Japaner „entdeckten“ Säkularisierung vor dem Eintreffen des Westens

Gastvortrag von Dr. Hans Martin Krämer belegt eine Tendenz über Jahrhunderte hinweg

News Vortrag Kraemer

Juniorprofessor Dr. Hans Martin Krämer sprach am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ über Säkularisierung in Japan.

In Japan gab es laut Dr. Hans Martin Krämer schon früh „nicht-europäische Artikulationen“ der Säkularisierungsthese. Der Juniorprofessor vom Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) „Dynamiken der Religionsgeschichte“ der Ruhr-Universität Bochum war auf Einladung der Arbeitsgruppe Religionssoziologie in Münster. Am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ hielt er einen Vortrag mit dem Titel „Wie die Japaner die Säkularisierung entdeckten. Konstruktionen der westlichen und eigenen Geschichte, 1870–1950“.

Anhänger der Modernisierungstheorie sähen in Japan seit den späten 1950er Jahren regelmäßig einen Paradebeweis für deren Universalität, sagte Krämer. Schließlich hätte sich hier eine außereuropäische und nicht vom asketischen Protestantismus beeinflusste Gesellschaft seit ihrer Öffnung zum Westen in der Mitte des 19. Jahrhunderts rasend schnell modernisiert. Wie in den anderen ost- und südostasiatischen Ländern China, Taiwan, Südkorea und Singapur macht die Forschungsliteratur dafür oft den Konfuzianismus verantwortlich. Viele Wissenschaftler zögern deshalb, „Säkularisierung“ und „Modernisierung“ in einem Atemzug zu nennen, wenn es um diese Länder geht.

Kein „euro-amerikanisches Projekt“

Die postkoloniale Theorie, insbesondere der von Talal Asad ausgehende postsäkulare Ansatz, verwirft laut Krämer den „Säkularismus“ als Ideologie Euro-Amerikas. Japanische Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hätten das Phänomen Säkularisierung unabhängig von und bereits vor der erzwungenen Öffnung zum Westen in der japanischen Geschichte entdeckt. Bei diesen Denkern der sogenannten Meiji-Zeit (1868-1912), des imperialistischen Japans und der Nachkriegszeit handele es sich beispielsweise um Fukuzawa Yukichi (1835-1901), Inoue Tetsujirō (1856-1944) und Maruyama Masao (1914-1996). Sie hielten den angeblichen Niedergang des Buddhismus und den Aufschwung des Neo-Konfuzianismus, der im 12. Jahrhundert in China entstand, während der Edo-Zeit des Tokugawa-Shōgunats (1603-1868) für den Beweis einer sezokuka 世俗化 – wie sie das englische Wort secularization übersetzten.

Dass Maruyama und andere dabei nicht einfach einem „euro-amerikanischen Projekt“ folgen, könne man, so Krämer, zum einen an den eigenständigen Motiven dieser Autoren erkennen. Zum anderen gebe die Begriffsgeschichte Hinweise: Funktionale Äquivalente zu unserem modernen gegensätzlichen Begriffspaar Religion und Säkularisierung ließen sich im Japanischen schon in der Vormoderne nachzeichnen. (Michael Höckelmann)