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Münster (upm/anb).
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Anatomiekurses nutzen zum Wissenserwerb echte und Modellgehirne.<address>© Uni MS - Peter Leßmann</address>
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Anatomiekurses nutzen zum Wissenserwerb echte und Modellgehirne.
© Uni MS - Peter Leßmann

Ein Kurs zur Orientierung im Superorgan

Masterstudierende der kognitiven Neurowissenschaften lernen an Gehirnen von Körperspendern – eine Reportage

Das menschliche Gehirn ist das wohl komplexeste aller Organe in der Natur. Seit Jahrtausenden versucht der Mensch, ebendieses Organ zu verstehen – und das mit seinem eigenen Gehirn. In der Tradition dieser selbstreflexiven Arbeit stehen die 21 Studierenden des interdisziplinären Masterstudiengangs Kognitive Neurowissenschaften (iKoN), die an diesem Donnerstagnachmittag im Präpariersaal des Instituts für Anatomie der Medizinischen Fakultät zusammenkommen, um sich mit der Anatomie des menschlichen Gehirns zu beschäftigen. „Etwa 50 Prozent der Inhalte ähneln denen unserer Lehrveranstaltungen für Medizinstudierende. Die übrigen 50 Prozent sind den spezifischen Bedürfnissen der angehenden Neurowissenschaftler angepasst, um beispielsweise Struktur und Funktion des Gehirns hinsichtlich der Generierung und Prozessierung von Sprache oder anderer kognitiver Leistungen zu vermitteln“, erklären Kursleiter Dr. Nils Otto und Dr. Johannes Brockhaus.

Die Masterstudierenden bilden an diesem Kurstag Gruppen, sodass sie stationsweise etwas über verschiedene Bereiche des Gehirns und ihre Funktionen wiederholen können. Drei Gruppen stellen sich jeweils um einen Seziertisch, an denen ihnen die Dozenten bei der Bearbeitung von Aufgaben zur Seite stehen, während eine Gruppe besondere Exponate in der anatomischen Sammlung des Instituts am Vesaliusweg ergründet.

Die Gehirne, die von den Mitarbeitern der Prosektur einigen Körperspendern des Instituts vor Beginn des Kurses entnommen und vorbereitet wurden, liegen vor Austrocknung geschützt in mit Wasser befüllten Behältern oder als Schnitte in Plastikhüllen auf den Tischen. Für die Studierenden ist die Arbeit mit den Gehirnen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr neu. Bereits das gesamte Semester widmen sie sich dem Organ im Neuroanatomiekurs und einem dazugehörigen Seminar. Die Studierenden haben die Gehirne während des Moduls weitgehend selbst präpariert, was bedeutet, dass sie diese systematisch zergliedert beziehungsweise geschnitten haben. Dadurch werden nach und nach auch im Inneren des Organs liegende Gehirnstrukturen offengelegt, die für kognitive Funktionen wichtig sind.

Die Dozenten stehen an ihren Tischen, die Präparate vor sich, eine Pinzette zum Zeigen in der Hand. Sie deuten auf Regionen und Strukturen der Präparate und stellen immer wieder die Frage: „Was sehen wir hier, und für welche Funktion ist das wichtig?“ Die Studierenden rufen ihr Wissen ab: Amygdala, limbisches System, Ventrikel, Kommissuren und unzählige andere Begriffe sind zu hören. „Ein verpflichtender Präparierkurs für Studierende aus einem anderen Fach als der Medizin ist unseres Wissens einzigartig in Deutschland und ermöglicht es ihnen, sich in einer großen Intensität mit echten menschlichen Gehirnen zu beschäftigen“, erklärt Prof. Dr. Ricarda Schubotz, Leiterin der Arbeitseinheit Biologische Psychologie und Mitinitiatorin des iKoN-Studienganges.

Die Gehirne, mit denen die Studierenden arbeiten, haben einst Eindrücke verarbeitet, Gedanken hervorgebracht, Bewegungen gesteuert, Träume geträumt. Jetzt ermöglichen sie es, den Nachwuchswissenschaftlern eine Geschichte von Form und Funktion des Superorgans zu vermitteln. „Wichtig für uns ist, dass die Studierenden lernen, sich gut im komplexen dreidimensionalen Raum des Gehirns zu orientieren und zu verstehen beginnen, wo bestimmte kognitive Funktionen im Gehirn verarbeitet werden“, betont Institutsdirektor Prof. Dr. Markus Missler, der dieses Modul des Studiengangs auf Seiten der Medizinischen Fakultät verantwortet.

Der 25-jährige Raphael Küppers betont, dass er anfangs ein komisches Gefühl gehabt habe, mit echten Gehirnen zu arbeiten, da sie vormals Teil eines lebendigen Menschen waren. „Aber man gewöhnt sich daran“, erklärt er. „Der Kurs hilft mir bei der Orientierung im Gehirn. Gleichzeitig lernen wir auch, dass es merkbare Unterschiede zwischen den individuellen Gehirnen gibt.“ Michelle Kuhn, die wie Raphael Küppers im Bachelor Psychologie studiert hat, ist dankbar dafür, dass sie und ihre Kommilitonen mit den Gehirnen arbeiten dürfen. „Der Kurs bietet die Möglichkeit, die Theorie an einem echten Organ anzuschauen und so die Strukturen zu erlernen.“ Sie sei fasziniert von der Komplexität des Gehirns und den vielen offenen Fragen, die es aufwirft. Darum sei sie froh über die gute Anleitung. „Wir haben hervorragende Dozenten, die uns Stück für Stück an die Anatomie des Gehirns heranführen.“

Wer Johannes Brockhaus, Nils Otto und den Studierenden im Kurs zuhört, der erahnt, aus welcher Fülle von Bestandteilen das menschliche Gehirn besteht und wie schwierig seine Leistungen zu verstehen sind. An einem Tisch werden Horizontalschnitte demonstriert, dann geht es um den Thalamus als ein Bewusstseinszentrum sowie den Hirnstamm und das Kleinhirn. An einem anderen Tisch arbeitet die Kleingruppe mit Präparaten des Temporallappens, in dem unter anderem der Hippocampus liegt, und diskutiert seine Rolle für Langzeiterinnerungen. Am Nachbartisch wiederum werden Hirnnerven besprochen, die etwa für die Sensorik von Augen, Ohren oder Zunge zuständig sind, danach wird die Blutversorgung des Gehirns durch ein verwirrendes Geflecht von Arterien thematisiert. Für den Laien ist es ein wahres Wunder, dass sich die Studierenden schon derart sicher durch die komplexen Strukturen bewegen, sieht doch für das ungeübte Auge der Großteil des Gewebes unterschiedslos gleich aus. Ricarda Schubotz wünscht sich, dass der Präparierkurs die Studierenden langfristig motiviert. „Wir hoffen, dass die intensive Beschäftigung mit dem Organ dabei hilft, dass sich die Studierenden dauerhaft mit neurowissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen wollen – bestenfalls in der Forschung.“

Autor: André Bednarz

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 4. April 2024.

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