Montaignes „Essais“ – eine Antwort auf die Religionskriege

Romanistin Prof. Westerwelle über Montaignes Essays im Konfessionellen Zeitalter

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Prof. Dr. Karin Westerwelle

Über die religionspolitische Bedeutung der „Essais“ des französischen Schriftstellers Michel de Montaigne (1533-1592) hat Romanistin Prof. Dr. Karin Westerwelle in der Ringvorlesung „Verfolgung um Gottes willen“ gesprochen. Die von Montaigne begründete Gattung des Essays sei eine Antwort auf die Konfessionskonflikte seiner Zeit, erläuterte die Literaturwissenschaftlerin. Im Entscheidungskampf der Konfessionen hätten Menschen sich „im Namen der Wahrheit die Köpfe eingeschlagen“. Demgegenüber habe Montaigne in seinen „Essais“ „die Wahrheit in einem Raum des Fragens und Sprechens in der Schwebe“ gehalten. „Gegen die Begrenzung von Rede- und Gedankenfreiheit setzte er eine Methode des Zweifelns und den Widerstand seiner Rede.“

Der Vortrag „Zensur und freie Rede. Montaignes ‚Essais‘ im religionspolitischen Kontext“ zeichnete anhand zahlreicher Textstellen nach, wie Montaigne über religiös motivierte Gewalt und deren Rechtfertigung dachte und schrieb. „Feinsinnig und gedankenscharf setzt sich Montaigne mit den sprachlichen und kulturellen Formen auseinander, die Gewalt im Namen Gottes legitimieren. Er untersucht und beleuchtet die sprachlichen, juristischen, theologischen Argumente und Gebote, die es gestatten, im Namen Gottes andere Menschen – auch die Völker in der Neuen Welt – zu verfolgen“, sagte die Literaturwissenschaftlerin.

An den Grenzen des Sagbaren

Mit seinen „Essais“ sei der Schriftsteller an die Grenzen des Sagbaren gegangen, so Prof. Westerwelle, etwa indem er die Legitimation der Hexenverfolgung anzweifelte. „Der umfangreichste Essay Montaignes überhaupt setzt sich mit dem komplexen Verhältnis von Rationalismus und Glauben auseinander“, sagte die Wissenschaftlerin. Als Katholik habe er immer wieder die theologische Auseinandersetzung mit Protestanten gesucht, um sich ein eigenes Bild von den unterschiedlichen Glaubensvorstellungen zu machen. „Neugierde und der Wille zu beobachten und zu erkennen haben bei Montaigne die Oberhand gegenüber der Zurückweisung oder Ausblendung von Gedanken aus Glaubensgründen.“

Der Zensur theologischer und im 16. Jahrhundert zunehmend auch literarischer Schriften habe Montaigne mit Formulierungen zu entgehen versucht, die das Behauptete abschwächten. „Um seine individuellen, vorläufigen Ansichten in ihrer Relevanz abzuschwächen oder in einer gewissen Ambivalenz zu halten, spricht er von seinen eigenen Ansichten als Phantasien und Imaginationen.“ Montaigne habe eine Redeweise entwickelt, „die jenseits von Gewalt und autoritativer Macht liegt. Die ‚Essais‘ decken die unterschiedlichen Mechanismen auf, mittels derer Sprache Gewalt und Macht in sich einlagert und ausübt“, sagte Prof. Westerwelle. „Liest man Montaigne vor dem Hintergrund der Zeit, dann ist die Erfindung der neuen Gattung des Essays eine Antwort auf den Bürgerkrieg. Die sprachliche Souveränität besteht darin, keine Machtnahme über den anderen auszuüben.“

Prof. Westerwelle leitet am Exzellenzcluster das Forschungsprojekt B2-19 Zwischen religiöser Frömmigkeit und politischer Reflexion: Die Erkenntnisfunktion narrativer und allegorischer Repräsentation in Texten des Trecento (Dante, Petrarca, Boccaccio).

Plakat der Ringvorlesung

Plakat

Die Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Centrums für Mittelalter und Frühneuzeitforschung (CMF) geht der Diskriminierung und Verfolgung Andersgläubiger anhand zahlreicher Beispiele quer durch die mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte nach. Die Themen reichen von der christlichen Häresiebekämpfung im Frühmittelalter und den Konfessionskonflikten der Frühneuzeit über den Kirchenkampf in der DDR bis zur Buddhistenverfolgung im kommunistischen Kambodscha und zur Christenverfolgung im Nahen Osten. Nächsten Dienstag, am 25. Juni, spricht Historiker Prof. Dr. Scott Hendrix aus Princeton über „Luthers Bauernkrieg. Realpolitik oder Politik ohne Barmherzigkeit?“. Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 zu hören. (bhe/vvm)