwies sich als viel kleiner als er es zuvor beschrieben hatte. Als wir das sahen, wollten wir nicht mehr mitfahren. Aber die Schlepper haben uns mit Waffen bedroht und uns gezwungen einzusteigen. Die Bootsfahrt dauerte zwar nur eine Stunde, aber es kam uns allen vor wie zehn Stunden.

Shammaa: Die Schlepper überlassen die Flüchtlinge sich selbst in den Booten. Damit wollen sie verhindern, selbst gefasst zu werden, falls die Polizei uns abfängt. Einer der Flüchtlinge steuert das Boot, nachdem die Schlepper ihm vorher gesagt haben, in welche Richtung er fahren muss. Außerdem schwappte ständig Wasser ins Boot, das wir mit einer Tüte wieder rausgeschöpft haben.

Alaannan: So war es bei uns auch. Die Frauen saßen in der Bootsmitte, der Männer auf den Rändern. Es hat stark geschaukelt, viele von uns hatten große Angst. Man konnte unsere griechische Zielinsel zwar von der türkischen Küste aus sehen. Aber sie kam während der Fahrt nur sehr, sehr langsam näher. Ich hatte Todesangst, was mich sehr überrascht hat. Denn ich war davon überzeugt, dass ich mir mittlerweile das Gefühl der Angst abgewöhnt hatte, denn die Todesgefahr gehörte in den Jahren zuvor in Syrien zum Alltag.

Fühlten Sie sich in Griechenland bereits in Sicherheit?

Alaannan: Im Vergleich mit Syrien ja. Zumal es von dort aus vergleichsweise einfach wurde. Ab Griechenland ist nahezu alles geregelt, der weitere Weg ist gut organisiert ...

Shammaa: ... aber nur bis Ungarn, dort war zunächst Endstation. Ich hatte das große Glück, dass ich in letzter Minute noch ins Land kam. Ein Taxifahrer hat mehrere von uns nach Budapest mitgenommen, von dort aus ging es mit dem Zug bis nach Wien.

Gab es immer eine Schlafgelegenheit?

Alaannan: Mal sind wir in Flüchtlingsunterkünften untergekommen, mal bei Freiwilligen. Das war natürlich nicht unbedingt ideal, aber es hat irgendwie immer funktioniert.

In diesem Zusammenhang ist immer wieder die Rede von der sogenannten Balkan-Route. Beschreiben Sie uns doch mal diese Route.

Alaannan: Es ist keine Route im Sinne einer durchgehenden Straße. Es ist vielmehr eine Abfolge von verschiedenen Verkehrsmitteln. Das ist mittlerweile alles gut geregelt. In unserem Fall stockte es nur in Serbien, weil man bei der Ausreise an der Grenze ein bestimmtes Papier sehen wollte. Weil wir das nicht hatten, haben wir uns erneut an einen Schlepper gewandt.

Shammaa: Die meisten Menschen, die sich auf dieser Route bewegen, sind illegal im Land. Deswegen gibt es natürlich kein Reisebüro für die Balkan-Route. Aber es gibt entlang dieser Strecke immer viele Menschen, die wissen, wie es weitergeht oder an wen man sich im Zweifelsfall wenden muss.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Schlepper: Sind es für Sie Helfer oder Kriminelle?

Alaannan: Ich hasse diese Menschen, aber ich weiß auch, dass ich es ohne sie nicht geschafft hätte. Ich empfand die türkischen Schlepper als die gefährlichsten. Viele von ihnen nahmen Drogen, und ich war mir sicher, dass sie alle für Geld töten würden.

Said: Ich war glücklicherweise nie in dieser gefährlichen Lage. Aber ich kann einer Person, die den möglichen Tod von 57 Menschen billigend in Kauf nimmt, nichts abgewinnen. Dafür habt Ihr beide jetzt aber einen anderen Vorteil: Eure Integration beispielsweise über die Sprachkurse geht viel schneller voran. Als ich seinerzeit in Deutschland ankam, war mir schnell klar: Ich muss hier alleine klarkommen. Die Menschen waren damals verschlossener.

