Symbolbild: Eine Lupe zeigt auf eine von mehreren Spielfiguren
© canva.com (Generiert mit KI)

Teilprojekt: Belonging then and now

Selbstbeschreibungen und Fremdzuschreibungen jüdischer Identität(en) während der Shoah im Spiegel tausender Bittschreiben an Pius XII. und ihr Potenzial für heutige Erinnerungsarbeit

In dem Anfang Januar 2025 gestarteten Drittmittelprojekt, das von der Alfred Landecker Foundation finanziert wird, soll der Aspekt des Belonging in den Bittschreiben an Papst Pius XII. und den dazugehörigen Dokumenten genauer untersucht und für die didaktische Arbeit sowie heute virulente Fragen der Identität und Zugehörigkeit aufbereitet werden.

Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf und sein Team haben in den Vatikanischen Archiven die Archivbestände zum Pontifikat Pius’ XII. systematisch durchsucht und dabei circa 10.000 Bittschreiben jüdischer Menschen identifiziert. In diesen Schreiben drücken diese ihre tiefste Not aus, bitten um Hilfe oder formulieren Appelle an den Papst und die Römische Kurie. Diese werden im Rahmen einer Online-Edition im Projekt „Asking the Pope for Help“, gefördert von der Stiftung EVZ und dem Auswärtigen Amt, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

In den Bittschreiben erzählen die Verfolgten ihre häufig bislang weitgehend unbekannten Lebensgeschichten und thematisieren Stationen der Ausgrenzung, Verfolgung und systematischer Ausrottung. Solche Selbstbe- und Fremdzuschreibungen fallen unter das breit gefächerte Forschungsparadigma Belonging. Der primär in den Politikwissenschaften und der Soziologie verwendete Begriff Belonging beschreibt ein Gefühl oder ein System von Zugehörigkeit(en), ist aber auch mit Ausgrenzung und sogar Gewalt verbunden. Es liegt nahe, dass dieses Forschungsparadigma insbesondere für die Zeit der Shoah eine besondere Bedeutung hat. In den Bittschreiben wird die Dramatik der Frage um Zugehörigkeit(en) sehr konkret, wenn Menschen jüdischer Herkunft in größter Not persönlich an den Papst schreiben und nicht nur ihre Anliegen vortragen, sondern auch ihr oft von außen festgelegtes Belonging, das den Grund für ihre Verfolgungssituation und Notlage darstellt.

Jana Haack, Prof. Dr. Hubert Wolf und Christian Middendorf
© Uni MS - Johannes Wulf

Zentrales Anliegen des Projekts ist es, die Selbst- und Fremdzuschreibungen in den Bittschreiben und zugehörigen Dokumenten genauer zu untersuchen und dabei die Vielfalt und Komplexität jüdischer Zugehörigkeiten herauszustellen. Methodisch werden die große Zahl der Bittschreiben mithilfe eines Kategoriensystems inhaltlich ausgewertet. Ergänzt werden die Ergebnisse durch die Analyse der vatikaninternen Bearbeitung und dortigen Wahrnehmung des „Jüdisch-Seins“, die auf eine Vielzahl von Forschungsfragen zur individuellen Hilfe für Menschen jüdischer Herkunft durch den Vatikan und die jeweiligen Beweggründe eingeht.

Das Kategoriensystem wird es zudem ermöglichen, beispielhafte Schicksale zu identifizieren, die mit Quellen aus staatlichen oder ortskirchlichen Archiven vollständig rekonstruiert werden. Diesen historisch-theologischen Teil des Projekts verantwortet Christian Middendorf. In wechselseitig enger Abstimmung wird Kommunikationswissenschaftlerin Jana Haack diese Einzelschicksale für die politische Bildung didaktisch aufbereiten. Dazu wird auf digitale Formate wie Digital-Story-Telling, Graphic Novels und andere innovative Herangehensweisen zurückgegriffen. Über die finale Homepage von „Asking the Pope for Help“ finden diese Formate dann direkten Eingang in die universitäre Lehre, die Lehrkräfteausbildung und andere Einsatzbereiche.

Um die Wirksamkeit des Materials zu überprüfen, ist von Beginn an eine Evaluation der Bildungsmaterialien vor und nach ihrer Nutzung integrativer Bestandteil des Projekts. Die gemessenen Einstellungen und der Wissenszuwachs zur Shoah geben Aufschluss darüber, ob und unter welchen Umständen Bildungsmaterialien einen Einfluss auf Themenkomplexe wie Demokratieförderung, Reflexion von Selbst- und Fremdwahrnehmung oder Erinnerung an die Shoah haben. Die Erkenntnisse fließen zudem in die Weiterentwicklung des Materials und dienen dazu, übergreifende Einblicke für den Einsatz historischer Quellen in der politischen Bildung zu gewinnen.

Ein zentrales Anliegen des erarbeiteten Bildungsmaterials ist die Veranschaulichung von multiplen und fragmentieren (Teil-)Zugehörigkeiten als selbstverständliche Lebensentwürfe. Korrelierend mit dem Forschungsparadigma Belonging wird das Bedürfnis junger Menschen nach der Herausbildung ihrer eigenen Identität berücksichtigt. Das Material soll Aufmerksamkeit schaffen, präventiv gegen Ausgrenzung wirken und Vielfalt als wertzuschätzendes Gut erkennbar werden lassen. Auch diese Ziele werden evaluiert, sind aber zugleich der zentrale Zielhorizont des gesamten Teilprojekts.

Angesichts eines grassierenden Antisemitismus gerade unter jungen Menschen – jeder Dritte der 18-29-Jährigen denkt antisemitisch, wie beispielsweise eine aktuelle Umfrage des Jüdischen Weltkongresses in Deutschland gezeigt hat – ist die Arbeit mit innovativen digitalen Konzeptionen von erinnerungspolitischen Zugängen mit großen Hoffnungen verbunden.