
Abraham im Alltag
Koptologin Gesa Schenke im Interview zu ihren Forschungen am Exzellenzcluster „Religion und Politik“
Die Koptologin Gesa Schenke untersucht am Exzellenzcluster zwei ägyptische Handschriften aus dem 4. und 10. Jahrhundert nach Christus, die auf Koptisch, der letzten Sprachstufe des Ägyptischen, überliefert sind. Beide enthalten die bisher früheste jüdisch-christliche Überlieferung des sogenannten Testament Abrahams. In diesem Text berichtet Abraham von seiner Reise in den Himmel und gibt Einblicke in das, was die Menschen nach ihrem Tod erwartet. Im Projekt „Abraham im Alltag“ beschäftigt sich Gesa Schenke anhand der Aussagen des Abraham mit der Frage, wie sehr der Gedanke an den Tod und ein bevorstehendes Totengericht religiöses, politisches und gesellschaftliches Handeln im Alltag beeinflusst. Im Interview schildert Sie Ihre Forschung.

Der Kern Ihres Projekts am Exzellenzcluster ist die Untersuchung zweier koptischer Texte, die das sogenannte „Testament Abrahams“ enthalten. Worum geht es in dieser Erzählung?
Gesa Schenke: Die Erzählung thematisiert die Sterblichkeit des Menschen. Am Beispiel seines eigenen Todes erklärt Abraham, der im Juden- und Christentum als menschliches Idealbild schlechthin gilt, wie gutes Sterben funktioniert und was genau während und nach dem Tod passiert. Dieses einzigartige Wissen, das er mit Gottes Hilfe erlangt hat, gibt er als Testament der Nachwelt weiter. Der Text war verständlicherweise so populär, dass er nicht nur in der jüdischen Gemeinde, in der er entstanden ist, sondern bald auch in frühchristlichen Gemeinden kursierte.
In der Bibel berichtet das Buch Genesis davon, wie Abraham Fremde bei sich aufnimmt und sie bewirtet. Dafür wird er von Gott mit einem Gastgeschenk, nämlich der späten Geburt eines Sohnes Isaak mit seiner Frau Sarah, belohnt. Im Gegenzug ist Abraham Gott bedingungslos gehorsam und bereit, ihm eben diesen Sohn auch zu opfern. Diese enge Bindung zu Gott bildet den Hintergrund der Erzählung vom Tod des Abraham. Die Geschichte ist eine Erweiterung des Berichts in Genesis 25, denn dort ist Abraham einfach nur sehr, sehr alt, stirbt und wird beerdigt. In der Erzählung, die man heute als Testament des Abraham bezeichnet, geht es dagegen darum, wie dieses Sterben im Detail abläuft.
Und was berichtet Abraham über den Tod?
Gesa Schenke: Abraham berichtet in seiner Erzählung als Augenzeuge. Nachdem ihm Gott durch den Erzengel Michael andeuten ließ, dass es für ihn nun Zeit sei zu sterben, bittet er darum, vorab den Himmel besuchen zu dürfen, um zu sehen, was nach dem Tod auf ihn zukommen werde. Gott stimmt zu, dass sich sein Freund Abraham unter Leitung des Erzengels Michael im Himmel umsehen dürfe. Michael soll ihm alles erklären und all seine Fragen beantworten. Abraham bekommt auch die Möglichkeit, dem Totengericht beizuwohnen. Die Seele jedes Menschen wird dort bewertet. Der Schreiber Enoch protokolliert dazu die einzelnen Taten jeder menschlichen Existenz und legt die Akten dem Totengericht vor. Die einzelnen Sünden treten als Zeugen gegen die Seele auf. Je nach Sachlage, schreiten danach nur einige wenige Seelen durch einen schmalen Torbogen in das Reich des ewigen Lebens. Die meisten Seelen werden jedoch durch ein sehr breites Tor in das Reich des Verderbens getrieben.
Nach seiner Rückkehr aus dem Himmel, verfasst Abraham einen Bericht seiner Forschungsreise als Testament für die Nachwelt. Er legt sich anschließend zum Sterben nieder und protokolliert nun seinen eigenen Tod, der ihm in einer, für sein Empfinden, zu schönen Gestalt erscheint. Dieser Aspekt ist sehr interessant: Abraham sieht den Tod in einer schönen Gestalt, weil er ein tugendhaftes Leben führte. Gott fordert den Erzengel Michael deshalb auf, er solle den Tod hübsch kleiden und schmücken, damit er seinen Freund Abraham nicht unnötig erschrecke. Die Erzählung ist eine Anleitung, wie gutes Sterben funktioniert und wie man das als Mensch selbst beeinflussen kann. Ein rechtschaffendes Leben wie das des Abraham führt über einen milden Tod hin zur ewigen Existenz im Reich der Himmel. Die Entscheidung über das eigene Schicksal hat jeder Mensch damit selbst in der Hand.

