Research Cloud 5 Erinnern und Vergessen

Der Dynamik des religiösen Wandels liegen immer auch Prozesse des Erinnerns und Vergessens zugrunde, wobei Erinnern vorwiegend Identität und Kontinuität gewährt, Vergessen dagegen Raum für Neues schafft und Kapazitäten freisetzt.

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat den Begriff des kollektiven Gedächtnisses geprägt, an den bis heute in der kulturwissenschaftlichen Forschung angeschlossen wird. Während der Begriff als solcher umstritten ist und problematisiert wird, besteht jedoch Konsens im Hinblick auf sein Hauptargument, dass das Gedächtnis ein genuin soziales Phänomen ist. Demnach ist jede Form des Erinnerns sozial bedingt und wird als Rekonstruktion der Vergangenheit immer von sozialen Rahmenbedingungen (Wir-Gruppen wie Familien, Freunde, soziale Klassen, religiöse und politische Gemeinschaften, Regionen oder Berufsgruppen) bestimmt. Ändern sich die sozialen Rahmen bzw. Erinnerungsmilieus, verändern sich auch Erinnerungen, weil diese ein stabiles soziales Umfeld brauchen.

Im Anschluss an Maurice Halbwachs und den Kunsthistoriker Aby Warburg unterscheiden der Ägyptologe Jan Assmann und die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann systematisch zwei Modi des Erinnerns: das kommunikative und kulturelle Gedächtnis. Die Haupteigenschaft des kulturellen Gedächtnisses liege in seiner „Geformtheit“ (in Zeugnissen, Bildnissen, Riten etc.) sowie seiner „Organisiertheit“ (z.B. der Verbindlichkeit von Gedenkanlässen) und könne nur institutionell und artefiziell realisiert werden. Dagegen beruhe das kommunikative Gedächtnis auf biographischen Erfahrungen und einer informellen Form der Überlieferung (mündliche Tradierung über die Dauer von drei Generationen). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Erinnerungen auf eigenen Erlebnissen basieren und an persönliche Kommunikation gebunden seien. Entgegen dieser Annahme erinnern Individuen sich jedoch nicht nur an Ereignisse, die ihnen tatsächlich widerfahren sind, sondern auch an solche, die über Medien (wie Schriften, Romane, Filme usw.) vermittelt wurden und wie selbst erlebte Erfahrungen in das autobiographische Gedächtnis eingehen. Eine strikte Trennung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis ist demnach allenfalls analytisch sinnvoll, wie u.a. auch die Familienforschung bestätigt, die zeigt, dass beide Formen in der Realität ineinanderfließen (Harald Welzer, Gabriele Rosental). Ein vernachlässigter Aspekt in der Gedächtnisforschung ist auch das Unbewusste, das in körpergebundenen Praktiken zum Ausdruck kommt, was Bourdieu versucht mit dem Habitusbegriff zu fassen.

In der Research Cloud „Erinnern und Vergessen“ werden die beiden für das Gedächtnis konstitutiven und komplementären Unterscheidungen des Erinnerns und Vergessens (Niklas Luhmann, Elena Esposito) auf der Basis der clusterinternen Forschungsprojekte und -fragestellungen in den Blick kommen. Ziel ist es, empirisch und theoretisch zu reflektieren, wie Prozesse des Erinnerns und Vergessens zur Dynamik religiösen Wandels beitragen.

Koordination der Research Cloud 5: