Forschung

© Christine Fertig

Unsere Forschungsinteressen reichen von den Folgen von europäischer Expansion und früher Globalisierung für Wissensproduktion und die materielle Kultur der Europäer, der Geschichte der Konsumgesellschaft, der Analyse historischer sozialer Netzwerke, der Geschichte von Familie, Verwandtschaft und Patenschaft, der ländichen Gesellschaft, der sozialen Ungleichheit bis hin zur Digitalen Geschichtswissenschaft. Auf dieser Seite stellen wir laufende und abgeschlossene Projekte näher vor.

 

  • © Christine Fertig

    Exotische Substanzen in der Alten Welt. Globaler Handel, europäische Konsumkultur und heilkundliches Wissen im deutschsprachigen Raum - ein Digital History Projekt

    In einem Buchprojekt werden die Auswirkungen von Wissensproduktion und Auseinandersetzung über exotische Substanzen für die Wandel von Konsumverhalten, medikaler Kultur und medizinisch-pharmazeutischen Innovationen untersucht. Entscheidende Impulse gingen von der zunehmenden Verflechtung und Interaktion mit der außereuropäischen Welt aus, von Begegnungen mit fremden Kulturen, aber auch den Dingen und Materialien, die ihren Weg auf den europäischen Kontinent fanden. Die Entdeckung exotischer Pflanzen und Tiere, die Begegnung mit indigenen Wissensbeständen und das Kosten fremder kulinarischer Diät waren Erfahrungen, die die europäischen Sphären des Wissens und der Wissensproduktion nachhaltig erschütterten. Kontakte zu indigenen Wissensträgern kamen in einem Kontext zustande, der nur selten frei von institutionellem Zwang, wirtschaftlicher Ausbeutung oder schlicht Sklaverei war. Allerdings stellte die Integration indigenen Wissens in traditionelle Wissensbestände auch die europäische Gelehrtenwelt vor erhebliche Probleme. Auf der europäischen Seite führte die Rezeption fremden Wissens oftmals zu einer Reduzierung oder Umdeutung, die die Integration in europäische Denkhorizonte überhaupt erst erlaubte. Die fremden Substanzen fanden ebenso Eingang in die ärztliche Praxis wie in die Laien- und Volksmedizin, bis sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Rohstoffen der entstehenden pharmazeutischen Industrie wurden. Das Projekt verfolgt diese Themen exemplarisch für mehrere exotische Substanzen, um den Prozess des Wissensaufbaus und der Systematisierung von Wissen in einem europäischen, globalen wie auch kolonialen Rahmen für den deutschsprachigen Raum zu erforschen. Es trägt auch zum Etablierung von Methoden und Verfahren der Digital History bei, indem Quellenbestände mittels OCR (optical character recognition) transkribiert und in MAXQDA quantitativen und qualitativen Analysestrategien zugänglich gemacht werden.

    Aktuelle Publikationen und Vorträge:

    Christine Fertig: Exotische Substanzen in der Alten Welt. Globaler Handel, europäische Konsumkultur und Wissensproduktion im deutschsprachigen Raum (1670-1850), Vortrag auf dem V. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 'Verteilung und Teilhabe: Konflikte in polarisierten Gesellschaften seit dem Mittelalter', 29.-31. März 2023, Leipzig.

    Christine Fertig: Exotic Substances in Northwest Germany. Trade and Knowledge Production in the 18th Century, Vortrag auf der 14. European Social Science History Conference, 12.-15. April 2023, Göteburg, Schweden.

    gemeinsam mit Ulrich Pfister: Coffee, Mind and Body. Global material culture and the eighteenth-century Hamburg import trade, in: Anne Gerritsen und Giorgio Riello (Hg.), The Global Lives of Things. The material culture of connections in the early modern world (London: Routledge, 2016), S. 221-240.