Haben Sie regelmäßig Kontakt nach Syrien?

Said: Ja, meine Eltern leben noch in meiner Heimatstadt. Sie haben das große Glück, dass dort derzeit kein Krieg herrscht. Aber die nächste IS-Stellung liegt nur 60 Kilometer entfernt, und überhaupt gibt es vor allem im Norden Syriens viele auch ausländische Kämpfer. Die aktuelle Ruhe ist trügerisch, zumal die meisten Menschen in unserer Stadt Christen sind.

Alaannan: Vor dem IS haben wir alle Angst, auch wir Muslime. Sie schlagen Frauen, weil sie sich nicht richtig verhüllen, weil sie studieren, oder weil sie einzelne Koranverse nicht richtig zitieren. Sie zögern auch nicht, jemanden, der ihnen nicht passt, zu exekutieren.

Leben Ihre Familien in Aleppo jeden Tag in Todesangst?

Alaannan: Ich habe nahezu jeden Tag Kontakt zu meiner besten Freundin in Aleppo. Per WhatsApp, die Internet-Verbindungen sind nicht zuverlässig und zu langsam. Vor einigen Monaten gab es noch fünf oder sechs Stadtviertel, die vergleichsweise sicher waren. Mittlerweile gilt das aber auch nicht mehr, die Bomben fallen überall.

Shammaa: Das ist auch in dem Viertel so, in dem meine Familie wohnt. Das Problem ist unter anderem, dass fast alle Menschen aus den damals gefährlichen Vierteln in die vermeintlich sicheren Viertel umgezogen sind, in denen es jetzt genauso gefährlich ist.

Alaannan: Erstaunlicherweise geht das Leben dort immer noch weiter. Viele Menschen gehen auch in Aleppo jeden Tag zur Arbeit oder zur Universität. Aber man weiß nie, ob man abends sicher zu seinem Haus zurückkommt oder nicht.

Shammaa: Als ich mein Abitur gemacht habe, gab es beispielsweise keine Elektrizität – also habe ich bei Kerzenschein gelernt und geschrieben.

Sie kennen die Lage in Ihrem Land sehr genau. Gibt es für Sie einen eindeutig Schuldigen an der aktuellen Lage?

Alaannan: Nein, es gibt mehrere Schuldige. Ich bin gegen Präsident Assad, aber auch gegen die Rebellen. An dem syrischen Konflikt nehmen mittlerweile so viele Parteien teil, dass man auch nicht mehr von einem ,syrischen Konflikt‘ sprechen kann. Mich stört, dass die Berichte in den deutschen Medien häufig suggerieren, dass die Truppen von Staatschef Assad allein für die Angriffe oder Zerstörungen verantwortlich sind und die Rebellen sich nur wehren.

Said: Ich bin sogar davon überzeugt, dass die deutsche Regierung nicht zugeben will, dass auch die Rebellen Verbrechen begehen, weil sie vor allem ein Interesse daran hat, dass Assad abtritt. Diese Einstellung überträgt sich auf die deutschen Medien in Form einer mehr oder weniger einseitigen Berichterstattung.

Alaannan: Eine objektive Berichterstattung ist meiner Meinung nach ohnehin nur möglich, wenn man längere Zeit vor Ort recherchiert. Und dann würde man sehr merken, dass der Krieg nicht nach dem Schwarz-Weiß-Schema „Assad = schlecht / Rebellen = gut“ verläuft.

Planen Sie langfristig eine Rückkehr in Ihre Heimat?

Said: Definitiv nicht. Aber das stand für mich auch schon lange vor dem Krieg fest. Das heißt aber nicht, dass ich lebenslang in Deutschland bleiben werde.