Bei den von Ihnen untersuchten Texten handelt es sich um die frühesten Handschriften der Überlieferung des Testaments Abrahams. Zwischen den beiden Handschriften liegt jedoch fast ein halbes Jahrtausend. Wie hat sich die Überlieferung des Textes in dieser Zeit verändert?
Gesa Schenke: Die Abfassung des Originaltexts dieser Erzählung wird in der jüdischen Gemeinde Alexandrias im ausgehenden 1. Jh. v. Chr. oder frühen 1. Jh. n.Chr. verortet. Man nimmt an, dass der Originaltext in Alexandria einst auf Griechisch verfasst wurde. Der erhaltene koptische Text aus dem 4. Jh. (Papyrus Köln 3221b), der sich heute in der Kölner Papyrussammlung befindet, ist damit einigermaßen nahe an diesen Geschehnissen dran, sodass sich aus ihm ein Bild gewinnen lässt, wie der Originaltext einst ausgesehen haben mag. Wir haben mit diesem koptischen Text wahrscheinlich eine Übersetzung für den Teil der ägyptischen Lokalbevölkerung vor uns, die Griechisch weniger gut oder gar nicht beherrschte.
Inhaltlich bleibt der Text dabei vermutlich gleich. Er erscheint jetzt jedoch als Teil eines Papyruskodex mit parabiblischen Erzählungen, also Geschichten, die nicht Teil der Bibel sind, die aber biblische Figuren, wie Abraham, Hiob und Andreas betreffen. Auf das Testament des Abraham folgt im Kodex eine apokryphe Erzählung des Apostel Andreas und eines Sängerknaben Philemon, die Dank der schönen Stimme des Jungen die Stadt Lydda zum Christentum bekehren. In dem Kodex folgt also ein rein christlicher Text unmittelbar auf die jüdische Erzählung des Testament Abrahams. Das bedeutet, dass wir hier den Beginn der Formierung einer Textsammlung für das frühe ägyptische Christentum beobachten, obwohl an der Erzählung des Abraham selbst noch nichts Christliches zu erkennen ist.
Das Testament des Abraham im Pergament Kodex aus dem Jahr 962 (Pergament Biblioteca Vaticana Copto 61) gibt uns mehr Einblicke, wie das Testament Abrahams den Alltag der Menschen zu dieser Zeit beeinflusst hat. Er ist darin Teil einer Sammlung von Heiligenlegenden, die ausschließlich Heilige betreffen, deren Festtag im Sommermonat Mesore (Juli/August) gefeiert wurde. Sowohl der Patriarch Abraham als auch der Erzengel Michael, beide Hauptfiguren des Testaments des Abraham, sind inzwischen zu christlichen Heiligen geworden. Der Festtag des Abraham ist in der Handschrift mit dem 28. Mesore (21. August) angegeben. Zu diesem Zweck ist der Erzählung ein Eintrag vorgeschaltet, der erklärt, woher der Text stammt. Der Erzbischof Athanasius soll ihn unter den alten apostolischen Schriften entdeckt haben. Athanasius ist hier auch der Sprecher, der diesen Text der Gemeinde präsentiert, sie direkt anspricht und sie auffordert, dieser Geschichte aufmerksam zu folgen und zum Heil ihrer Seelen ein rechtschaffendes Leben zu führen. Am Schluss der Erzählung wird Abraham als Heiliger angerufen, der die versammelte Gemeinde dauerhaft beschützen soll. Das Testament des Abraham fungiert im 10. Jahrhundert also als Festtagspredigt im christlichen Heiligenkult und hatte den direkten Zweck, die Menschen zu einem rechtschaffenden Leben anzuhalten.
Anhand der beiden Textzeugen beschäftigen Sie sich mit der Frage, wie Vorstellungen vom Tod und einem bevorstehenden Totengericht religiöses, politisches und gesellschaftliches Handeln im Alltag beeinflussen. Welche Vorstellungen vom Tod und vom Totengericht vermittelt das Testament Abrahams?
Gesa Schenke: Der Text hat eine klare Botschaft: Ein tugendhaftes Leben, wie das des Abraham, führt zu einem angenehmen Tod, auf den das ewige Leben folgt. Andernfalls läuft man Gefahr, dem Tod in all seiner rohen Hässlichkeit zu begegnen. Während sich der Tod für Abraham nämlich schön gemacht hatte, bittet dieser ihn, einmal seine wahre Gestalt zu zeigen. Im ältesten Text aus dem 4. Jh. hat der Tod in Wahrheit 100 Köpfe, die ägyptischen Göttern gleichen. Sie sind teils katzen-, schlangen-, leoparden-, ziegen-, affen-, kuh-, ibis- und flammengesichtig. In dieser grauenvollen Gestalt tritt er denen gegenüber, die kein tugendhaftes Leben geführt haben.