  • Agrargeschichte und ländliche Arbeitsmärkte - Gesinde, Tagelöhner, Heuerlinge

    Die soziale Lage ländlicher Unterschichten ist bisher v.a. im Rahmen der Erforschung der vormodernen Protoindustrialisierung und der Armenfürsorge thematisiert worden. Die Lebensverhältnisse landloser und landarmer Haushalte, und die Rolle dieses seit dem 18. Jahrhundert deutlich wachsenden Teils der ländlichen Bevölkerung für die wirtschaftliche Entwicklung ist bisher jedoch wenig untersucht. Die Relevanz dieser Frage ergibt sich u.a. daraus, dass die durch Arbeitsintensivierung getragenen landwirtschaftlichen Entwicklung längst vor den Agrarreformen eine wichtige Basis für die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums und die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts darstellte. Meine Forschungen fokussieren auf drei Themenfelder: Erstens die sozialen Orte, in denen landlose Familien sich ansiedeln konnten. Damit sind sowohl geographische Räume gemeint – etwa landwirtschaftlich wenig attraktive Randlagen – als auch Nähe und Distanz der Wohnorte zu den bäuerlichen Arbeitgebern, die in manchen Settings auch als Vermieter von Wohnraum auftraten. Zweitens werden die Arbeitsbeziehungen zwischen Landlosen und den Bauern als wichtigsten Arbeitgebern in den Blick genommen. Diese waren entlang einer Linie angesiedelt, an deren Endpunkten zum einen relativ enge, teilweise durch Reziprozität geprägte Patron-Klient-Beziehungen standen, zum anderen eine weitgehende Trennung persönlicher von marktförmigen Arbeitsbeziehungen. Beides hatte Implikationen für das lokale Machtgefüge, aber auch für die Fähigkeit, mit Krisen umzugehen. Drittens werden Entwicklungen von sozioökonomischen Strukturen untersucht, die Prozesse von Proletarisierung, aber auch Reagrarisierung umfassen können. Institutioneller und politischer Wandel wir auch Veränderungen von Märkten konnten Chancen öffnen und verschließen, etwa indem der Zugang zu Land andere Formen des Wirtschaftens erlaubten als die reine Abhängigkeit von bäuerlichen Arbeitgebern. Meine Arbeiten in diesem Forschungsfeld basieren auf der digitalen Erfassung und Auswertung von Bevölkerungslisten (u.a. des Status animarum 1749/1750 des Fürstbistums Münster) und weiteren Quellen, die mittelfristig durch die Aufbereitung in einer größeren Datenbank der Forschung zugänglich gemacht werden. Inhaltlich verfolge ich die Frage nach den Ursachen unterschiedlicher Entwicklungspfade, wie erste Untersuchungen sie für verschiedene Regionen nachweisen konnten.

    Aktuelle Publikationen und Vorträge:

    [upcoming] Social class, rural economy and living standards in North-western Germany. The material culture of probate inventories in proto-industrial and agricultural communities, Vortrag auf der Rural History 2023, 11.-14. September 2023, Cluj-Napoca, Rumänien.

    Cottages, Barns and Bake Houses: Landless Rural Households in North-Western Germany in the Eighteenth Century, in: Christine, Fertig, Henry French und Richard Paping (Hg.), Landless Households in Rural Europe 1600-1900 (Woodbridge: Boydell & Brewer, 2022), S. 270-291.

    Rural Servants in Eighteenth-Century Münsterland, Northwestern Germany: Households, Families and Servants in the Countryside, in: Jane  Whittle (Hg.), Servants in Rural Europe 1400-1900 (Woodbridge: The Boydell Press, 2017), S. 131-148.

     

  • Familie, Verwandtschaft und soziale Netzwerke

    Der Forschungsschwerpunkt untersucht familiäre Strategien und die Konstruktion sozialer Netzwerke in westfälischen Gemeinden. Die vergleichend angelegte Mikrostudie hat intergenerationelle Ressourcentransfers, bäuerliches Heiratsverhalten und die Netzwerkstrukturen lokaler Ge-sellschaften in zwei ländlichen Kirchspielen in den Blick genommen. Wichtige Ergebnisse waren erstens die Relativierung der These einer ‚ländlichen Klassengesellschaft‘ durch den Nachweis einer zumindest in einem der untersuchten Kirchspiele ausgeprägten sozialen Vernetzung über Schichtengrenzen hinweg. Ein zweites zentrales Ergebnis betrifft die Identifizierung bäuerlicher und unterbäuerlicher Familienstrategien, die jenseits empirisch kaum nachgewiesener Konzepte wie der ‚patriarchalen Stammfamilie‘ ausgeprägte Vorstellungen von inter- wie intragenerationeller Gerechtigkeit deutlich werden ließen. Familien entwickelten situationsangepasste Lösungen und strebten einen innerfamiliären Interessensausgleich an, orientierten sich entgegen der in der älteren Forschung etablierten Sicht jedoch nur wenig an traditionellen Verfahrensweisen. Drittens konnte gezeigt werden, dass die an historischem Material noch kaum erprobte formale Analyse sozialer Netzwerke sich auch für eine Untersuchung historischer Gesellschaften erfolgreich heranziehen lässt und durch die Anwendung innovativer Methoden wie der formalen Netzwerkanalysen deutlich über den bisherigen Stand der Forschung hinausgehende Ergebnisse erzielt werden können.

    Publikationen (Auswahl):

    Kinship Networks in Northwestern German Rural Society (18th/19th Centuries), in: Marten Düring, Florian Kerschbaumer, Linda von Keyserlingk, et al. (Hg.), The Power of Networks. Prospects of Historical Network Research (Turnhout: Routledge, 2020), S. 110-124.

    Stem families in Rural Northwestern Germany? Family systems, intergenerational relations and family contracts, The History of the Family 23 (2018): 196-217.

    Verwandte Paten und wohlhabende Freunde. Soziale Netzwerke im ländlichen Westfalen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Christine Fertig und Margareth Lanzinger (Hg.), Beziehungen, Vernetzungen, Konflikte. Perspektiven Historischer Verwandtschaftsforschung (Wien: Böhlau, 2016), S. 185-208.

    Hof, Haus und Kammer. Soziale Beziehungen und familiäre Strategien im ländlichen Westfalen, in: Thomas Brakmann und Bettina Joergens (Hg.), Familie? Blutsverwandtschaft, Hausgemeinschaft und Genealogie. Beiträge zum 8. Detmolder Sommergespräch (Essen: Klartext Verlag, 2014), S. 105-130.

    Soziale Netzwerke und Klassenbildung in der ländlichen Gesellschaft. Eine vergleichende Mikroanalyse (Westfalen, 1750–1874), Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014): 25-53.

    Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen 1750-1874 (Stuttgart: Lucius&Lucius, 2012).

    Rural Society and Social Networks in Nineteenth-Century Westphalia: The Role of Godparenting in Social Mobility, Journal of Interdisciplinary History 39 (2009): 497-522.

    Hofübergabe im Westfalen des 19. Jahrhunderts: Wendepunkt des bäuerlichen Familienzyklus?, in: Christophe Duhamelle und Jürgen Schlumbohm (Hg.), Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts: Muster und Strategien (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003), S. 65-92.

  • Digital History – Historische Netzwerkanalyse, Text Mining und KI-gestützte Transkription historischer Quellen

    Bereits in der Dissertation bildete die Anwendung geeigneter Wege der Datenaufnahme, Datenerfassung und der Verknüpfung von Informationen aus disparaten Quellenbeständen die Grundlage für detaillierte und methodisch anspruchsvolle Analysen. Neben der Anwendung gängiger statistischer Methoden habe ich formelle Netzwerkanalysen durchgeführt, und mich dabei auf verschiedene Ansätze innerhalb der sozialen Netzwerkforschung gestützt. Dabei sind sowohl gut eingeführte Verfahren der Netzwerkanalyse zum Einsatz gekommen, als auch stark spezialisierte Verfahren, die etwa eine Untersuchung genealogischer Daten erlauben. Die Visualisierung erzielter Resultate gehört ebenfalls zu den angewandten Methoden, die sich besonders für die Darstellung von Netzwerkanalysen eignen. Auf diesem Weg konnte ich aufzeigen, dass die an historischem Material noch kaum erprobte formale Analyse sozialer Netzwerke sich auch für eine Untersuchung historischer Gesellschaften erfolgreich heranziehen lässt. Im Umfeld des Forschungsfeldes zur materiellen Kultur werden neben den in der Dissertation entwickelten Verfahren der Datenerhebung, der Erfassung und Verknüpfung von Quellen in relationalen Datenbanken auch innovative Methoden der digitalen Texterfassung und –analyse erprobt. Die im Rahmen des DFG-Projekts „Konsumrevolution und Wandel des Konsums von Haushalten in Nordwestdeutschland, 16.-19. Jh“ erhobenen handschriftlichen Nachlassinventare eignen sich gut, um die Leistungsfähigkeit von HRT-Systemen (Handwritten Text Recognition) zu testen und die Erfassung von handschriftlichen Massenquellen einer digitalen Aufbereitung zugänglich zu machen. Die Entwicklung entsprechender Systeme erfordert Erprobungen und qualifizierte Rückmeldungen durch die Anwender, um die Zuverlässigkeit der Texterkennung zu verbessern.

    Publikationen und aktuelle Vorträge:

    Christine Fertig: Exotische Substanzen in der Alten Welt. Globaler Handel, europäische Konsumkultur und Wissensproduktion im deutschsprachigen Raum (1670-1850), Vortrag auf dem V. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 'Verteilung und Teilhabe: Konflikte in polarisierten Gesellschaften seit dem Mittelalter', 29.-31. März 2023, Leipzig.

    Henning Bovenkerk / Christine Fertig: Consumer revolution in north-western Germany: Material culture, global goods, and proto-industry in rural households in the seventeenth to nineteenth centuries', The Economic History Review 76,2 (2023), 551-574.
    [DOI: https://doi.org/10.1111/ehr.13192]

    Kinship Networks in Northwestern German Rural Society (18th/19th Centuries), in: Marten Düring, Florian Kerschbaumer, Linda von Keyserlingk, et al. (Hg.), The Power of Networks. Prospects of Historical Network Research (Turnhout: Routledge, 2020), S. 110-124.

    Soziale Netzwerke und Klassenbildung in der ländlichen Gesellschaft. Eine vergleichende Mikroanalyse (Westfalen, 1750–1874), Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014): 25-53.