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Münster (upm).
Prof. Dr. Norbert Köster schaut sich ein Kreuz aus dem Altarraum ganz genau an, auf dem der Name des römischen Sonnengotts (Sol Invictus) eingraviert ist. Weil diese Inschrift selten vorkommt, geben solche Beobachtungen wichtige Hinweise für die wahrscheinliche Entstehungszeit des Kunstwerks.© Uni MS - Meike Reiners
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Reportage: Detektive der Kirchenkunst

Projektgruppe aus Münster erfasst Skulpturen, liturgische Ausstattung und Malereien in den Gemeinden des Bistums

Ein Wintermorgen im Münsterland. Der Atem kondensiert, auf den Dächern im Ortskern Appelhülsen hat sich ein Rest Schnee gehalten. Mehrere Häuser säumen den Platz, darunter eine Arztpraxis, der Kindergarten und die Bücherei. Im Mittelpunkt steht die Kirche St. Mariä-Himmelfahrt, aus Sandstein und hell verputzt. Die Geschichte der Gemeinde reicht weit zurück, seit über 1.000 Jahren ist hier ein Gotteshaus urkundlich belegt. Die Kirche ist aber jünger. Sie ersetzte im frühen 19. Jahrhundert einen Vorgängerbau, der einem Brand zum Opfer gefallen war.

Die schwere Holztür am Eingang steht halb offen. Küsterin Maria Jaroszewski begrüßt heute ein Team der Arbeitsstelle für Christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik (ACHRIBI) von der Universität Münster. Grund für den Besuch ist ein neues Forschungsprojekt: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstellen ein Inventar der Kirchenkunst im nordrhein-westfälischen Teil des Bistums Münster. Dazu zählen Skulpturen, Gemälde, Altäre, Glas- und Wandmalereien, liturgische Ausstattung wie Goldschmiedearbeiten, Kreuzwege, Mobiliar und Paramente, also im Kirchenraum und in der Liturgie verwendeten Textilien.

Fotografieren, beschreiben und mit Zollstock oder Maßband ausmessen – das sind zunächst die wichtigsten Arbeitsschritte. Für das Team ist es der vierte Tag in dieser Gemeinde. „Wir sind bei der Planung von vier bis fünf Objekten ausgegangen, die wir noch nicht erfasst haben“, erläutert Carolin Hemsing, wissenschaftliche Mitarbeiterin der ACHRIBI. Doch der Paramentenschrank in der Sakristei birgt eine Überraschung. Große, gut erhaltene Vereinsfahnen kommen in den Schubladen zum Vorschein, auf Papier gebettet. Kunsthistorikerin Claudia Hüffer und Projektleiterin Carolin Hemsing heben sie sorgfältig heraus und fotografieren die Vorder- und Rückseite der etwa anderthalb mal einen Meter großen, schweren Stoffbahnen. „Die Fahnen erzählen aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts“, unterstreicht Prof. Dr. Norbert Köster, der die ACHRIBI leitet.

Eine leuchtend gelbe Fahne zeigt Symbole der katholischen Arbeiterbewegung, eine andere, reich bestickt mit einer Mariendarstellung, gehörte zur Marianischen Jungfrauenkongregation. Der Kirchenhistoriker sieht die Stoffbahnen als Belege für das historische Vereinsleben des Ortes. „Hier muss es zudem eine traditionelle Marienwallfahrt gegeben haben“, sagt Norbert Köster und zeigt auf einen sogenannten Votivschrank. Darin werden Amulette aufbewahrt, die Gläubige beispielsweise als Dank für die Heilung von einer Krankheit stifteten. „Als ich den gesehen habe, bin ich gleich stutzig geworden und dachte, hier gibt es garantiert auch eine Marienstatue.“ Und tatsächlich ist die Gemeinde im Besitz einer barocken Gottesmutter mit dem Jesuskind, insgesamt etwa 80 Zentimeter hoch. Die Figuren sind aus Korb geflochten und können wie Puppen umgezogen werden. Die passenden Gewänder sind erhalten, sie hängen in der Sakristei auf Mini-Kleiderbügeln.

