„Lehre und Lebenswirklichkeit noch weit entfernt“

Theologische Stellungnahme zur Familiensynode würdigt Gesprächskultur und kritisiert kirchliche Haltung zu Familie und Homosexualität – „Autoritätsargumente aufgeben“ – Sozialethisches Arbeitspapier analysiert Bild von Ehe, Familie und Sexualität – Studientag in Münster am 17. Juni

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 15. Juni 2015

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Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins

Vor der Familiensynode im Herbst ist die katholische Kirche nach Einschätzung der Sozialethikerin Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ weit davon entfernt, Lehre und Lebenswirklichkeit anzunähern. Mit Blick auf die Probleme von Familien würden viele Realitäten kaum oder gar nicht wahrgenommen, etwa familiäre Probleme durch Arbeit, Migration, Diskriminierungen und eine fehlende Sozialpolitik, heißt es in einer Stellungnahme des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften (ICS) der WWU Münster, das die Theologin leitet. Übersehen werde zudem die stark gestiegene Lebenserwartung, die Paaren und Familien neue Lebensrhythmen abverlange, sowie die sinkende Lebenserwartung und Bedrohung von Familien durch HIV. Auch mit Blick auf homosexuelle Menschen zeige die Kirche eine „Schieflage“: Sie wolle einerseits keinem Diskriminierungsvorwurf ausgesetzt sein und zeige erste Schritte der Anerkennung, rücke zugleich aber nicht von der Abwertung dieser sexuellen Orientierung ab.

„Die christliche Botschaft der Nächstenliebe steht dort auf dem Spiel, wo aus Angst vor einer ,Gleichwertigkeit‘ von Patchwork-, Regenbogen-, oder Alternativfamilien diesen Familienformen schlichtweg jeglicher positive Wert abgesprochen wird“, schreiben die Theologinnen Marianne Heimbach-Steins, Julia Enxing, Vanessa Görtz-Meiners und Anna Maria Riedl und der Theologe Felix Krause. Stattdessen solle der „bisher kaum gewürdigte“ Beitrag alternativer Partnerschaften für Kirche und Gesellschaft ausgelotet werden. Das Papier „Voraussetzungen, Ansätze und Schwierigkeiten der Vermittlung von kirchlicher Lehre und christlicher Praxis“ diskutiert „Erträge und Blockaden“ der außerordentlichen Bischofssynode 2014 mit Blick auf die bevorstehende ordentliche Synode im Oktober. Themen des Papiers sind die Synodenkultur der Kirche und ihre Neuakzentuierung durch Papst Franziskus sowie inhaltliche Aspekte zu Ehe und Familie, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und Gender-Fragen. Die Autorinnen betonen, die Theologie als Wissenschaft habe eine „Vermittlerinnenrolle zwischen theoretischen Glaubensinhalten und der Vielfalt christlich gelebter Beziehungswirklichkeit“.

„,Plan Gottes‘ als Autoritätsargument“

Die Kirche fürchtet nach Einschätzung der Autorinnen, dass die Unveränderlichkeit, die sie den Normen zu Ehe, Familie, Geschlechterrollen und Sexualität zuschreibe, gefährdet werde. So erkläre sich der argumentative Rückgriff der Synode auf den „Willen oder Plan Gottes“. Dieses „Autoritätsargument“ sei theologisch und ethisch anfechtbar und führe immer wieder zum Abbruch der Debatte, so die Wissenschaftlerinnen. Ebenso dürfe die zuweilen geäußerte Annahme, die Mehrheit der Katholiken erwarte keine Gleichstellung von Ehe und homosexueller Lebensgemeinschaft, nicht länger zur Beendigung der Diskussion genutzt werden. Das gelte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Entscheidung in Irland. Positiv bewerten die Sozialethikerinnen den Impuls aus dem Zwischendokument der Synode, mit Blick auf Ehe und homosexuelle Partnerschaften die „grundsätzliche Bedeutung der Sexualität im menschlichen Leben zu evaluieren“. Es gehe um „realistische Wege der emotionalen Entfaltung und der menschlichen und evangelischen Reife unter Einbeziehung der sexuellen Dimension“. Allerdings münde dieser Aufruf der Synodalen unmittelbar in der Bekräftigung, „dass homosexuelle Beziehungen nicht mit der Ehe gleichgestellt werden dürfen“.

„Die Kirche sollte verstärkt Werte statt Normen anbieten“

Dass die Synode in diesen Beziehungsfragen nicht vorrangig von „Normen“ und von „falsch“ und „richtig“ spreche, sondern vom „Wert des Ideals des Evangeliums“, heben die Theologinnen ebenfalls positiv hervor. So beginne die Kirche, die „Wachstumsstufen“ des realen Lebens einzubeziehen. Auch würden Familienformen, die nicht dem kirchlichen Ideal entsprechen, nicht mehr „irregulär“ genannt, sondern es werde von „verletzten und schwachen Familien“ gesprochen. „Die Sprache der Verkündigung soll Werte anbieten und nicht nur Normen vorschreiben.“ Die Vielfalt religiöser und kultureller Erfahrungen sei daher vor jeder Kritik positiv zu würdigen, und die christliche Ehe solle als Berufung dadurch ernst genommen werden, dass eine angemessene Vorbereitung auf eine reife Entscheidung ermöglicht werde. „Nach wie vor ungelöst ist aber der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen.“

Auch die Auseinandersetzung mit der Homosexualität sei weiter von „großen Vorbehalten und Berührungsängsten“ geprägt, heißt es in der Stellungnahme. Indem die Kirche von „Neigungen“ und „Tendenzen“ spreche, pathologisiere sie homosexuelle Menschen. Deren Perspektive komme in den Dokumenten kaum zu Wort. Vielmehr würden sie als „Objekte“ seelsorglicher Bemühungen wahrgenommen. Ein Abgleich des Zwischendokuments der Synode mit dem Abschlusspapier offenbare einen „erheblichen Rückschritt“ gegenüber der Diskussion in der Synode. „Das Schlussdokument bekräftigt vielmehr, dass es ,keinerlei Fundament dafür gibt, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen‘“. Um der Lebenswirklichkeit gleichgeschlechtlich orientierter Menschen in der Seelsorge gerecht zu werden, raten die Wissenschaftlerinnen, systematisch zwischen Aufgaben der Seelsorge, rechtlichen Regelungen, Unterstützung der gelebten Partnerschaften und einer normativen Bewertung von Homosexualität zu unterscheiden.

„Identitätsverwirrung durch ‚Gender-Ideologie‘?“

Kritik üben die Forscherinnen daran, dass die Synode wissenschaftliche Gender-Theorien pauschal als „Gender-Ideologie“ abtue und damit „katholisch-fundamentalistischen Kreisen“ folge. Von einer „Gender-Ideologie“ werde nur in jenen Kreisen gesprochen, die sich gerade nicht für die Akzeptanz alternativer Lebensformen einsetzten und diese als „objektive Unordnung im menschlichen Leben“ sähen. Wer dieser Auffassung folge, sehe die Gender-Forschung als Weg in eine „Identitätsverwirrung“. Wer hingegen wissenschaftliche Ergebnisse der Gender-Forschung ernst nehme, komme um Änderungen sowohl im Familienbild als auch bei der kirchlichen Ämtervergabe nicht herum.

„Erwartungen der Christen nicht enttäuschen“

Die Weltbischofssynode kommt vom 4. bis 25. Oktober in Rom zusammen, um Leitlinien für die Familienseelsorge zu erarbeiten. Zur Vorbereitung hatte Papst Franziskus Umfragen an der Kirchenbasis angestoßen, die eine Kluft zwischen kirchlicher Lehre und der Lebenspraxis von Katholiken erkennen ließen. In dem Papier mahnen die Theologinnen an, der durch die Synode angestoßene Prozess habe bei vielen Christen hohe Erwartungen geweckt. Diese solle die Kirche „nicht enttäuschen oder ins Leere laufen lassen.“ Es gehe um eine „Neujustierung des Verhältnisses zwischen der kirchlichen Lehre über Ehe und Familie einerseits und der Vielfalt Lebenswirklichkeit andererseits“.

Die Haltung der katholischen Kirche zu Ehe und Familie steht auch im Zentrum eines Studientags zur Bischofssynode 2015 der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU am 17. Juni in Münster. Unter dem Titel „Pastorale Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung“ setzen sich die Teilnehmer aus verschiedenen theologischen Disziplinen mit den Themen der Synode in Vorträgen, Diskussionen und Arbeitsgruppen auseinander. Unter den Referenten sind die Theologen Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins, Prof. Dr. Judith Könemann und Prof. Dr. Klaus Müller vom Exzellenzcluster sowie Prof. Dr. Thomas Schüller, Prof. Dr. Dorothea Sattler und Prof. (apl.) Dr. Julia Knop, die den Studientag federführend organisiert hat. Die Veranstaltung findet von 9:00-18:30 Uhr im KTh 1 in der Johannisstr. 8-10 in Münster statt. (vvm/ska)