Politisches Entscheiden im Kalten Krieg: Narrative, Orte und Ressourcen des Entscheidens

Tagung am SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“

Plakat der Tagung "Politisches Entscheiden im Kalten Krieg"
Plakat
© Barbara Klemm

Politisches Entscheiden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war voraussetzungsvoll und weitreichend in seinen Folgen. Mit dieser Prämisse schließen wir in unserer Tagung an die von Uwe Schimank entwickelte Charakterisierung der Moderne als einer Entscheidungsgesellschaft an. Sowohl die Zahl der zu treffenden Entscheidungen wie auch die Geschwindigkeit des Entscheidens stiegen enorm. Jeder Akteur, gleich ob individuell oder kollektiv, hat immer mehr Handlungen in Form von Entscheidungen zu konzipieren und auszuführen. Und trotz einer stetigen Komplexitätszunahme sollen die Handelnden immer schneller und rationaler entscheiden.

Dieser Skizze unterliegt ein spezifisches Bild vom Akt des Entscheidens, welches sich auf den verschiedensten Ebenen – von der Wissenschaft bis hin zum gesellschaftlichen Alltag – stark verfestigt hat. Unsere meist unreflektierte Idealvorstellung vom Entscheiden ist folgende: In einer prinzipiell offenen Situation holen die Akteure allseitig und voraussetzungslos Informationen ein und können so nach einer umfassenden Abwägung die beste, sprich die rationalste Entscheidung treffen. Nicht nur beim Selbstanspruch, sondern auch in den Verfahren und in der Repräsentation des Entscheidens war und ist dabei Rationalität der wichtigste Orientierungs- und Zielpunkt der politischen Entscheider.

Die Tagung beabsichtigt, die von Schimank eher postulierte als empirisch entwickelte Position am Segment des politischen Entscheidens zu historisieren und präziser, gegebenenfalls auch modifiziert zu formulieren. Hierzu betrachten wir in drei Sektionen verschiedene Narrative, Orte und Ressourcen des politischen Entscheidens jeweils vergleichend in Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges. Den zeitlichen Schwerpunkt legen wir in die Ära der Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre.

I. Narrative des Entscheidens in Ost und West – Parallelen und Divergenzen, Transfers und Verflechtungen

Wie wirkten sich die unterschiedlichen politischen Systeme wie auch die Vorstellungen vom idealen Entscheiden auf die historische Praxis des politischen Entscheidens aus? Dass es sich bei den staatssozialistischen Diktaturen und den demokratisch-marktwirtschaftlichen Staaten zunächst einmal um zwei unterschiedliche Politiksysteme handelte, ist eine Binsenweisheit und bedarf der weiteren Konkretisierung. Uns gilt der Unterschied zwischen den beiden Machtblöcken nach 1945 nicht als statistische Verhältnisbeschreibung, sondern als ein dialektisches Verhältnis, in dem sich Abgrenzungen ebenso entwickeln konnten wie Parallelen.

II. Orte und Machtzentren des Entscheidens

Wie ähnlich bzw. unterschiedlich wurde in den politischen Schaltstellen in Ost und West entschieden? Um diese Frage beantworten zu können, betrachten wir beispielhaft relevante Mechanismen in ausgewählten Orten und Zentren des Entscheidens. Gefragt wird dabei nach dem Verhältnis von formalisiertem Verfahren und informellen Aushandlungspraktiken. Beruhten die Entscheidungen auf Konsens oder Autorität, und wie wurde dem Anspruch auf Rationalität entsprochen? Wie ging man mit Alternativen um, und welche Rolle spielte Kontingenz beim Entscheiden? Schließlich: Lassen sich Veränderungen in diesen Prozessen beobachten?

III. Vom Nutzen und der Nutzung der Wissenschaft in Ost und West

Was als „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ von Lutz Raphael eingeführt wurde, fand unter anderen Zusammenhängen des politischen Entscheidens seine politisch-praktische Ausformung: Neue technische Ressourcen begünstigten das Leitbild eines rationalen Entscheidens ebenso wie die sozialwissenschaftlichen Konzepte der wissenschaftlichen Beraterkreise und Fachkommissionen. IT-Experten einerseits, die EDV andererseits – wie keine andere Gruppe, wie kein anderes Objekt standen diese für die Simulation und Suggestion einer umfassenden und rationalen Abwägung. Und das galt für das Private ebenso wie für das Politische, für die Infrastruktur wie für die Bildungspolitik, für den Westen ebenso wie für den Osten.

Donnerstag, 28. September 2017

13.00 Begrüßung und Vorstellung des Tagungsprogramms sowie der übergeordneten Fragestellungen Thomas Großbölting
13.15-15.30

Teil 1: Ost und West – Parallelen und Divergenzen, Transfers und Verflechtungen

Vortrag: Normalizing Rational Choice: The Case of Worst-Case
Planning
Sonja Amadae
Vortrag: Kulturen des Entscheidens in der Sowjetunion, 1917 bis
Mitte der 1960er Jahre
Stephan Merl
Pause
Kommentar Uwe Schimank
Diskussion Moderation: Christoph Lorke
Pause
16.00-19.15

Teil 2: Orte und Machtzentren des Entscheidens

Vortrag: Hausmitteilungen und Telefonpolitik. Die Informalität des
Entscheidens in der Machtzentrale der SED (1971-1989)
Rüdiger Bergien
Vortrag: Orte und Mechanismen des politischen Entscheidens in
der sozialistischen Tschechoslowakei (1969-1989)
Stefan Lehr
Vortrag: Ping-Pong Relations and Other Real Mechanics of Administrative
Management in the Central Apparat of CPSU in 1960s-
1980s
Nikolay Mitrokhin
Vortrag: Das Bundeskanzleramt – (in)formale Zentrale des
politischen Entscheidens der Bundesrepublik Deutschland in den
1950er und 1960er Jahren
Svenja Schnepel
Pause
Kommentar Stephan Merl
Diskussion Moderation: Rüdiger Schmidt
Abendessen

Freitag, 29. September 2017

09.30-12.15

Teil 3: Vom Nutzen und der Nutzung der Wissenschaft in Ost und West

Vortrag: Politische Entscheidungen als kybernetische Prozesse in
der sowjetischen Wissenschaft
Matthias Völkel
Vortrag: Decision-Making, Social Scientific Expertise and Rationality
of Governance in State Socialism, Czechoslovakia (1956-
1970)
Vítězslav Sommer
Vortrag: Politics meets Experts: Bildungspolitisches Planen und Entscheiden im bundesrepublikanischen Mehrebenensystem der 1960er Jahre Matthias Glomb
Pause
Kommentar Wilfried Rudloff
Diskussion Moderation: Isabell Heinemann
Mittagessen
14.00-15.30

Teil 4: Abschlussdiskussion

Kommentare Uwe Schimank (Soziologische Perspektive), Michael Ruck (Historische Perspektive)
Pause
Abschlussdiskussion Moderation: Thomas Großbölting