|
Münster (upm)
Auch in Münster demonstrieren Jugendliche im Rahmen der "Fridays for Future".<address>© WWU - JS</address>
Auch in Münster demonstrieren Jugendliche im Rahmen der "Fridays for Future".
© WWU - JS

"Lehrkräfte sind gut beraten, demonstrationsfreudige Schüler ernst zu nehmen"

Rechtswissenschaftler Dr. Tristan Barczak über die aktuellen "Fridays for Future"-Demonstrationen

Mehrere Tausend Jugendliche demonstrieren zurzeit jeden Freitag während der Unterrichtszeit unter dem Motto "Fridays for Future" nach dem Vorbild der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg für den Klimaschutz. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel das Engagement der Schüler lobt, kritisieren viele Beobachter die Tatsache, dass die Schüler dafür ihren Unterricht ausfallen lassen. Kathrin Nolte sprach mit Dr. Tristan Barczak, Rechtswissenschaftler im Institut für Öffentliches Recht und Politik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), über die juristischen Aspekte der Schüler-Demonstrationen.

Wie beurteilen Sie die Debatte aus juristischer Sicht?

Die Kontroverse wirft aus juristischer Sicht interessante und komplexe Rechtsfragen auf. Pauschale Antworten verbieten sich deshalb, weil – wie im Schulverhältnis generell – mehrere rechtlich geschützte Interessen miteinander in Konflikt geraten. Erstens ist der staatliche Erziehungsauftrag Teil des bundesstaatlichen Schulverfassungsrechts, zu dessen Durchsetzung die Länder eine allgemeine Schulpflicht vorsehen. Zweitens kommt den Eltern eine maßgebliche Rolle zu, denn ihnen obliegt nach dem Wortlaut des Grundgesetzes "zuvörderst" die Erziehung ihrer Töchter und Söhne. Die Erziehungsberechtigten entscheiden somit auch darüber, ob ihr minderjähriges Kind an einer Demonstration teilnimmt – wobei die elterliche Gestattung einer Teilnahme nicht von der Erfüllung der Schulpflicht entbindet. Drittens sind die Rechte des Kindes zu berücksichtigen: Starre Grenzen für die Frage, ab welchem Alter ein Kind von seiner Versammlungsfreiheit selbstständigen Gebrauch machen kann, existieren nicht. Vielmehr handelt es sich um einen gleitenden Prozess...

...ab welchem Alter würden Sie denn von einer selbstständigen Entscheidung sprechen?

Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass der Wille des Kindes ausschlaggebend ist, wenn er autonom gebildet worden ist. Dies gilt auch und gerade, wenn Kinder in zukunftsträchtigen gesellschaftspolitischen Fragen wie Klimaschutz, Globalisierung oder Digitalisierung inhaltlich zu anderen Antworten gelangen als die Generation ihrer Eltern und Lehrer. In der Schule werden diese konkurrierenden Rechtspositionen zu einem Dreiecksverhältnis verbunden, das es in jedem Einzelfall aufzulösen gilt.

Wiegt die Versammlungsfreiheit, die im Grundgesetz festgeschrieben ist, mehr als die Schulpflicht?

Wie gesagt, es verbieten sich schematische Lösungen. Aus diesem Grund kann die Haltung der Kultusministerkonferenz von 1973, wonach die Teilnahme an Demonstrationen nicht das Fernbleiben vom Unterricht rechtfertige und das Demonstrationsrecht in der unterrichtsfreien Zeit auszuüben sei, in dieser Pauschalität nicht mehr überzeugen. Vielmehr sind die kollidierenden Interessen – Schulpflicht, Elternrecht, Versammlungsfreiheit der Schüler – abzuwägen und jeweils bestmöglich zur Geltung zu bringen. Richtig ist, dass der Schulpflicht insoweit der Vorrang gebührt, als sich das mit der Demonstration verfolgte Anliegen ebenso gut und nachhaltig außerhalb der Unterrichtszeit verfolgen lässt. Umgekehrt kommt ein Vorrang der Demonstrationsfreiheit gegenüber der Schulpflicht in Betracht, wenn es sich um eine unaufschiebbare Spontanversammlung (zum Beispiel gegen eine unmittelbar bevorstehende Abschiebung) handelt.