Alaannan: Ich möchte vor allem eine gute Ärztin werden – ich träume auch davon, eine eigene Klinik oder ein Krankenhaus in Syrien zu gründen. Am liebsten hätte ich langfristig eine Wohnung in Deutschland und in Syrien.

Shammaa: Ich möchte hier mein Studium abschließen und danach zurückgehen. Auch weil ich das Miteinander in meiner Heimat als intensiver empfunden habe. Ich habe hier viele Bekannte und gute Freunde gefunden, aber dieser Aspekt gefiel mir in Syrien noch besser.

Said: Das glaubst Du jetzt. Aber warte mal noch zwei oder drei Jahre ab – dann wird Dir möglicherweise kein Unterschied mehr auffallen. Das Einzige, was auch mir hier manchmal fehlt, ist Spontaneität. Oft müssen erstmal alle ihre Terminkalender checken, bevor man sich verabredet oder eine Feier startet.

Sie kennen die Universität Münster nicht wirklich – aber wie ist Ihr erster Eindruck?

Alaannan: Ausgezeichnet. Trotz der Größe scheint alles gut geregelt zu sein. Und die wenigen Mitarbeiter, die ich bislang kennengelernt habe, waren alle sehr hilfsbereit. Schließlich wissen wir alle auch sehr zu schätzen, dass die Universität Sprachkurs-Stipendien vergibt – das ist genau die richtige Hilfe.

Shammaa: Auch ich fühle mich sehr wohl, die Stadt ist großartig.

Alaannan: Aber auch in der viel kleineren Stadt Billerbeck, in der ich lebe, fühle ich mich willkommen.

Sie, Herr Said, kennen Münster schon länger. Haben Sie eine Veränderung in der Bevölkerung mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen bemerkt?

Said: Definitiv, das Interesse ist stärker geworden, und viele Menschen wissen gut Bescheid über die dortigen Verhältnisse. Wenn ich 2010 jemandem sagte, dass ich aus Syrien komme, hieß es meistens: Interessant – wo liegt das denn? Das passiert heute nicht mehr.

Sondern?

Said: Heute reagieren viele mit einer Mischung aus Schock, Interesse und Mitleid.

Alaannan: Ich empfinde die Reaktionen meistens als sympathisch. Dier Menschen fühlen mit, sie wollen helfen. Auf der anderen Seite sehen viele von ihnen oft nur einen Teil von mir, den Teil als Flüchtling. Sie wollen aber gar nicht erst wissen, warum ich Medizin studiere, wofür ich mich interessiere, welche Hobbys ich habe. Das finde ich schade.

Was empfinden Sie in Münster oder Deutschland als besonders typisch oder charakteristisch – oder als überraschend?

Alaannan: Neugier, Kartoffeln.

Shammaa: Studenten, Fahrräder. Und überraschend viele internationale Studenten – das gefällt mir sehr.

 

Zu den Personen

Ilias Said (25) lebt bereits seit sieben Jahren in Deutschland. Er stammt aus der syrischen Stadt Wadi Alnasara, die 30 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt liegt. Er macht gerade seinen Master in Biomedizintechnik an der Fachhochschule Münster.

Ranim Alaannan (20) stammt aus Aleppo. Dort hat sie zwei Jahre lang Medizin studiert, bevor sie am23. September 2015 nach Deutschland geflüchtet ist, wo sie am 11. Oktober ankam. Von Februar bis Juni nahm sie mit einem Stipendium an einem Sprachkurs des Sprachenzentrums der Universität Münster teil, zum Wintersemester 2016/17 wird sie ihr Medizin-Studium in Tübingen fortsetzen.

Najeeb Shammaa (20) stammt ebenfalls aus Aleppo. Er würde ebenfalls gerne Medizin studieren. Er ist seit dem 15. August 2015 in Deutschland und hat mittlerweile einen Sprachkurs am Sprachenzentrum der Universität absolviert.

Norbert Robers

 

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 6, 12. Oktober 2016.

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