Politisches Entscheiden im Kalten Krieg: Narrative, Orte und Ressourcen des Entscheidens
Tagung am SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“
Politisches Entscheiden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war voraussetzungsvoll und weitreichend in seinen Folgen. Mit dieser Prämisse schließen wir in unserer Tagung an die von Uwe Schimank entwickelte Charakterisierung der Moderne als einer Entscheidungsgesellschaft an. Sowohl die Zahl der zu treffenden Entscheidungen wie auch die Geschwindigkeit des Entscheidens stiegen enorm. Jeder Akteur, gleich ob individuell oder kollektiv, hat immer mehr Handlungen in Form von Entscheidungen zu konzipieren und auszuführen. Und trotz einer stetigen Komplexitätszunahme sollen die Handelnden immer schneller und rationaler entscheiden.
Dieser Skizze unterliegt ein spezifisches Bild vom Akt des Entscheidens, welches sich auf den verschiedensten Ebenen – von der Wissenschaft bis hin zum gesellschaftlichen Alltag – stark verfestigt hat. Unsere meist unreflektierte Idealvorstellung vom Entscheiden ist folgende: In einer prinzipiell offenen Situation holen die Akteure allseitig und voraussetzungslos Informationen ein und können so nach einer umfassenden Abwägung die beste, sprich die rationalste Entscheidung treffen. Nicht nur beim Selbstanspruch, sondern auch in den Verfahren und in der Repräsentation des Entscheidens war und ist dabei Rationalität der wichtigste Orientierungs- und Zielpunkt der politischen Entscheider.
Die Tagung beabsichtigt, die von Schimank eher postulierte als empirisch entwickelte Position am Segment des politischen Entscheidens zu historisieren und präziser, gegebenenfalls auch modifiziert zu formulieren. Hierzu betrachten wir in drei Sektionen verschiedene Narrative, Orte und Ressourcen des politischen Entscheidens jeweils vergleichend in Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges. Den zeitlichen Schwerpunkt legen wir in die Ära der Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre.
I. Narrative des Entscheidens in Ost und West – Parallelen und Divergenzen, Transfers und Verflechtungen
Wie wirkten sich die unterschiedlichen politischen Systeme wie auch die Vorstellungen vom idealen Entscheiden auf die historische Praxis des politischen Entscheidens aus? Dass es sich bei den staatssozialistischen Diktaturen und den demokratisch-marktwirtschaftlichen Staaten zunächst einmal um zwei unterschiedliche Politiksysteme handelte, ist eine Binsenweisheit und bedarf der weiteren Konkretisierung. Uns gilt der Unterschied zwischen den beiden Machtblöcken nach 1945 nicht als statistische Verhältnisbeschreibung, sondern als ein dialektisches Verhältnis, in dem sich Abgrenzungen ebenso entwickeln konnten wie Parallelen.
II. Orte und Machtzentren des Entscheidens
Wie ähnlich bzw. unterschiedlich wurde in den politischen Schaltstellen in Ost und West entschieden? Um diese Frage beantworten zu können, betrachten wir beispielhaft relevante Mechanismen in ausgewählten Orten und Zentren des Entscheidens. Gefragt wird dabei nach dem Verhältnis von formalisiertem Verfahren und informellen Aushandlungspraktiken. Beruhten die Entscheidungen auf Konsens oder Autorität, und wie wurde dem Anspruch auf Rationalität entsprochen? Wie ging man mit Alternativen um, und welche Rolle spielte Kontingenz beim Entscheiden? Schließlich: Lassen sich Veränderungen in diesen Prozessen beobachten?
III. Vom Nutzen und der Nutzung der Wissenschaft in Ost und West
Was als „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ von Lutz Raphael eingeführt wurde, fand unter anderen Zusammenhängen des politischen Entscheidens seine politisch-praktische Ausformung: Neue technische Ressourcen begünstigten das Leitbild eines rationalen Entscheidens ebenso wie die sozialwissenschaftlichen Konzepte der wissenschaftlichen Beraterkreise und Fachkommissionen. IT-Experten einerseits, die EDV andererseits – wie keine andere Gruppe, wie kein anderes Objekt standen diese für die Simulation und Suggestion einer umfassenden und rationalen Abwägung. Und das galt für das Private ebenso wie für das Politische, für die Infrastruktur wie für die Bildungspolitik, für den Westen ebenso wie für den Osten.