Die Recherche und was die Menschen vor Ort zusätzlich entdecken, das ist ein bisschen wie Detektivarbeit.
Carolin Hemsing

Die Kunst aus knapp 15 Kirchen hat das ACHRIBI-Team seit Dezember bereits erfasst. Zuvor galt es, die Mitarbeiter zu schulen, sowohl handwerklich als auch in Sachen Arbeitsschutz. „Keiner darf alleine in den Kirchturm hinauf“, ist eine der Regeln, wie Maximilian Berkel erläutert. Der Projektmanager plant in Abstimmung mit den Küstern der Gemeinden die Routen der fünf Mitarbeiter in der Region und am Niederrhein. Jedem Einsatz geht eine Bestandsanalyse voraus, also einige Schreibtischtage, um zu recherchieren, welche Kunstwerke vorhanden sind. Zurück in Münster, gleichen die Mitarbeiter ihre Notizen mit Bestandsdaten aus früheren Inventarisierungen, Restaurierungsberichten oder der Literatur ab. „Das alles ist pro Datensatz nötig, auch wenn dieser letztlich vielleicht nur wenige Informationen enthält.“ Die Ergebnisse des Digitalisierungsprojekts dienen später der Dokumentation und der Konservierung, auch vor dem Hintergrund von Kirchenschließungen. Ausgewählte Bestände sollen in öffentlich zugängliche Datenbanken einfließen und in virtuellen Ausstellungen gezeigt werden.

Einmal in der Woche kommt das Team, das auf dem gleichen Flur arbeitet wie die Gruppe Kunstpflege in der Abteilung Kunst und Kultur des Bischöflichen Generalvikariats, zu einer Redaktionssitzung zusammen und tauscht sich über die aktuellen Aufgaben aus. „Die Recherche und was die Menschen vor Ort zusätzlich entdecken, das ist ein bisschen wie Detektivarbeit“, findet Carolin Hemsing. Mittlerweile habe sich eine goldene Regel herausgestellt: „Immer, wenn die Begehung fast vorbei ist, taucht eine letzte Kiste, Abstellkammer oder ein letzter Schrank auf, mitunter verstaubt oder mit Spinnenweben überzogen, in dem weitere Schätze zu finden sind.“ Die Gastfreundschaft in den Kirchen sei groß. „Wir freuen uns, dass wir die Gemeinden dabei unterstützen können, auch etwas von ihrer Identität über eigene historische Schätze zu erschließen.“ Dabei gehe es weit häufiger um ideelle Werte als um materielle.

Die erwähnten Fahnen aus der Sakristei, ein hübsches altes Weihrauch-Schiffchen oder auch die Kreuzweg-Darstellungen an den Kirchenwänden: In St. Mariä-Himmelfahrt haben die „Detektive“ aus Münster viel Futter für ihre Datenbank vorgefunden. Ein einzelnes Lieblingsstück sieht Kunsthistorikerin Claudia Hüffer zwar nicht. Sie ist aber begeistert von der Fülle der Objekte. Geduldig platziert sie ein Stück nach dem anderen in ihrer Fotobox, fotografiert und trägt Messwerte in ein Datenblatt ein. Etwa 150.000 Objekte aus der Region werden bis 2028 durch die Hände der Mitarbeiter und deren Kameralinsen wandern. Die Kunstwerke bleiben, wo sie sind. Die Datensätze dazu entstehen anschließend in Münster. In Appelhülsen klappt Claudia Hüffer das Stativ zusammen und verstaut es mit der übrigen Ausrüstung. Morgen geht es weiter nach Schapdetten, in die Kirche St. Bonifatius.

Das Projekt

In Zusammenarbeit mit der Gruppe Kunstpflege des Bischöflichen Generalvikariats erschließt ein Team der Arbeitsstelle für Christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik (ACHRIBI) in einem auf sechs Jahre angelegten Drittmittel-Projekt (2023 – 2029) das materielle christliche Kulturerbe in den Kirchen und Kapellen im nordrhein-westfälischen Teil des Bistums Münster digital. Ein standardisiertes Verfahren macht die Objekte auch für die Forschung zugänglich. Eine Auswahl der Forschungsdaten wird publiziert und in virtuellen Ausstellungsformaten gezeigt.

Autorin: Brigitte Heeke

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 31. Januar 2024.

 

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