Nur dass weder das eine noch das andere vorliegend der Fall ist...

Das stimmt. Zwar wird eine Demonstration während der Unterrichtszeit stets größere Aufmerksamkeit erfahren. Dann wäre die Erfüllung der Schulpflicht jedoch zur Disposition ihrer demonstrationsfreudigen Adressaten gestellt. Mit Blick auf die "Fridays for Future" ist zu berücksichtigen, dass sowohl das Demonstrationsanliegen als auch der staatliche Erziehungsauftrag, der die Jugend für das Leben als Erwachsener befähigen und ihr Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, die Natur und die Umwelt fördern soll, einen Zukunftsbezug besitzen.

Dr. Tristan Barczak<address>© privat</address>
Dr. Tristan Barczak
© privat
Wie meinen Sie das konkret?

Das Argument ,Wir können nicht für die Zukunft lernen, wenn wir keine haben' gewinnt hier juristische Relevanz. Es führt jedoch nicht dazu, dass die Schulpflicht gegenüber der Versammlungsfreiheit prinzipiell zurückstehen muss, sondern es ist im Einzelfall eine Entscheidung über die Befreiung vom Unterricht zu treffen. Eine Befreiung, die grundsätzlich von den Eltern zu beantragen ist, ausnahmsweise aber auch von den Schülern eingeholt werden kann, setzt nach dem Schulrecht der Bundesländer ,wichtige' oder gar ,zwingende Gründe' voraus. Dabei handelt es sich allerdings um unbestimmte Rechtsbegriffe. Im Rahmen dieser Entscheidung können etwa die Dauer beziehungsweise Häufigkeit der Demonstrationen, die Anzahl der ausfallenden Unterrichtsstunden, die Möglichkeit veränderter Pausenregelungen oder zeitlicher Verschiebungen im Unterrichtsablauf sowie das Angebot der Schule, an schulinternen Alternativveranstaltungen teilzunehmen, berücksichtigt werden. Auf die Frage, welches Rechtsgut im konkreten Einzelfall die Oberhand gewinnt, gibt es daher von mir die typische Antwort des Juristen: Es kommt ganz darauf an.

Welche rechtliche Handhabe gibt es?

Wird eine Befreiung nicht erteilt und bleiben Schüler dem Unterricht dennoch fern, kommen in erster Linie erzieherische Gespräche und Ermahnungen sowie Ordnungsmaßnahmen wie der schriftliche Verweis oder ein vorübergehender Ausschluss vom Unterricht in Betracht. Allerdings ist hier jeweils auf die pädagogische Zweckmäßigkeit zu achten: Während der Unterrichtsausschluss im vorliegenden Zusammenhang sinnwidrig erscheint, weil die Schüler ja gerade zum Unterrichtsbesuch angehalten werden sollen, wird ein Verweis gegenüber der gesamten Klasse oder einer bestimmten Gruppe entweder kaum ernst genommen werden oder zu Solidarisierungseffekten innerhalb der Schülerschaft führen. Lehrkräfte und Schulverwaltung sind insofern gut beraten, demonstrationsfreudige Schüler ernst zu nehmen. Sie sollten insbesondere nicht versuchen, die Teilnahme am Unterricht anderweitig durchzusetzen, zum Beispiel durch das gezielte Ansetzen von Klausuren oder wie das nordrhein-westfälische Schulministerium auf die Möglichkeit einer "zwangsweisen Zuführung" und "Ordnungswidrigkeitsverfahren" verweisen. Andernfalls droht aus dem Klimawandel ein Generationenkonflikt zu werden, der geeignet ist, den Schulfrieden längerfristig zu stören.

Links zu dieser Meldung