Im Text des 10. Jahrhunderts ist nicht mehr von „hundert Köpfen“, sondern nur noch von „mehreren Köpfen“ die Rede, von denen einige als Schlangen, andere als Flammen erscheinen. Dieses Detail verrät uns bereits einiges über den Alltag der Menschen in dieser Zeit: Die ägyptischen Götter, die im 4. Jahrhundert sicher noch als Statuen allgegenwärtig waren, müssen im 10. Jh. längst verschwunden gewesen sein und spielten daher vermutlich auch als Erzählmittel keine Rolle mehr. Mit dieser Veränderung ging dann offenbar auch eine Veränderung der Vorstellungen vom Tod und dem Totengericht einher, die sich auch in einem überlieferten Text wie dem Testament Abrahams niederschlägt.
Kern der Erzählung des Testament Abrahams ist die enge persönliche Freundschaft zwischen Gott und Abraham. Was macht das Verhältnis Abrahams zum Göttlichen religionspolitisch so interessant?
Gesa Schenke: Gott nennt Abraham in diesem Text seinen Freund. Diese Freundschaft ist die Begründung dafür, dass der Erzengel Michael Abraham schonend beibringen soll, dass es für ihn Zeit ist, zu sterben. Auch die Erlaubnis, vorab den Himmel bereisen zu dürfen, wird mit Abrahams Freundesstatus begründet, ebenso wie die Aufforderung, Michael solle den Tod hübsch kleiden und schmücken, damit er seinen Freund Abraham nicht unnötig erschrecke. Der Text beantwortet unter anderem die Frage, ob ein Mensch mit einem Gott befreundet sein kann. Die Antwort ist eindeutig: Offenbar ja, und das zu seinem vielfachen Vorteil.
Was macht das Testament des Abraham auch heute noch so interessant?
Gesa Schenke: Abrahams Reise vor seinem Tod in den Himmel wurde noch bin ins 19. Jh. rezipiert und findet heute in der Forschungsliteratur sehr viel Aufmerksamkeit, besonders häufig in griechischen Handschriften vom 11.–18. Jahrhundert. Bislang sind 32 dieser späten griechischen Handschiften bekannt. Der Text ist aber bis ins 19. Jahrhundert auch auf Rumänisch, Kirchenslawisch, Arabisch und Äthiopisch überliefert. Er ist also sehr populär und über einen großen Zeitraum sehr weit verbreitet gewesen.
Trotz dieser weiten Verbreitung hat sich die Forschung bisher jedoch in erster Linie mit den griechischen Handschriften beschäftigt, die in einer Kurz- und einer Langrezension erhalten sind. Dabei ist die Kurzrezension einigermaßen nah mit den älteren koptischen Handschriften verwandt, die griechische Langrezension hingegen sehr weit von ihnen entfernt. Letztere ist fast doppelt so lang und ihr werden in der Forschung fast schon absurde Züge einer Farce oder Parodie zugeschrieben. Abraham ist darin 995 Jahre alt und lehnt es weiterhin ab, zu sterben und Gottes Anweisungen zu befolgen. Er ist also ausgesprochen ungehorsam und erfindet immer neue Ausreden, warum er noch nicht sterben kann. Er möchte die Welt bereisen und die Sünder, die er antrifft, bestrafen. Seine Frau Sarah ist hier, anders als in Genesis und in den koptischen Handschriften, auch immer noch am Leben und scheint ihn auch zu überleben. Hier ist mit dem Text eindeutig etwas passiert, das sich mit den frühen koptischen Handschriften, die vollkommen durchdacht und klar durchstrukturiert sind, nicht vergleichen oder erklären lässt. Dennoch wurde die griechische Langrezension lange Zeit als ursprüngliche Version des Testament Abrahams angesehen.
Die deutlich ältere koptische Überlieferung dieses Textes der Forschung zur Verfügung zu stellen ist daher das wichtigste Ziel meiner Untersuchungen, denn der älteste Text aus dem 4. Jh. ist nicht nur zeitlich vergleichsweise nah am vermuteten Original des 1. Jh., sondern auch vollkommen logisch und mit einer klaren Botschaft sinnvoll komponiert. Nur anhand dieser frühesten koptischen Texte kann eine sehr wichtige Frage gestellt werden: Wie ist aus einem ursprünglich in der jüdischen Gemeinde Alexandrias im frühen 1. Jh. entstandenen Text, der im 4. Jh. mit ähnlichen jüdischen Texten und neuen Werken des Urchristentums tradiert wurde, und im 10. Jh. dann fest im christlichen Heiligenkult verankert war, in der frühen Neuzeit eine griechisch tradierte Parodie geworden? Dieser Frage müssen sich Gräzist*innen, also Forschende, die sich mit altgriechischen Texten befassen, und Religionswissenschaftler*innen nun stellen. (fbu/pie)
